Henry Kissinger: Der Metternich des 20. Jahrhunderts

Kissinger besucht den russischen Präsidenten Putin im Juni, 2017. Foto: Kremlin.ru / CC BY 4.0 Deed

... die Kassandra des 21.: Was von Henry Kissinger bleiben wird – eine Medienschau.

Was für ein Leben! Geboren in Deutschland als Franke, vertrieben als Jude, intellektuell erwachsen geworden als US-Amerikaner, verwirklichte er den amerikanischen Traum und erklomm die Karrierestufen bis zur Führungsetage der Macht. Ein politischer Philosoph auf dem republikanischen Thron.

Ein Intellektueller, der zum Politiker wurde, ohne seinen Intellekt zu verraten. So wichtig als Handelnder wie als politischer Berater und unabhängiger Kommentator verkörperte Henry Kissinger, der am vergangenen Mittwoch im Alter von 100 Jahren verstorben ist, wie kaum ein zweiter das US-amerikanische Jahrhundert, das er mitgestaltete und beobachtete.

Wo stand er politisch und weltanschaulich? "Rechts!", krakeelen die Linken, die ihm die Realpolitik mit allen ihren Folgen nicht verzeihen wollen und glauben, ihre Hände in Unschuld zu waschen; "links!", jaulen die Rechten, die ihm, dem jüdischen Politiker, so wenig verzeihen können, wie dem Entspannungspolitiker, wie dem Brückenbauer zu China.

Mit Niedertracht kommentieren die Querdenker der Jungen Welt: "Unkraut vergeht doch."

Wie man eine Welt wiederherstellt

Zur Restauration möchte keiner gehören, aber Restaurator möchte jeder sein. Das ist das Dilemma der Progressiven wie der Konservativen. Die Tugenden der Achtsamkeit und der Diversität, der Ambiguitätstoleranz und der Friedlichkeit –Tugenden, wie sie gerade unter den woken Wannabe-Linken unserer Tage schwer in Mode sind, sind eigentlich konservative Tugenden.

Kissinger nun war in diesem Sinn konservativ, aber er war auch ein Revolutionär in dem Sinn, dass er nach Wegen der Veränderung suchte, dass er an Öffnung interessiert war, dass er "wertegeleitete Außenpolitik" verachtete – unabhängig von den Werten, die da jeweils für ein paar Jahre zur Leitkultur erhoben werden.

Er hatte verstanden: "Außenpolitik hat keine Moral", beziehungsweise dass der Weg zur moralischen Perfektion aller Erfahrung nach mit vielen Toten und mit noch mehr allzu realpolitischen Kompromissen gepflastert ist.

"A World Restored" heißt sein wichtigstes Buch, seine Doktorarbeit (nach einer Master-Arbeit mit dem bezeichnenden Sujet der Geschichtsphilosophie von Kant, Toynbee und Spengler), die nicht nur Kissingers Vorbild Metternich im Untertitel trägt, sondern auch das Ziel des Friedens ("Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812–1822").

Schon in diesem Buch macht Kissinger klar, dass Diplomatie zwar auf Fakten reagieren muss, sie aber am besten selber schafft. Und dass die Voraussetzung davon sowohl persönliche Risikobereitschaft bildet, wie Willensstärke und Durchsetzungsfähigkeit, nicht zuletzt aber ein Konsens, der über gemeinsame Kultur und Bildungserfahrungen hergestellt wird – keine dauerhafte Ordnung ohne (Leistungs- und Bildungs-)Eliten.

Wie Metternich 150 Jahre zuvor versuchte Kissinger als Sicherheitsberater und Außenminister zwischen 1969 und 1977 in einer komplexen Abfolge von Gipfeltreffen an einem Sicherheitssystem zu bauen, das ein augenblickliches Mächtegleichgewicht auf Dauer stellen und langfristig erhalten würde. So entstand unter Metternich eine Friedensordnung, die im Wesentlichen hundert Jahre bis zum Ersten Weltkrieg Bestand hatte.

Darum ging es Kissinger: Um die Wiederherstellung einer Welt des Gleichgewichts und Friedens, in Freiheit, ohne Übermacht. Um eine revolutionäre Restauration. Um die unbedingte Vermeidung des Dritten Weltkriegs als elementarste Staatsraison.

Verächter der Ideologien, skeptisch gegenüber Visionen

Diese Ziele konnte Kissinger dann im Rahmen der Nixon-Ford-Administration, zunächst als Sicherheitsberater, dann ab 1973 für dreieinhalb Jahre als Außenminister, verwirklichen. Ganz treffend und um ein gerechtes Urteil bemüht, würdigt das ZDF den Verstorbenen in einem Kurzfilm als "Gnadenlosen Pragmatiker".

Kissinger, das wird hier klar, war ein Verächter der Ideologien und blieb immer skeptisch gegenüber Visionen. Das gerade befähigte ihn zum Beginn der Entspannungspolitik im Kalten Krieg, zur Überwindung der Sprachlosigkeit gegenüber den Supermächten und zur Öffnung der USA zu China wurde.

Seine Politik hat den Aufstieg Chinas beschleunigt. Kissinger wusste um den Wert öffentlicher Gesten wie auch um den geheimer Gespräche.

Kissinger hat die Interessen der Vereinigten Staaten rücksichtslos durchgesetzt, Menschenleben hatten für ihn keinen großen Wert. Sowenig wie kleine Staaten. Darum opferte er durchaus die Eigeninteressen kleinerer Länder zugunsten des großen Ganzen. Kissinger dachte groß und handelte pragmatisch.

Seine Bemühungen um die Annäherung zwischen den USA und China sowie sein Umgang mit Russland sind die besten Beispiele dafür. In Pragmatismus und Rationalität lag die Qualität des Ausnahmepolitikers Kissinger.

Darum lehnte Kissinger im Kalten Krieg eine strategische Niederlage der Sowjetunion ab. Sein Grundsatz lautete, dass man sich mit der Sowjetunion auseinandersetzen müsse.

Dass man sich Moskau nur in jenen Angelegenheiten entgegenstellen müsse, in denen es die Interessen der Vereinigten Staaten und des Westens verletzt. Aber dass man gleichzeitig dort zusammenarbeiten müsse, wo die Interessen übereinstimmen,

Interessenausgleich und Nüchternheit – auch in der Ukraine

In seinem ganzen diplomatischen Leben versuchte Kissinger einen Interessenausgleich zwischen den Supermächten zu erreichen und somit einen Weltkrieg zu vermeiden.

Bis zum letzten Tag seines Lebens war er frei von ideologischen Illusionen in der Weltpolitik und erhob auch den angeblichen Rivalen China ausdrücklich zum Partner.

Während der Westen heute die Ukraine in einem aussichtslosen, strategisch bereits verlorenen Krieg unterstützt, erklärte er: Die Ukraine solle im Interesse des Friedens mit Russland Gebiete abtreten. Es wäre nützlich, so viel wie möglich von dieser Nüchternheit Kissingers für das sich zunehmend in Ideologien selbst fesselnde 21. Jahrhundert zu retten.

In der deutschen Presse herrscht überwiegend Einigkeit darüber, dass Kissinger eine einzigartige, übergroße Gestalt war, ein Solitär, eine Ausnahme bildet die taz mit einem lesenswerten Artikel.

Auch der Guardian erkennt Kissinger als "einzigartigen Zeugen der Konflikte, Mühen und Triumphe dessen, was als das amerikanische Jahrhundert bekannt wurde".

Der Staat ist der Akteur des Politischen

Seit seinem Ende als Außenminister blieb Kissinger ein viel gefragter globaler Strippenzieher. Bis in die letzten Tage seines Lebens engagierte er sich in der Politik, nahm an Sitzungen im Weißen Haus teil und trat vor dem Senatsausschuss zu den nuklearen Bedrohungen durch Nordkorea auf.

Im Juli dieses Jahres noch stattete er China einen Überraschungsbesuch ab, wo er sich in Peking mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping traf.

Jetzt erkennt ihn die chinesische Zeitung Xinjing Bao als einen der größten Diplomaten des 20. Jahrhunderts.

In einer gefährlichen Phase des Kalten Krieges hat er eine Entspannungspolitik vorangetrieben, die zum Weltfrieden beigetragen hat. China hat einen wahren Freund in Amerika verloren. Die Welt wird einen klugen Außenpolitiker vermissen, der in der Lage war, Dinge auch aus der Perspektive des Gegenübers zu betrachten.

"Staatskunst" heißt sein letztes Buch und fasst zusammen, worauf es ankommt: Der Staat, nicht der Bürger oder diffuse Kräfte, wie "die Macht", "die Geschichte", "das Volk", "das Kapital" ist der Akteur des Politischen. Und es muss, angemessen betrieben, eine Kunst sein, kein Handwerk und kein "Dienst".

Dem 21. Jahrhundert war Kissinger eine Kassandra: Die neuen aufkommenden Moden der Weltpolitik, der alte Traum vom Abschied vom Realismus und die Relativierung des Westens angesichts der autoritären Revolten in der Dritten Welt, sowie das neue Beharren der postmodernen Linken auf nationaler Selbstbestimmung wurde von Kissinger immer wieder nüchtern analysiert und widerlegt.

Er erkannte die Gefahren durch neue, totalisierende Ideologien und die Mächte, die sich ihrer bedienen. Weniger die Supermächte Russland und China, als die neue Zauberlehrlinge in Nahost und Mittelasien, in Osteuropa und Afrika, in Nordkorea.

Vielen Jungen erschien Kissinger darum als ein Mann aus einer anderen Zeit. Er war der Beweis, dass diese Zeit aber längst nicht vorbei ist.

Kissingers Staatskunst: Geheimdiplomatie, Gespräche mit Feinden, ohne Rücksicht auf eigene Werte

Die wichtigsten grundsätzlichen Lehren Henry Kissingers lauten, dass Diplomatie nicht die Rudelbildung zwischen Freunden ist, sondern das Gespräch mit den Feinden. Und dass dieses Gespräch wichtiger ist, als das mit den Freunden.

Dass das Ziel der Frieden und die Freiheit sind, ihre Erhaltung, ihr Ausbau, ihre Wiederherstellung - in dieser Reihenfolge.

Dass eine Außenpolitik, die ohne Rücksicht auf eigene Werte betrieben wird, viel erreichen kann. Dass in der Außenpolitik die innere Struktur und Ideologie eines Staates zweitrangig ist. Denn alle Akteure können sowohl Freund als auch Feind sein.

Dass man in der Außenpolitik einen Feind niemals total besiegen sollte, denn in der Zukunft könnte er sich als Freund herausstellen.

Dass in der Außenpolitik nichts stabil bleibt, also Siege von kurzer Dauer sind, und Niederlagen viel länger nachwirken. Dass es deshalb mehr darum geht, Niederlagen zu vermeiden, als darum, Siege auszukosten.

Dass Gesten manchmal bedeutsamer sind als reale Veränderungen.

Dass Politik letztlich immer in persönlichen Beziehungen stattfindet.

Dass man am meisten erreicht mit Geheimdiplomatie unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Dass man am zweitmeisten erreicht durch eine Doppelstrategie öffentlicher und heimlicher Manöver.

Ohne handwerkliches Können gibt es keine Kunst.