"Heute gilt Schönheit kaum noch als Geschenk der Natur, sondern als eine Leistung"

Rebekka Reinhard über Attraktivität in Geschichte und Gegenwart

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Was ist von einer Gesellschaft zu halten, welche die Wahl zur Castingshow-Königin zu ihrem ästhetischen Leitmotiv erkoren hat? Ein Gespräch mit Rebekka Reinhard, der Autorin der "philosophischen Gebrauchsanweisung" mit dem Titel "Schön! Schön sein, schön scheinen, schön leben".

Frau Reinhard, was ist überhaupt "schön"? Gibt es dafür objektive Kriterien?
Rebekka Reinhard: Ja und nein. Platon war der erste, der sich mit dieser Frage auseinandersetzte. Sein Dialog Hippias Major lehrt uns einerseits, dass Schönheit relativ ist (eine schöne Göttin ist "schöner" als ein schönes Mädchen) - und weist andererseits auf das allgemeine Wesen des Schönen hin, das allem, was wir schön nennen, zugrunde liegt. Aber wie soll man so ein Wesen fassen können?
Die Pythagoreer gingen die Sache pragmatischer an. Für sie war "schön" eine Sache der Mathematik, der richtigen Anordnung der einzelnen Teile zu einem stimmigen Ganzen. Die Erben der Pythagoreer sind die modernen Attraktivitätsforscher, die der Schönheit mittels spezieller Softwareprogramme auf die Schliche zu kommen suchen.
Eine alles erklärende Schönheitsformel wurde bisher allerdings nicht gefunden. Alles, was man sagen kann, ist, dass ein symmetrisches, ebenmäßiges, mathematisch durchschnittliches Gesicht - Claudia Schiffer - überzufällig häufig als attraktiver eingestuft wird als eines, bei dem das rechte Maß in den Keller gerutscht ist - Margaret Thatcher. Das heißt: Man kann Schönheit messen, doch wohnt ihr stets ein unerklärliches Restgeheimnis inne.

"Tits on Sticks"

Wie hat sich das weibliche Schönheitsideal in den letzten 50 Jahren verändert?
Rebekka Reinhard:: Je nach der aktuellen Körpermode sind mal dünnere, mal sportlichere Figuren gefragt. Eines der aktuellen Schönheitsideale wird von amerikanischen Operateuren sarkastisch als "Tits-on-Sticks"- ("Titten-auf-Stielen")-Ideal tituliert: imposante Brüste auf dem mageren Unterkörper eines männlichen Teenies - abzüglich äußerer Geschlechtsmerkmale natürlich. Insgesamt wurde der Druck auf die Frau, äußerlich perfekt zu sein, stetig erhöht. Heute gilt Schönheit kaum noch als Geschenk der Natur, sondern als eine Leistung. Eine Frau, die keine Lust auf den Crosstrainer hat, verweigert diese Leistung, ist unwillig, ihr wahres, gutes Ich zum Vorschein zu bringen - so zumindest suggeriert es der Zeitgeist.
Rebekka Reinhard. Foto: © Peter Lindbergh.
Einstmals galt Schönheit als Glücksversprechen (Stendhal) und war eine Projektionsfläche, die nicht ohne den Wunsch nach Verwirklichung und Erfüllung zu denken war. Heutzutage scheinen alle Gliedmaßen unmittelbar einem "Best-Of"-Programm nach dem Benchmarking-Prinzip Folge leisten zu müssen. Hängt also die aktuell grassierende, selbstdisziplinierende Schönheitsmanie mit ökonomischen Ideologemen unserer Zeit zusammen?
Rebekka Reinhard: Natürlich ist die heutige Schönheitsmanie Teil des spätkapitalistischen Systems. Wen den höchstdotierten Job, das eleganteste Apartment und den wohlerzogensten Hund anstrebt, kann nicht mit einer Hakennase herumrennen. Trotzdem sind Stendhals Worte: "Schönheit ist nur ein Versprechen von Glück" nicht im Geringsten obsolet. Die narzisstische Beschäftigung mit dem eigenen Körper, die Mode-, Kosmetik- und Fitnessstudio-Besessenheit weist ja über sich hinaus auf ein quasi-transzendentes Ideal: das Ideal der Kalogathia, der Einheit des Schönen, Wahren und Guten.
Das letzte Ziel des Menschen ist ja nicht der perfekte Körper und das ewig jugendliche Gesicht, sondern das schöne, gelungene, sinnvolle Leben. Wir hoffen, durch die Perfektionierung unseres Äußeren von mangelnder Anerkennung, einer schlechten Ehe, einem miesen Job und vielen anderen Problemen befreit zu werden. Kurz: Wir spekulieren so auf das Glück. Aus philosophischer Sicht ist das Glück aber nichts, das man "hat" wie ein neues Paar Brüste. Glück ist eine geistige Aktivität, eine energeia, eine aktive innere Haltung, die man ein Leben lang einüben muss.

"Die siegreichen Topmodels sind keine moralischen Vorbilder, sondern Zicken"

Was unterscheidet unsere Castingshowköniginnen von heute von den Hopfen- und Weinköniginnen vergangener Zeiten? Spielen sie eine größere Rolle als Leitbild? Oder eher eine kleinere?
Rebekka Reinhard: Die Siegerinnen von "Germany’s Topmodel" und Co. erreichen via TV natürlich deutlich mehr Fans - überwiegend pubertierende Mädchen auf der Suche nach rolemodels. Die so genannten Topmodels sind ein Symptom unserer narzisstischen Kultur, in der der Schein das Sein, die Geste den Geist, die Form den Inhalt immer mehr verdrängt.
Die siegreichen Topmodels sind keine moralischen Vorbilder, sondern Zicken. Sie lehren ihre Fans, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, das eigene Ich permanent und penetrant in den Mittelpunkt zu rücken, es erst zur Marke und dann zum Bestseller zu machen. Und das sehr erfolgreich. "Berühmt werden" ist der Berufswunsch vieler Teenies, die ahnen, dass ihnen unsere Gesellschaft außer dem Dreiklang aus Narzissmus, Konsumismus und Nihilismus nicht mehr viel zu bieten hat.

Gesäß-Fixierung und Porno-Ästhetik

Zu Zeiten des Mini-Rocks galten lange Beine als schön, heute ist es der Hintern. Können Sie uns die aktuelle Fixierung erklären?
Rebekka Reinhard: Die Gesäß-Fixierung passt zum Siegeszug der Porno-Ästhetik in einer Zeit, in der sich praktisch alles um Arbeit, Leistung und Bilanzen dreht. Eine Zeit, die keine Zeit mehr hat für echte Erotik. Wer durch den Beruf schon völlig ausgepowert ist, braucht keine Inspiration mehr, ihn verlangt es nach sofortiger Stimulation, nach vorfabrizierten Effekten. In meinem Buch definiere ich die pornographische Schönheit als eine Addition von Körperteilen, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Wesen ihres Trägers steht.
Daniela Katzenberger, nicht Marilyn Monroe, ist die Heldin der Porno-Kitsch-Kultur. In dieser Kultur zählt die "schöne Seele" wenig. Welche Frau traut sich schon, ihre Reize unter Verschluss zu halten, wenn es von überall her schallt: "Seid tough, seid laut und zeigt, was ihr habt! Zeigt her eure Hinterteile und Brazilian Waxings!"
Frauen hatten schon im 19. und 20. Jahrhundert unter einem strengen Schönheitsdiktat zu darben, Männer konnten damals bisweilen als "Typen" durchgehen. Sind diese Tage mit dem Sixpack-Ideal gezählt?
Rebekka Reinhard: Männer sehen sich jedenfalls mehr und mehr gezwungen, neben ihrer perfekten, beruflich erfolgreichen und attraktiven Partnerin eine gute Figur zu machen. Ein Typ, der seinen Bauch als birnenförmige Ausstülpung vor sich her trägt, ist kein "Typ" mehr, sondern ein "Loser". Die zunehmende ökonomische Unabhängigkeit der Frau und das erstarkte weibliche Ego haben viele Männer in eine mehr oder weniger ausgeprägte Identitätskrise getrieben. Viele versuchen, diese Krise mit modischen Accessoires zu kompensieren, indem sie sich zum Beispiel einen Vollbart wachsen lassen. Dieser Bart ist aber natürlich nur das Zitat einer Männlichkeit, die es so nicht mehr gibt.
Immer mehr Männer sind inzwischen genauso um ihr Äußeres besorgt wie die Frauen. Wer weiß, vielleicht wird bald der modisch-durchtrainierte Mann die schöne Frau in den Schatten stellen? Dann wird es irgendwann im Menschenreich so zu gehen wie im Tierreich, wo es ja stets das Männchen ist, das mit prächtigen Federkleidern und luxuriösen Fellen imponiert. Wo gilt: Sie hat die Wahl, und er hat schön zu sein.

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