Hey, hey, Wiki!
Das M-Hörnchen: Che Guevara-Wikimedia und die Befreiung des Wissens auf Kosten der User
Unsere Freiheit und unser tägliches Brot tragen die Farbe des Blutes und stecken voller Opfer.
Che Guevara
Wir alle lieben Wikipedia! Wikipedia ist toll, oder? Wer hat nicht schon mal gespendet für Wikipedia? Denn so etwas muss man doch unterstützen. Hier ist er einmal wahr geworden, der Traum aus den Anfängen des Internet: Ein selbstgeschaffenes, unabhängiges Projekt, zu dem Millionen von Autoren unentgeltlich etwas beisteuern, um auch unentgeltlich etwas zu bekommen: Das größte, beste, detaillierteste und zugänglichste Lexikon der Welt und dies gleich in einem Dutzend Sprachen. Redigiert durch Selbstkorrektur und, von verzeihlichen Fehlern abgesehen, auch ziemlich zuverlässig.
Wunderschön, oder? Oder schön blöd? Warum haben wir eigentlich noch nie etwas für Amazon gespendet? Oder für Facebook? Oder für Apple? Oder für Volkswagen? Genau: Weil dies globale Konzerne sind, gewinnorientiert und an eigenen Geschäftsinteressen orientiert, nicht am Gemeinwohl. Und Wikipedia? Ist eigentlich genau das auch.
Obwohl: Ehrlich gesagt, geht es gar nicht um Wikipedia. Sondern um Wikimedia. Was ist jetzt das schon wieder? Ist das nicht eigentlich nichts anderes als das rechtliche Fundament, also das, was für den Eintrag in die jeweiligen Amtsblätter juristisch notwendig ist, eine Art erweiterte Rechtsform, die dafür sorgt, dass Wikipedia reibungslos funktionieren kann? Hm, nicht ganz.
Geld verdienen mit Gemeingut
Ausgerechnet in der FAZ, die nicht gerade berühmt für ihr kritisches Verhältnis zu Wirtschaftskonzernen ist und auch nicht übermäßig bekannt für investigative Recherche, ausgerechnet dort erschien am vergangenen Dienstag ein ausgezeichneter und in seinen Folgen bahnbrechender Text des Gastautors David Bernet, der erstmals in einem Mainstream-Medium die ökonomischen Hintergründe der Lexikon-Betreiberorganisationen und die dazugehörige massive Lobby-Arbeit in den Fokus rückt.
David Bernet, ein in Berlin lebender Schweizer, ist von Beruf Filmemacher und zur Zeit einer der Vorstände des Dokumentarfilm-Verbandes AG Dok. 2015 hat er den Film "Democracy – Im Rausch der Daten" gedreht, in dem es um die Datenschutz-Grundverordnung und um den Kampf für informationelle Selbstbestimmung innerhalb der EU ging. Er ist also "drin" im Thema.
"Wikimedia pervertiert das Gemeinwohl", schreibt Bernet. Bernet. Er zeigt, dass Wikipedia vor allem durch Spenden von Silicon-Valley-Giganten finanziert wird: Google, Facebook, Apple. Es lohnt sich für sie, denn sie verdienen durch Traffic mit Inhalten aus Wikipedia sehr viel Geld. Das reicht dem Wikipedia-Konzern nun nicht mehr.
Bernets Thema ist aber vor allem die aktuell in Angriff genommene direkte und automatische Kommerzialisierung von Wikipedia-Content. Und wofür die kommerziellen Unternehmen bezahlen sollen. Zum Beispiel, wenn Sprachassistenten wie Siri oder Alexa über Wikipedia auf Inhalte zugreifen.
Das oben beschriebene Spendengeschäft auf Gegenseitigkeit würde damit in eine ordentliche Geschäftsbeziehung umgewandelt werden. Der Name dafür: Wikimedia Enterprise API, ein 2020 gegründetes "Projekt", dessen Logo lustigerweise ein nüssesammelndes Einhörnchen ist.
Damit sich das Geschäft lohnt, müssen die Wikipedia-Inhalte möglichst kostenlos und rechtefrei sein.
Kalifornische Ideologie und der schmutzige Pakt der TV-Sender
"In diesem Zusammenhang ist auch die seit einigen Jahren anhaltende intensive Lobby-Kampagne von Wikimedia Deutschland für sogenannte 'freie Lizenzen' zu verstehen", schreibt Bernet in der FAZ. Die gern verwendete Formel "Öffentliches Geld = Öffentliches Gut" sei eine "Vulgarisierung des Gemeinwohlgedankens, die den rechtlichen Status von Gütern abwertet", auch solchen, die ohne den Gedanken an ökonomische Auswertung produziert wurden.
Bernet warnt, dass der Wikipedia-Kapitalismus hier von einer typischen Internet-Mentalität profitiere, der "Verquickung von libertärer Staatsverachtung und Kollektivismus-Idealen, die sich in diesem Fall recht schamlos hinter Gemeinwohl-Rhetorik und flimmernden Fantasien vom 'freien Internet' versteckt". Die britischen Soziologen Richard Barbrook und Andy Cameron haben diese Mentalität und ihre Folgen bereits vor 25 Jahren auf Telepolis klarsichtig mit dem Schlagwort "Kalifornische Ideologie" beschrieben.
Bernet greift in seinem Text auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender an, die im Gegensatz zur deutschen Filmbranche über "creative commons"-Lizenzen einen schmutzigen Pakt mit Wikimedia geschlossen haben:
"Warum benötigt Wikimedia überhaupt CC-lizenzierte öffentlich-rechtliche Inhalte? Wikimedia könnte auch ganz einfach eine Pauschallizenzierung mit den zuständigen Verwertungsgesellschaften wie der VG Bild-Kunst abschließen. Genauso wie das Schulen, Universitäten und Bibliotheken tun."
In Bernets frei zugänglichem Artikel ist vieles davon näher ausgeführt. Es lohnt auch der Blick in das Leserforum zum Text. Offenkundig hat Bernet ins Schwarze getroffen und auch vielen Mitarbeitern des Lexikons aus dem Herzen gesprochen, die keineswegs glücklich über das Treiben ihrer Betreiberorganisation sind.
"Die Befreiung des Wissens"
Wer sich ein bisschen informiert, der sieht Bernets Ausführungen und ähnliche Zweifel an der Selbstlosigkeit von Wikimedia bestätigt.
Beim Anklicken der Website der deutschen Wikimedia springt als Erstes die pathetische Formel "Wir befreien Wissen" ins Auge. Sie ist militant. Es geht nach ihr nicht einfach darum, etwas vorhandenes zugänglich zu machen, sondern es wird etwas Verborgenes, Gefangenes, in Ketten liegendes befreit. Wikimedia als Befreiungsbewegung, als Avantgarde der Weltrevolution. So viel Sendungsbewusstsein ist – wie jeder fundamentalistische Gestus – suspekt.
Die deutsche Wikimedia, das ist hier wichtig. Denn zum einen muss man fein unterscheiden zwischen der deutschen Wikimedia und der "Wikimedia Foundation" in den USA. Zum Zweiten ist die Wikimedia Deutschland keineswegs nur für Deutschland zuständig. Deutschland ist einfach ihr Sitz.
Der in vier Punkten formulierte Vereinszweck des deutschen eingetragenen, also steuerlich begünstigten Vereins ist zum einen keineswegs ganz schlicht die Förderung freien Wissens oder der Betrieb des Online-Lexikons, sondern im Gegenteil erstens "die Unterstützung des Betriebs der Wikipedia Foundation", also der US-amerikanischen Stiftung.
Zum zweiten "die Offline-Verbreitung der Inhalte der Wikimedia-Projekte in digitaler oder gedruckter Form", also etwas salopper formuliert die Kommerzialisierung der gratis von unbezahlten Usern erstellten Inhalte. Zum dritten "die Durchführung von Informationsveranstaltungen und die Erstellung und Verbreitung von Informationsmaterial über freie Inhalte, Wikis und die Wikimedia-Projekte", vulgo: PR und Lobbyismus.
Viertens: "die Klärung wissenschaftlicher, sozialer, kultureller und rechtlicher Fragen im Zusammenhang mit freien Inhalten und Wikis". Also der juristische und publizistische Kampf gegen das bestehende Urheberrecht.
Ausbeutung und Enteignung von Millionen Content-Lieferanten
Übersetzen wir das mal: Es geht um die Kommerzialisierung von unkommerziellen Inhalten und um Interessenvertretung eines globalen Konzerns. User erarbeiten in ihrer Freizeit kostenlos Inhalte, mit denen ein Konzern Gewinne macht. Eine geniale Geschäftsidee.
Dazu passt die Aufklärung, wohin eine Wikipedia-Spende fließt. Sie landet nämlich keineswegs, wie die allermeisten glauben, bei Wikipedia, um den Betrieb des Lexikons zu finanzieren. Sondern bei Wikimedia. Die wiederum geben immerhin einen kleineren Teil des Spendenvolumens tatsächlich an Wikipedia weiter. Der größere Teil dient den oben beschriebenen Vereinszwecken. Spender, die öffentliches Wissen und Gemeinwohl-Ideen unterstützen wollen, finanzieren also tatsächlich die Lobby-Arbeit, die PR-Leute und die Hausjuristen eines Konzerns.
"Tja!", wie Luisa Neubauer sagen würde – es ist weit gekommen, wenn Millionen User ein Spiel klaglos mitspielen, in dem sich ein Konzern zum "Che Guevara des Internet" erklärt und mit viel Propagandanebel mit den Formeln "Freie Lizenzen" und "Gemeinwohl" de facto die Wissensproduzenten – denn nichts anderes sind die kleinen wie die großen Wikipedia-Content-Lieferanten – enteignet und im Eigeninteresse des Konzerns entschädigungslos ausbeutet.
Jetzt ist das Thema auf dem Tisch. Es wird noch für Furore sorgen. Wir bleiben dran.