Hessenwahl: Koalition in Berlin angezählt
Das nächste Wählervotum, das einen großen Glaubwürdigkeitsverlust anzeigt. Die schwarz-grüne Koalition in Wiesbaden zittert um die Mehrheit
Die meisten Stimmen gab es für die CDU. Bei der ARD-Hochrechnung um 23 Uhr 27 waren es 26,9 Prozent. Aber die Union steckte auch die größte Schlappe ein: Sie verlor sagenhafte 11,4 Prozentpunkte gegenüber der Landtagswahl 2013. Auch die andere Partei der Berliner Koalitionsregierung, die SPD, verlor massenhaft Wähler. Sie kam laut der genannten Hochrechnung auf 20,1 Prozent und verlor damit 10,6 Prozentpunkte im Vergleich zur vorhergehenden Landtagswahl.
Die großen Stimmen-Gewinner sind, wie schon berichtet, die Grünen und die AfD. Die AfD erreichte ein Plus von 9,1 und die Grünen legten um 8,5 Prozent zu. Beim Gesamtanteil liegen die Grünen jedoch mit 19,6 Prozent mit großem Abstand vor der AfD, der um die angegebene Uhrzeit ein Anteil von 13,2 hochgerechnet wurde. Die AfD ist im neuen Landtag erstmals vertreten und wurde viertstärkste Partei in Hessen. 2013 erzielte sie 4,1 % Prozent der Stimmen. Sie konnte ihren Anteil verdreifachen.
Kurz vor Mitternacht signalisierte die Sitzverteilung der Hochrechnungen eine Mehrheit für die bislang regierende Koalition aus CDU und Grünen (nötig sind 69 von 137 Sitzen). Eine komfortable Mehrheit wäre nur mit der FDP möglich. Dass es sehr lange ungewiss bleiben kann, wie die neue Landesregierung aussieht, ist für Hessen nichts Neues, wie frühere Landtagswahlen vormachten.
Doch war die Wahl, weit mehr noch als die bayrische Landtagswahl vor 14 Tagen, als Votum ausgerufen worden, das sich auf die Koalition aus Unionparteien und der SPD in Berlin auswirken werde. Es gab Spekulationen, dass sie sogar deren Ende bedeuten könnte.
Danach sieht es nach bisherigen Äußerungen aus Union und SPD nicht aus. Die Frage ist aber, wie eine derart angeschlagene Koalition weitermachen kann. Das offenkundigste Ergebnis auch dieser Wahl ist der enorme Vertrauensverlust, auf den beide GroKo-Parteien bislang keine Antwort haben. In Umfragen zeigte sich die Unzufriedenheit schon lange, bei der Bayernwahl und jetzt bei der Hessenwahl ist klar zu sehen, dass sich die Wähler von den Unionsparteien und der SPD abgewendet haben.
Die Grünen zogen in Hessen große Wählerschaften der beiden Stimmenverlierer ab - laut ARD/infratest imap 92.000 von der CDU und 101.000 von der SPD. Die CDU verlor darüber hinaus einen etwas höheren Anteil an die AfD (94.000) und 58.000 an Nichtwähler(!). Sie gewann dafür Wähler, die von der SPD abwanderten. Von anderen Parteien gab es keine Abwanderer.
Die SPD gewann überhaupt keine Wähler von anderen Parteien, ihr gehen nur Wähler verloren.
Die meisten ihrer früheren Wähler in Hessen und das Land war mal sehr sozialdemokratisch gefärbt, wandern zur "neuen SPD", den Grünen, ab. Die beiden anderen großen Blöcke wählen, ähnlich wie bei der CDU, lieber gar nicht (68.000) oder die AfD (38.000).
Die Linken, die in Hessen diesmal mit 6,3 % ihr bestes Landtagswahlergebnis erzielten, gewannen einen Prozentpunkt gegenüber 2013 hinzu. Die meisten Wählerabgänge verzeichnete übrigens auch sie an die AfD (minus 15.000).
Die Partei profitierte aber von der "Zuwanderung" von früheren SPD-Wählern (24.000) und CDU-Wählern (5.000). Auch die FDP gewann Wähler von CDU und SPD, büßte aber 17.000 an die AfD ein. Da die AfD zuvor nicht im Landtag war, ist ihr ARD/infratestImap-Schaubild von Wählerzuläufen gekennzeichnet. Die meisten kamen von der CDU (94.000), dem folgen "Andere" (45.000) und dann die SPD-Wähler (38.000).
Angesichts dieser Abwanderungen, die ans Eingemachte gehen, verblüffte der Auftritt des amtierenden hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, der den CDU-Mitglieder beinahe enthusiastisch einen Erfolg in Hessen weismachen wollte. Man habe das Wahlziel erreicht: "stärkste Partei, keine Regierungsbildung ohne CDU". Bouffier versuchte, den Wählerschwund allein der Berliner Koalition anzukreiden.
Die Bereitschaft zur Selbstkritik bleibt versteckt. Mag sein, dass er damit den ratlosen CDU-Mitglieder Mut zusprechen will, wie ein Sporttrainer in einer Kabinenansprache, aber dem Publikum draußen vermittelt er damit, dass er das Ergebnis nicht ernst nimmt. Nicht nur die SPD hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Erneuern müssen sich aber nicht nur die Sozialdemokraten, deren Spitzenkandidat in Hessen, Thorsten Schäfer-Gümbel, immerhin ohne Relativierungen, von einem "schweren und bitteren Abend" sprach.
Auffällig war auch, dass Kanzleramtschef Helge Braun am frühen Abend ständig vor den Kameras beteuerte, dass das Ergebnis zwar nicht gut sei, es aber keine Gefahr für die "Große Koalition" bedeute. Es ist eine vorläufige Beschwichtigungsantwort auf die Frage, die sich nach dieser Wahl noch mehr aufdrängt: Wie lange kann sich die Koalition in Berlin noch weiter durchwackeln. Beide Parteien haben substantiell an Vertrauen verloren und im Augenblick ist nicht zu sehen, wie sie es wiederaufbauen könnten. Beide taktieren nur mehr.
Deutlich zu sehen ist das am Plan der SPD-Chefin Nahles, die nun einen Fahrplan mit SPD-Zielen oder Forderungen vorlegen will, um dann im nächsten Jahr "bis zur vereinbarten Halbzeitbilanz" abzulesen, ob die SPD noch richtig in dieser Regierung aufgehoben sei.
Angesichts der Niederlagenserie der SPD und der schwindenden Wählerschaft versprechen Neuwahlen nichts Gutes für die Sozialdemokraten - zumal auch Hessen nach Bayern zeigte, dass es keine linke Mehrheit gibt -, so kann Nahles nur auf Zeit spielen, ohne allerdings eine Idee präsentieren zu können, wie die Attraktivität der SPD neu zu erwerben wäre. Union und SPD bestärken sich nun gegenseitig darin, dass man sich künftig auf die Sacharbeit konzentrieren wolle.
CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer sprach davon, dass die Große Koalition als Konsequenz aus der Hessenwahl eine "neue Arbeitskultur" brauche. Es müsse "Schluss sein mit der Debatte, ob Union und SPD zusammen regierten oder nicht". Tatsächlich arbeiten die Koalitionspartner schon seit einiger Zeit miteinander, aber was bisher an Ergebnissen erzielt wurde, überzeugt ganz offensichtlich die Mehrheit nicht mehr und das Vertrauen, dass sich das ändert, ist nicht ausgeprägt.
Bis zu den nächsten Wahlen ist noch Zeit. Im Mai 2019 sind es die Europawahlen und erst im September folgen die nächsten Landtagswahlen. Allerdings könnte der CDU-Parteitag im Dezember Irritationen bringen. Die Kanzlerin ist durch das Wahlergebnis in Hessen weiter angreifbar geworden.