Heilige EU-Flagge: Wenn "Unfug" bestraft werden soll
Mittels eines neuen Strafgesetzes sollen die Europäische Union und ihre Insignien vor Respektlosigkeiten geschützt werden - und zugleich soll das Versammlungsrecht eingeschränkt werden
Während die EU sich darauf einigt, Boote in Seenot zu ignorieren, rettet die Ocean Viking 274 Menschen vor dem Ertrinken.
Presseinformation von SOS Mediterranee vom 20.2.2020
Wenn in Zeiten, in denen die Europäische Union tagtäglich demokratische Werte und Menschenrechte mit Füßen tritt, weil sie sich weigert, Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer vor dem Ertrinken zu bewahren und obendrein diejenigen, die privat diese Hilfe leisten, als Kriminelle diffamiert - wenn also in diesen Zeiten in einem deutschen Gesetzentwurf zu lesen ist, dass die Werte der EU und ihre Symbole geschützt werden müssen und ihre Verunglimpfung zu bestrafen sei, dann muss etwas durcheinander geraten sein. Dann muss es ziemlich unterschiedliche Vorstellungen von Werten und Wahrheit geben.
Vielleicht ist dieser schwer erträgliche Widerspruch aber auch nur eine folgerichtige Kompensation: Wenn ein Staatenbündnis schon auf die Grundrechte pfeift, muss man zumindest so tun, als seien sie heilig. Dazu gehört, sich ein Instrument zu basteln, um jegliche Kritik verdammen zu können. Nennt sich Repressionsspirale.
Der nämliche Gesetzentwurf wird seit Wochen im parlamentarischen Raum verhandelt, ohne dass das außerhalb groß aufgefallen wäre und soll möglicherweise im März im Bundestag beschlossen werden. Konkret geht es um die Schaffung eines neuen Paragrafen im Strafgesetzbuch: "§ 90c Verunglimpfung der Europäischen Union und ihrer Symbole". Danach soll mit bis zu drei Jahren Haft oder mit Geldstrafe bestraft werden, wer "öffentlich (...) die Flagge oder Hymne der Europäischen Union verunglimpft, (...) entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt" (BT-Drucksache 19/14378).
Eine Sprache, die noch ganz den Geruch des Obrigkeitsstaates verbreitet. "Unfug" gehört in Comedysendungen und nicht ins Strafgesetzbuch einer aufgeklärten Gesellschaft.
Dieser neue § 90c soll sich nun einreihen hinter "§ 90 Verunglimpfung des Bundespräsidenten", "§ 90a Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole" und "§ 90b Verunglimpfung von Verfassungsorganen".
Die EU-Flagge, heißt es, müsse den Flaggen ausländischer Staaten gleichgestellt werden. Hier existiere eine Schutzlücke, die zu schließen sei, denn auch fremde Flaggen darf man laut Strafgesetzbuch (StGB) nicht verunglimpfen oder beschimpfen. Geregelt ist das im § 104 StGB ("Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten").
Bemerkenswert ist nun, warum die EU-Flagge nicht tatsächlich unter die anderen ausländischen Flaggen subsumiert und etwa als § 104c in den Strafkanon aufgenommen werden soll, sondern in den Paragrafen 90 strenggenommen der BRD-Fahne gleichgestellt wird. Einfache Antwort: Da die Strafverfolgung nach § 104 voraussetzt, dass Gegenseitigkeit mit dem anderen Staat sowie ein Strafverlangen der ausländischen Regierung existiert, ließe sich die angebliche Verunglimpfung der EU-Fahne nicht immer und nicht so leicht verfolgen. Das Strafrecht als innenpolitisches Instrument wäre also nicht so einfach einsetzbar, wie es beabsichtigt ist.
Dass genau das der Plan sein muss, zeigt eine weitere gewollte Neuerung. Denn jener § 104 StGB, der die ausländischen Flaggen zum Inhalt hat, soll zusätzlich verschärft werden. Bisher erfasste der Strafparagraf nur Nationalflaggen, die offiziell und öffentlich aufgehängt wurden, zum Beispiel an Botschaftsgebäuden oder im Zusammenhang mit Staatsbesuchen. Nun sollen auch nachgebildete Flaggen oder Staatsfarben, die Bürger beispielsweise zuhause selber herstellen und dann zu einer Kundgebung mitbringen, um sie demonstrativ zu verneinen oder zu vernichten, in das Delikt einbezogen werden. Um solche Aktionen in Zukunft ebenfalls zu verbieten und zu bestrafen, soll ein § 104b ins Strafgesetzbuch eingeführt werden.
Einschränkung des Versammlungsrechts und der Meinungsfreiheit
Doch damit werden das Versammlungsrecht und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Das protesthafte Zeigen, Durchstreichen oder Vernichten von ausländischen Hoheitszeichen als Ausdruck der Kritik am Handeln ausländischer Regierungen würde zum Einschreiten der Polizei führen müssen. Eine neue Reibungsfläche würde geschaffen, mit der die Demonstrationsfreiheit angegriffen würde. Und wer sich etwa neben einem Demoteilnehmer aufhält, der ein Plakat zerreißt, das fremde Nationalfarben darstellt, könnte als Mittäter ebenfalls herausgegriffen werden.
Dieser Tatbestand ist in angeblicher Konsequenz aus den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 (Übergriffe auf Frauen) ja bereits eingeführt und beispielsweise auf Teilnehmer am G20-Gipfel in Hamburg von 2017 angewandt worden.
Majestätsbeleidigung und Verunglimpfung von staatlichen Symbolen
Das Bemerkenswerte an den geplanten Verschärfungen ist: Vor zwei Jahren wurde der § 103 StGB abgeschafft, in dem festgelegt war, dass man "Organe und Vertreter ausländischer Staaten" in Deutschland nicht beleidigen darf. Ein historisches Überbleibsel, im Volksmund "Majestätsbeleidigung" genannt.
Äußerer Anlass für die Abschaffung war die Diskussion nach der gespielten Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Erdogan durch den deutschen TV-Spaßmacher Jan Böhmermann. Die politischen Eliten in Bundestag und Bundesrat kamen nun zur Überzeugung, ein Amt kann man eigentlich nicht beleidigen. Ein Amt hat keine Gefühle, keine Kinder oder Angehörigen, auf die man Rücksicht nehmen müsste, ein Amt ist kein Mensch.
Überaus aufgeklärt, eine solche Sichtweise. Allerdings eine beschränkte und inkonsequente Reform, denn die deutsche Majestät, sprich: der Bundespräsident, ist davon ausgenommen. Er bleibt sakrosankt.
Und auch bezogen auf ausländische Herrschaften blieb ein Widerspruch. Zwar wurde zum 1. Januar 2018 also der § 103 gestrichen, der § 104 aber besteht kurioserweise weiterhin. Will heißen: Man kann zwar kein Amt beleidigen, aber das Textil, in dem das Amt daher kommt, schon. Die Insignien Ihrer Majestät, Fahnen, Farben, Hymnen, bleiben tabu.
So wie es eben auch für das deutsche schwarz-rot-goldene Tuch gilt. Ein Berliner, der einmal auf der Internetplattform Facebook eine ehemalige Deutschlandflagge präsentiert hatte, von der der goldene Streifen abgeschnitten war, wurde deshalb 2018 in einem Schnellverfahren von gerade einmal 20 Minuten zu einer Geldstrafe von 2500 Euro verurteilt. Er habe die deutsche Fahne "verunglimpft", befand die Richterin und erhöhte die von der Staatsanwältin geforderte Strafe sogar noch um einen Hunderter.
Amtshandlungen wie aus der Zeit gefallen - und zwar gleich in doppelter Weise. Denn tatsächlich gibt es für den Paragrafen gar keinen echten Handlungsbedarf, wie man bei der Staatsanwaltschaft für München-Stadt festgestellt hat. Von 2016 bis 2020 wurden dort ganze 17 Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen den § 90a StGB "Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole" geführt. (O-Ton: "Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften 1. die BRD oder eines ihrer Länder oder ihre verfassungsmäßige Ordnung beschimpft oder böswillig verächtlich macht oder 2. die Farben, die Flagge, das Wappen oder die Hymne der BRD oder eines ihrer Länder verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.") Alle Verfahren wurden wieder eingestellt.
Und Verfahren wegen Verstoßes gegen § 104 StGB ("Verletzung von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten") hat die Staatsanwaltschaft München I im selben Zeitraum kein einziges angestrengt.
Mit der Streichung des Majestätsbeleidigungsparagrafen 103 hatte sich die Bundesrepublik auf den Weg einer Liberalisierung des Strafrechts gemacht. Doch mit der Einführung einen Straftatbestandes "Verächtlichmachung der EU und ihrer Symbole" würde nun wieder zu autoritärer Staats- und Strafpraxis zurückgekehrt werden.
Rückkehr zu einem anderen vergangenen deutschen Staat
In der DDR gab es selbstverständlich ein politisches Strafrecht, mit dem sich die herrschende Nomenklatur vor Kritik schützte. Die Paragraphen hörten sich überraschenderweise ähnlich an und hießen zum Beispiel "Öffentliche Herabwürdigung": § 220 DDR-Strafgesetzbuch. (O-Ton: "Wer in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.")
In Ergänzung dazu § 221 "Herabwürdigung ausländischer Persönlichkeiten". Oder § 222 "Missachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole". (O-Ton: "Wer in der Öffentlichkeit die Staatsflagge, das Staatswappen oder andere staatliche oder staatlich anerkannte Symbole der DDR, Symbole der gesellschaftlichen Organisationen oder Symbole anderer Staaten böswillig zerstört, beschädigt, wegnimmt oder in anderer Weise verächtlich macht, wird mit Freiheitsstrafe (...), Bewährung , Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.")
"Öffentlicher Tadel" - was für eine stilechte Maßregelung, die perfekt zur Straftat des "beschimpfenden Unfugs" passen würde.
In den Wendezeiten 1989/90 forderte die Opposition die Abschaffung solcher Paragrafen, zu denen sie auch den § 106 zählte: "Staatsfeindliche Hetze". Mit dem Ende der DDR kam dann auch das Ende des politischen Strafrechts. Doch im Strafrecht der BRD blieben diese "Äußerungsstraftatbestände" bestehen und kehrten aus dem Westen in den Osten zurück.
Anhörung mit Sachverständigen als Realsatire
Im September 2019 beschloss der Bundesrat den vorliegenden Gesetzentwurf zum Schutz der heiligen EU-Flagge. Im Oktober leitete ihn die Bundesregierung dem Bundestag zu. Anfang Februar 2020 kam es dort im Rechtsausschuss zu einer öffentlichen Anhörung mit Sachverständigen. Und die geriet streckenweise zu unfreiwilliger Realsatire.
Der Sachverständige Kai Lohse, Bundesanwalt aus Karlsruhe, der sich für den Schutz der EU-Flagge stark machte, meinte, ein Angriff auf die Symbole der EU richte sich gegen alle EU-Bürger, von denen es in Deutschland vier Millionen gebe. Wenn jemand auf einer EU-Flagge herum trample, trample er zugleich auf den EU-Bürgern herum.
Ein Sachverständiger sorgte sich darum, wie man strafrechtlich erfassen könne, falls eine selbstgebastelte, brennende US-Flagge einen Stern weniger habe als das Original. Handle es sich denn dann überhaupt um eine US-Flagge? Und andererseits müsse man ausschließen, dass eine kleine papierne Nationalflagge auf einem Eisbecher etwa als "Verunglimpfung" gewertet werde.
Einen Abgeordneten der CSU bewegte die Frage nach der Unterscheidung zu Flaggen subnationaler Einheiten, wie beispielsweise der Flagge von Texas. Daraufhin meinte eine Grünen-Abgeordnete aus Berlin-Kreuzberg, er sorge sich wohl um die bayrische Flagge. Ein FDP-Abgeordneter fragte, was eigentlich mit den Symbolen anderer Organisationen sei: dem Roten Kreuz, der UN, von Unicef und so weiter. Die seien ja auch nicht geschützt. Und wie ist es mit dem deutschen Nationaltrikot? Ein Linken-Abgeordneter erinnerte daran, dass sich einmal ein niederländischer Fußballspieler damit symbolisch den Hintern geputzt habe. Müsse das nun auch verfolgt werden? Daraufhin meinte ein Sachverständiger, alle Handlungen im Zusammenhang mit dem Sport sollten sowieso ausgeschlossen werden, weil es da ja um Emotionen gehe.
Ein sichtliches Problem gibt es auch mit der EU-Hymne, die in dem Gesetzentwurf ja ebenfalls explizit geschützt werden soll. Sie basiert auf einer Sinfonie Beethovens und ist eigentlich textlos. Ein CDU-Abgeordneter wollte auf keinen Fall "schlechte Musikanten" bestraft wissen. Der sachverständige Staatsanwalt aus München gab zu bedenken, ob schon ein "schiefer Ton" eine Verfolgung rechtfertige.
Ob er dabei an das Intonieren der bundesdeutschen Hymne durch Politiker wie Kohl, Brandt, Genscher vom Schöneberger Rathaus nach dem Fall Mauer dachte, oder etwa an die Interpretation der US-Hymne durch Jimi Hendrix auf dem Festival in Woodstock, wissen wir allerdings nicht. Grundsätzlich erschien es ihm als Rätsel, wie man eine Hymne ohne Text verunglimpfen könne. Etwa, in dem man einen Chor in SS-Uniform die Hymne summen lasse? - fragte er rhetorisch. Darauf entgegnete ein Abgeordneter, das Tragen der SS-Uniform sei ja schon strafbar. Und während ein Sachverständiger die "Hymne" aus dem Gesetzentwurf ganz gestrichen haben wollte, hatte ein Kollege eine Idee, wie man sie doch verunglimpfen könnte: Beispielsweise in dem man einen Text hinzufüge.
Und ernsthaft: Von den sieben Sachverständigen empfahl eine einzige, die Rechtsanwältin Nadija Samour, das Gesetz rundweg abzulehnen. Es sei schlicht unnötig. Vielmehr könne es sogar illiberalen Kräften ein Instrument an die Hand geben, um politische Gegner zu verfolgen.
Zwei sachverständige Professoren plädierten dafür, die Verunglimpfung von Flaggen als Ordnungswidrigkeit einzustufen und nicht als Straftat. Einer, der Strafrechtsprofessor Diethelm Klesczewski, meinte, ein Staat habe kein Ansehen an sich, das man verletzten könne, sondern das Ansehen eines Staates hänge von seinen Leistungen ab, die wiederum von den Bürgern erbracht würden. Das Ansehen der Bundesrepublik ergebe sich nicht mechanisch, sondern ganz wesentlich durch Kontroversen. Beispielsweise könnten Taten wie die Verunglimpfung von Flaggen ja auch öffentliche Gegenkritik erzeugen.
Es gibt einen vorgeblich ernsten Anlass für die Gesetzesinitiative: Immer wieder wird bei Demonstrationen auch die israelische Flagge verbrannt. Das sieht man in Deutschland vor dem Hintergrund des Holocaust nicht gerne, so die Argumentation. Manchmal hilft Differenzierung: Ständig und überall werden im Rahmen politischer Kundgebungen Nationalflaggen verbrannt, nicht nur die israelische. Im Regelfall hat das etwas mit dem Staats-, Regierungs- oder Militärhandeln eines Landes zu tun, und nichts mit der Ermordung von Millionen Juden. Auch Palästinenser oder Araber, die israelische Flaggen verbrennen, sind für Auschwitz, diese "deutsche" Angelegenheit, nicht verantwortlich.
In den USA beispielsweise ist das Verbrennen der eigenen Flagge nicht strafbar. Zumindest noch nicht. Wenn es nach US-Präsident Trump geht, soll das geändert werden. Unter anderem strebt ihm als Strafe vor, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. À la Trump ist nur Amerikaner, wer das Recht auf Meinungsäußerung so in Anspruch nimmt, wie ihm es passt.