Herzensbrecher Zigarette
Über die kardiovaskulären Risiken des Rauchens und des Dampfens
Sollten Sie diesen Artikel bis zu Ende lesen, wird Ihr Herz in der Zwischenzeit mehrere hundert Mal geschlagen haben. Normalerweise nehmen wir davon erst Notiz, wenn das Organ zu versagen beginnt - und dann ist es nicht selten zu spät.
Im Jahr 2015 starben laut Statistischem Bundesamt 356.616 Bundesbürger an einer akuten oder chronischen Erkrankung des Herz-Kreislauf-Systems, das ist die mit Abstand häufigste Todesursache in Deutschland. Das Risiko einer tödlichen Herzkrankheit ist für Raucher mehr als doppelt so hoch wie für Nichtraucher. Von daher leuchtet es ein, dass die WHO den Weltnichtrauchertag am 31. Mai in diesem Jahr dem Thema Herzgesundheit gewidmet hat.
Rauchen, auch Passivrauchen, schadet dem Herz-Kreislauf-System auf vielfache Weise: Es erhöht die Viskosität des Blutes, lässt die Blutplättchen verklumpen und verursacht die Bildung von Blutgerinnseln (Thrombose); es schädigt die Zellschicht, die die Innenwand der Blutgefäße auskleidet, was die Verhärtung der Arterien und die Bildung von Plaques zur Folge haben kann (endotheliale Dysfunktion); es verengt die Blutgefäße und führt so zu erhöhtem Blutdruck und Durchblutungsstörungen; es verändert die Zusammensetzung der Blutfette, die Konzentration des schädlichen LDL-Cholesterins nimmt zu; das mit dem Zigarettenrauch eingeatmete Kohlenstoffmonoxid beeinträchtigt die Funktion des Hämoglobins und verschlechtert dadurch die Versorgung der Herzmuskulatur mit Sauerstoff. Und das sind nur einige der pathophysiologischen Mechanismen, die vom Rauchen ausgelöst oder verstärkt werden.
Die Dosis macht nicht immer das Gift
Die genannten Mechanismen wirken in einer Weise, die dem Grundsatz von Paracelsus - die Dosis macht das Gift - widerspricht: Gelegenheitsraucher schädigen ihr Herz-Kreislauf-System in kaum geringerem Maße wie Kettenraucher. Epidemiologen sprechen deshalb von der Nicht-Linearität des Zusammenhangs zwischen Zigarettenkonsum und kardiovaskulären Erkrankungen.
Eine im Januar 2018 publizierte Meta-Analyse zu diesem Thema hat das noch einmal verdeutlicht: Bei einem Raucher, der 20 Zigaretten am Tag raucht, ist das Risiko einer koronaren Herzkrankheit keineswegs zwanzigmal so hoch wie bei einem Raucher, der 1 Zigarette pro Tag raucht. Denn schon 1 Zigarette pro Tag reicht aus, um das Erkrankungsrisiko im Vergleich zu einem Nichtraucher um rund 50% zu erhöhen. Daraus folgt: Wer seinen Zigarettenkonsum nur reduziert, statt ihn ganz aufzugeben, setzt seine Herzgesundheit weiter aufs Spiel.
Die britischen Epidemiologen, die in ihrer Meta-Analyse weit über 100 Kohortenstudien ausgewertet haben, empfehlen einem Raucher, der vom Nikotin nicht loskommt, deshalb den Umstieg auf die E-Zigarette. Obwohl nicht auszuschließen ist, dass auch der Konsum von E-Zigaretten negative Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System haben könnte, sind diese Effekte aller Wahrscheinlichkeit nach weitaus weniger gravierend als das hohe Risiko einer kardiovaskulären Erkrankung selbst bei geringfügigem Konsum herkömmlicher Zigaretten, so die Autoren.
Von Mäusen und Menschen
Die Empfehlung der britischen Experten erscheint gewagt, wenn man sich aktuelle Studienergebnisse vor Augen führt, die die kardiovaskuläre Toxizität des E-Zigaretten-Konsums zum Gegenstand haben. Im Februar 2018 publizierte ein Forscherteam aus New York die Ergebnisse eines Tierversuchs, wonach "E-Zigaretten-Rauch" die DNA in verschiedenen Mäuseorganen - darunter auch das Herz - schädigt und die DNA-Reparatur beeinträchtigt. Im selben Monat veröffentlichte die University of California eine Auswertung der Befragungsdaten von knapp 70.000 US-Bürgern unter der Überschrift: "Das tägliche Rauchen von E-Zigaretten verdoppelt das Risiko eines Herzinfarkts".
Ein Jahr zuvor hatte eine andere Forschergruppe derselben Universität über eine Fall-Kontroll-Studie informiert, der zufolge die Werte für kardiale sympathische Aktivität, oxidativen Stress und andere Parameter, die auf mögliche Langzeitschäden hindeuten, bei E-Zigaretten-Konsumenten deutlich über denen der abstinenten Vergleichsgruppe lagen. Jede dieser Studien löste ein weltweites Presseecho mit dem Tenor "E-Zigaretten stressen das Herz" aus.
Was in den Publikumsmedien in der Regel unbeachtet bleibt, das ist die Kritik, die in der Fachöffentlichkeit an den genannten Herz-Kreislauf-Studien geübt wird. So hatten an der Fall-Kontroll-Studie aus Kalifornien lediglich 23 Dampfer und 19 Nichtraucher teilgenommen. Weil es sich bei Dampfern oft um ehemalige Raucher handelt, ist es durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass ihre schlechteren Werte auf den früheren Zigarettenkonsum und nicht auf den aktuellen E-Zigaretten-Konsum zurückzuführen sind. Außerdem wurde nicht kontrolliert, ob die gemessenen Unterschiede zwischen den beiden Probandengruppen mit anderen relevanten Faktoren, wie z.B. ihrer körperlichen Fitness, zusammenhängen.
Bei der Auswertung der Befragungsdaten lag zwar eine hohe Fallzahl vor, dafür waren die medizinischen Angaben äußerst lückenhaft. Es fehlte zum Beispiel der Zeitpunkt des Herzinfarkts. Die Forscher aus Kalifornien wussten mit anderen Worten nicht, ob der Befragte gerade deshalb mit dem Dampfen angefangen hat, weil er vorher einen Herzinfarkt erlitten hatte. Daraus eine Verdoppelung des kardiovaskulären Risikos durch E-Zigaretten abzuleiten, ist einigermaßen absurd.
Aufschlussreich ist auch die Korrespondenz zwischen den Leitern und den Kritikern des Tierversuchs: Ersteren wurde von letzteren u.a. vorgeworfen, die Mäuse einer Aerosol-Exposition ausgesetzt zu haben, die umgerechnet über dem Dreitausendfachen dessen liegt, was ein Durchschnittsdampfer mit 75 Kilo Körpergewicht am Tag inhaliert. Gegen den Vorwurf, die Tiere schlicht vergiftet zu haben, wehrten sich die Studienleiter mit dem Hinweis, die Mäuse hätten während und nach einer 12 Wochen langen Bedampfung über 3 Stunden am Tag hinsichtlich Aktivität, Gewicht und Haarwuchs keinerlei Auffälligkeiten gezeigt. Auch im Hinblick auf die kardiovaskulären und pulmonalen Funktionen habe man an den Tieren keine Abnormitäten beobachtet.
Weil 12 Mäusewochen etwa 10 Jahren im Leben eines Menschen entsprechen, hieße das im Umkehrschluss, dass man kerngesund bleiben kann, wenn man lange Zeit E-Zigaretten konsumiert.
Expertise ohne Evidenz
Der Streit der Wissenschaftler um die Aussagekraft der Kardiologie-Projekte wirft ein Schlaglicht auf die gesamte Begleitforschung zu den Folgen des E-Zigaretten-Konsums: Es gibt zwar sehr viele Studien zu diesem Thema, aber nur sehr wenige davon sind gut gemacht. "Gut" heißt in diesem Zusammenhang: ergebnisoffen.
Die große Mehrzahl der Autoren scheint es darauf anzulegen, die Öffentlichkeit in Alarmstimmung zu versetzen. Darauf deutet schon die Verwendung toxikologisch unhaltbarer Formulierungen wie E-Zigaretten-"Rauch" hin. Rauch entsteht per definitionem bei Verbrennungsprozessen und die finden in E-Zigaretten nicht statt, weshalb für das Herz-Kreislauf-System besonders gefährliche Schadstoffe wie Kohlenmonoxid im E-Zigaretten-Dampf gar nicht oder kaum vorkommen.
Die National Academy of Science, eine der führenden Wissenschaftsinstitutionen in den USA, kam Anfang des Jahres in einer akribischen Analyse der vorliegenden Forschungsergebnisse zu dem Schluss, die Evidenz für langfristige Veränderungen der Herzfrequenz, des Blutdrucks und der Funktion des Herz-Kreislaufsystems durch E-Zigaretten sei unzureichend.
Studien über die kardiovaskulären Risiken des Dampfens liegen bislang aus Italien, Polen, Schweden und anderen Ländern vor, nicht aber aus Deutschland. Das mag ein Fortschritt sein, wenn man bedenkt, dass sich namhafte Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DKG) noch zu Beginn der 2000er Jahre ihre Forschungsprojekte von der Zigarettenindustrie bezahlen ließen. Die für Herzerkrankungen zuständige Fachgesellschaft scheint sich für das Konkurrenzprodukt zur Zigarette nicht sonderlich zu interessieren.
Im Juni 2016 erschien in der Fachzeitschrift "Der Kardiologe" unter der Überschrift "E-Zigaretten-Hype" eine oberflächliche und einseitige Darstellung des Forschungsstands. Im September 2017 verkündete Rainer Hambrecht, der Sprecher der Arbeitsgruppe Prävention der DKG, auf einem Kongress, man habe sich "ganz klar festgelegt, dass E-Zigaretten überhaupt nicht helfen, um (Patienten) vom Rauchen wegzubringen".
Hambrecht verwies bei dieser Gelegenheit ebenso wie seine Kollegen bei anderen Anlässen auf die leitliniengerechten Alternativen zur E-Zigarette, und zwar die Nikotinersatzprodukte und Entwöhnungsmedikamente der Pharmaindustrie.
Sichere Pharmaprodukte?
Dieser Verweis auf bestehende Leitlinien ist nicht sonderlich plausibel: Wenn sich Nikotin negativ auf das Herz-Kreislauf-System auswirkt, weil es z.B. den Sympathikus aktiviert und dadurch die Frequenz und die Stärke des Herzschlags erhöht, dann trifft das auch auf das Nikotin in Pharmaprodukten wie den Nicorette-Kaugummis zu, die von Ex-Rauchern wie Barack Obama manchmal jahrelang gekaut werden, ohne dass die möglichen Langzeitfolgen dieses Dauerkonsums zuvor untersucht worden wären.
Auch was die Entwöhnungsmedikamente mit dem Wirkstoff Vareniclin angeht, ist die Forschungslage keineswegs eindeutig: Bei einem Vergleich der Klinikeinweisungen zwölf Wochen nach der Erstverschreibung des Rauchstopp-Präparats mit dem Jahr davor stellte sich heraus, dass die Hospitalisierungen wegen kardiovaskulärer Erkrankungen nach Beginn der Vareniclin-Therapie um 34% zugenommen hatten. Die im April 2018 hierzu veröffentlichte Studie basiert auf den Behandlungsdaten von rund 57.000 Kanadiern.
Vor diesem Hintergrund ist kaum nachvollziehbar, warum sich die deutschen Kardiologen bis heute nicht zu einer Position durchringen konnten, wie sie die American Heart Association bereits im Jahr 2014 formuliert hat: Wenn "ein Patient konventionelle Entwöhnungsmedikamente ablehnt und E-Zigaretten als Hilfsmittel zum Rauchstopp benutzen möchte, dann ist es vernünftig, solch einen Versuch zu unterstützen".
Sollten Sie selber den bevorstehenden Nichtrauchertag (oder irgendeinen anderen Tag) zum Anlass nehmen wollen, um sich das Rauchen abzugewöhnen, dann ist es das Sicherste, Sie verzichten sowohl auf Pharmaprodukte wie auf E-Zigaretten. Das gilt insbesondere dann, wenn bei Ihnen bereits eine koronare Herzkrankheit festgestellt wurde.
Millionen von Rauchern haben es dank der von vielen Medizinern geschmähten Schlusspunkt-Methode geschafft, von den Zigaretten loszukommen. Falls Ihnen ein Ausstieg von heute auf morgen unmöglich erscheint, ist ein Umstieg auf die E-Zigarette eine sinnvolle Alternative. Einen eindeutigen gesundheitlichen Vorteil bringt so ein Umstieg jedoch nur, wenn sie danach komplett auf Tabakzigaretten verzichten. Ihr Herz wird es Ihnen danken.