"Helden der Hitze"
In Katar sind die Leichtathleten mörderischen Temperaturen ausgesetzt - und dem Zynismus des Sports als Geschäft
Bis zum kommenden Sonntag kämpfen mehr als 2000 Athleten aus über 200 Ländern in Katar um die Medaillen der Leichtathletik-WM 2019. Die ersten Tage zeigen: Bei den unerbittlichen Temperaturen im Wüstenstaat am Persischen Golf geht es für manchen von ihnen nicht um Bronze, Silber oder Gold, sondern eher um's pure Überleben. Horrornachrichten dämpfen die gute Laune - und machen dem Emirat einen Strich durch eine sorgfältig aufgestellte Rechnung.
Extremes Schwitzen, veränderter Natriumhaushalt, überlastete körperliche Regelkreise, viele der Angereisten fühlen sich maximal gestresst. Und verarscht? "Für die Zehnkämpfer und Langstreckenläufer sind Temperaturen über 40 Grad eine Katastrophe und eigentlich nicht vertretbar", unkte die deutsche Zehnkampf-Hoffnung Niklas Kaul schon im Vorfeld gegenüber SPORT1.
Zusätzlich kräftezehrend: Das Wechselbad zwischen Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit und künstlicher Kühle, wie etwa in den Hotels oder im Innern des Stadions von Doha, der Hauptstadt von Katar. Im Stadion können die Außentemperaturen mittels Maschinen auf bis zu 21 Grad Celsius heruntergefahren werden.
Im Rollstuhl vom Platz
Deutschlands Lauftalent von der Schwäbischen Alb, die 22-jährige Alina Reh, bekam die heikle Gemengelage aus Gluthitze und Stress am Samstagabend beim 10.000-Meter-Finale der Frauen als eine der ersten zu spüren. Und das, obwohl man den Wettstreit mit Bedacht auf den späten Abend gelegt hatte. Nach 13 von 25 Runden fasste sich die Athletin vom SSV Ulm 1846 plötzlich an den Bauch, bevor sie, von Krämpfen geplagt, in der Wettkampfbahn zusammenbrach. Helfer mussten die Kollabierte im Rollstuhl vom Platz fahren. Ihr Gesicht verbarg sie sichtlich geschockt mit den Händen, später sprach sie von "Panik", die sie durchlebt habe.
Die Bilder gingen um die Welt. Alina Rehs 10.000-Meter-Lauf-Desaster fand im Khalifa International Stadion statt. Die Arena ist eine von insgesamt acht Arenen, die Katar für die kommende Fußball-WM errichtet. Ein milliardenschweres Geschäftsmodell. Das Khalifa International wurde als 2017/18 nach einer Komplett-Renovierung wieder in Dienst gestellt, es fasst im Endausbau 68.000 Zuschauer.
Beim Marathon der Frauen mussten Läuferinnen gleich reihenweise aufgeben. 40 von 68 erreichten das Ziel, manche nur auf Krankentragen und mit Infusionen, andere kauerten erschöpft auf der Straße. Selbst beim Startschuss kurz vor Mitternacht stand das Thermometer immer noch bei 32,7 Grad, die Luftfeuchtigkeit betrug sagenhafte 73,3 Prozent. Manche der Athletinnen sah man auf Golfkarts sitzen, sie wurden zum Medizin-Zelt gekarrt, das völlig überlaufen war. "Es war wirklich beängstigend, einschüchternd und entmutigend", sagte die WM-Teilnehmerin Lyndsay Tessier aus Kanada: "Ich bin einfach nur dankbar, dass ich auf den Beinen ins Ziel gekommen bin."
Absurd: Hitzepille und Wüstenmütze
Betroffen sind vor allem die Athleten, die ihre Wettkämpfe außerhalb des Stadions austragen - Marathon-Läufer und Geher. Hier wird der Aberwitz der Doha-Spiele am deutlichsten: Die jeweiligen Läufe werden um 23.30 Uhr (Gehen) bzw. Mitternacht (Marathon) ausgetragen, um zumindest halbwegs erträgliche Temperaturen zu bieten.
Der Weltverband International Association of Athletics Federations (IAAF) testet in Doha derweil eine "Hitzepille". Ein Sensor wird geschluckt oder wie ein Zäpfchen eingeführt, übermittelt dann die exakte Körpertemperatur an ein Handy. So sollen die Sportler bei der Gluthitze besser kontrolliert werden. Einer der Ärzte hat eine Wüstenmütze entworfen, die oben offen und im Nacken ein Fach hat, in das man Eis füllen kann ("Wüstenmütze mit Eisfach").
Der deutsche 20-Kilometer-Geher Christopher Linke hatte im Trainingslager (in Südafrika) die Doha-Bedingungen mit Heizstrahlern und nassen Handtüchern simuliert. Den Verantwortlichen ist das alles absolut bekannt. Generaldirektor Idriss Gonschinska vom Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) sprach in Interviews ganz ungeniert über "die Gefahr, dass vor allem die Ausdauer-Athleten buchstäblich aus den Latschen kippen".
Wie recht er hatte. Beim 5000-Meter-Lauf der Männer schleppte Braima Suncar Dabo seinen Gegner Jonathan Busby die letzten 200 Meter bis zur Ziellinie.
"Helden in der Hitze"
Die Vermarktungsstrategen gönnen sich derweil den Slogan: "Helden in der Hitze". Aus Sicht des Emirats ein passender Spruch. Die Leichtathleten helfen dabei, die Augen der Welt auf 2022 zu richten. Dann nämlich, so der Deal, sorgen die Fußballnationen der Welt für das ganz große Geschäft. Die weltweite Publicity soll dem Zwergstaat aber auch schlicht das Überleben sichern. Denn es gab reichlich Stress mit den Golf-Nachbarn. Man spricht daher auch davon, die Spiele seien so etwas wie Katars Lebensversicherung.
Bereits nach der Vergabe der Fußball-WM überschlugen sich die Meldungen weltweit mit kritischen Kommentaren. Die Rede war von den Petrodollars aus Russland und Katar, von der ungezügelten Macht der Wirtschaft, man war sich weithin einig: Der Triumph des Fußballs als Geschäft war perfekt. Millionen sollen über dunkle Kanäle geflossen sein. Es geht um Werbeplätze auf Trikots, um Sport Investments, um lukrative Connections. Auch der FC Bayern München kam ins Gerede, der Club hält seit 2011 sein jährliches Winter-Trainingslager in Katar ab. Das Herrscherhaus steht im Ruf, seine Milliardengeschäfte rücksichtslos zu verfolgen und billige Arbeitskräfte gnadenlos auszubeuten. Die Arbeiter wie Sklaven gehalten, auf den Bauplätzen von Katar finden sie zu Hunderten den Tod.
Katar 2019: Die Skandal-WM
Kaum gestartet, hat sich die Leichtathletik-WM als Skandal-WM einen Namen gemacht. Auch nicht gut für die PR: Die Organisatoren sind laut dem Guardian damit beschäftigt, die obersten Sitzbereiche abzudecken - wegen leerer Ränge. Gastarbeiter und Kinder sollen mit Freikarten in Bussen zum Stadion transportiert werden, um leere Plätze zu füllen.
Im Stadion selber kühlt eine gigantische Klimaanlage die Außentemperatur runter. Das Wasser, das zur Kühlung eingesetzt wird, ist 5 Grad kalt. Die gekühlte Luft strömt durch 500 Düsen ins Stadion-Innere und bildet so eine Art Kälte-Polster. Speerwerfer Thomas Röhler hat die Vorzeigeanlage getestet - und sieht die Leichtgewichte unter den Läufern zumindest auf Bahn acht gefährdet: Sie könnten umgepustet werden.
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