"Heute quatscht einfach jeder mit"
- "Heute quatscht einfach jeder mit"
- Medien haben AfD stark gemacht - und Flüchtlingsunterstützer
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Bei einer Podiumsdiskussion erläutern Journalisten, dass sie sich durch Kritik aus sozialen Online-Netzwerken heute stark unter Druck gesetzt fühlen. Die Flüchtlingskrise war dabei der große Wendepunkt
Seit Sommer 2015 kommen immer mehr Asylsuchende nach Deutschland. Ob aus dieser sogenannten Flüchtlingskrise auch eine Journalismuskrise erwachsen ist, versuchten nun Wissenschaftler und Journalisten bei einer Debatte der Volkswagenstiftung in Hannover zu klären. Was haben Medien mit ihrer Berichterstattung für Reaktionen bei den Menschen in Deutschland ausgelöst? Es gab Selbstkritik aber auch teils heftige Kritik an Mediennutzern und Online-Kommentatoren.
Auf dem Podium saßen mit Claudia Spiewak (Norddeutscher Rundfunk) und Hendrik Brandt (Hannoversche Allgemeine Zeitung) zwei Redaktionsleiter. Beide Journalisten gaben zu, dass sie und ihre Redaktionen durch die Kritik von Social-Media-Nutzern unter Druck gesetzt würden. "Ich habe mich im letzten Dreivierteljahr als Journalistin so stark gefordert gefühlt, wie schon lange nicht mehr", sagte die Chefredakteurin des NDR-Hörfunk Claudia Spiewak. In ihrer Hamburger Redaktion würden ethische und handwerkliche Fragen in der Flüchtlingsberichterstattung intensiv diskutiert.
Zwar hätten die meisten Journalisten in Deutschland nach bestem Wissen und Gewissen über Flüchtlinge berichtet. Doch gebe es durchaus gute Gründe für eine selbstkritische Diskussion. Dazu gehöre der Sprachgebrauch, wenn etwa von "Flüchtlingsströmen" die Rede sei, dazu gehöre auch die Bildauswahl oder die Frage, ob Redaktionen über jede Schlägerei in Flüchtlingsheimen berichten und ob sie Nationalität und Herkunft bei Verdächtigen und Straftätern nennen sollten, erklärte Spiewak, die auch Programmchefin von NDR-Info ist. "Wir suchen nach Selbstvergewisserung."
"Keine ethischen Standards in Social Media"
Die Selbstreflexion von Journalisten habe in den letzten Monaten stark zugenommen, bestätigte auch HAZ-Chefredakteur Hendrik Brandt. Die Bedeutung sozialer Online-Netzwerke sei inzwischen eben immens. "Heute quatscht einfach jeder mit." Das gehe schon in Ordnung, aber im Gegensatz zu professionellen Medien gebe es bei der Verbreitung von Informationen auf Facebook, Twitter oder "WhatsApp" keine handwerklichen und ethischen Standards.
Professionelle Journalisten würden im Internet teilweise sehr hart angegangen, kritisierte er. ZDF-Moderatorin Dunya Hayali und ARD-Moderatorin Anja Reschke hätten das öffentlich reflektiert. Von dem kritischen "Grundrauschen" in sozialen Online-Netzwerken dürften sich Journalisten aber nicht verunsichern lassen. Medien stünden eben zwischen denen, die schnelle einfache Lösungen wollten, und denen, die differenziert-sachlich analysierten und um die Komplexität des Themas wüssten, argumentierte Brandt.
"Das ist eine Drecksarbeit"
Im letzten Dreivierteljahr hätte seine Redaktion viel über die Abläufe im Internet gelernt. Zu Jahresbeginn etwa mussten HAZ-Redakteure täglich rund 500 Facebook-Kommentare löschen, weil sie Hetze enthielten. "Das ist eine Drecksarbeit. Das ist widerlich." Dies habe die Redakteure auch an körperliche Grenzen gebracht, sagte Brandt, der das Blatt seit 2011 leitet. Derzeit liefen mehrere Anzeigen gegen entsprechende Kommentatoren, weil deren Posts einfach strafrechtlich relevant seien.
"Die meisten Leute die mir schreiben: 'Ihr seid Lügenpresse!' haben unsere Zeitung aber nie regelmäßig gelesen", so der 53-Jährige. "Ich habe das in der Abonnentenkartei nachgeprüft." Die Online-Moderation der Zeitung sei unglaublich arbeitsintensiv. Wenn deren Belastungsgrenze erreicht sei, würde so ein Forum eben geschlossen. Das mache die Leute dann aber auch wieder wütend.
Deutsche Facebook-Nutzer seien Studien zufolge etwas weniger gebildet als in anderen Ländern, sagte Brandt. Höhere Bildungsschichten in Deutschland, darunter Journalisten, hätten Facebook deshalb lange ignoriert. "Das war falsch. Facebook ist der moderne Marktplatz." Menschen redeten auf solchen Online-Plattformen wie auf dem Wochenmarkt miteinander. Auch wenn Medien darauf reagieren sollten, müssten sie aber nicht drucken, was dort geredet werde. Es gelte in dortigen Kommentaren eher, mögliche Ansätze für eigene Recherchen zu entdecken.
Leser-Kommentare irrelevant?
Brandt zweifelte grundsätzlich an der Relevanz von Leserkommentaren. Von den klassischen Leserbriefseiten in Zeitungen wüssten die Medienmacher zum Beispiel, dass sie kaum gelesen würden. Die meisten anderen Mediennutzer interessierten die Kommentare gar nicht.
Unterstützt wurde Brandt dabei vom Medienforscher Gerhard Vowe. Es gebe Studien zur Relevanz veröffentlichter Lesermeinungen. Die Untersuchungen kämen jedoch zum Schluss, dass die Kommentare unter Artikeln etablierter Medien keinen nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit hätten. "Davon zündet gesellschaftlich nichts", erklärte der Professor von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
In vielen Social-Media-Posts wollten sich Leute einfach "auskotzen", so Vowe weiter. Da könne man "die Sau rauslassen" und sich Unterstützung holen. Ein bestimmter Teil der Gesellschaft sei einfach fremdenfeindlich und dieser Teil organisiere sich eben online - aber jetzt auch politisch etwa in der Partei Alternative für Deutschland (AfD), sagte der Kommunikationswissenschaftler. Etablierte Medien müssten sich damit abfinden. Sie könnten daran nichts ändern, da sich andere Sichtweisen heute immer in sozialen Medien bahnbrechen.
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