Hindu-Nationalisten wollen die Geschichte frisieren
Schulbücher im Land der Märchenerzähler
Der mohammedanische Historiker Albiruni beklagte sich um das Jahr 1000 über das Verhältnis der Inder zur Geschichte:
Die Inder schenken leider der historischen Folge der Dinge nicht viel Aufmerksamkeit; sie sind sehr nachlässig in der Aufzählung der chronologischen Reihenfolge ihrer Könige, und wenn man sie zu einer Aufklärung drängt und sie nicht wissen, was sie sagen sollen, so sind sie gleich bereit, Märchen zu erzählen."
Aber nicht nur die Freude an Fabuliererei und das Drängen neugieriger Ausländer veranlasst Inder zum Märchen Erzählen. Heute geht es dabei um blanken Nationalismus. Wie Kai Friese in einem Artikel der New York Times berichtet, ist man in Indien fleißig dabei, Schulbücher gemäß hinduistisch-nationalistischer Anschauungen umzuschreiben.
Das National Council for Educational Research and Training ist eine Zentralbehörde, die Lehrpläne und Schulbücher bestimmt. Derzeit soll ein Satz neuer Bücher für sozialwissenschaftlichen Fächer und die Geschichte erstellt werden. Diese Gelegenheit lässt sich die regierende Bharatiya Janata Party, die Hindu-Nationalisten, nicht entgehen.
Ein Artikel in Frontline hat eine Tabelle fragwürdiger Veränderungen, die allerdings so verkleinert ist, dass sie kaum entzifferbar ist. Ein paar Beispiele: Die vorarische1 Harappa- oder Indus-Kultur, deren Eigenbezeichnung unbekannt ist, wird plötzlich Sindhu-Kultur genannt. Sindhu ist der Rigveda-Name für den Indus (die Rigveda ist die wichtigste vedische Hymnensammlung der arischen Einwanderer). An sich harmlos, aber die Stoßrichtung ist klar: Die Harappa-Kultur soll indogermanisiert werden. Um dies auch wirklich klar zu machen, wird dieselbe Kultur auch als Sindhu-Saraswati-Kultur bezeichnet. Der Saraswati ist ein mythischer Fluss, der ebenfalls der Rigveda entstammt. Der Name ist also komplett neu zusammen gestellt (was den Schüler später verwirren wird, wenn er die Kultur in der wissenschaftlichen Literatur wiederfinden will). Friese spricht in der New York Times von der Indus-Saraswati-Kultur: Offensichtlich ließ man in der Zwischenzeit wenigstens den Sindhu fahren.
Auch in anderer Ansicht sollen die Schulbücher noch nachgebessert werden: Im derzeitigen Entwurf lassen die neuen Geschichtsbücher zum Beispiel aus, dass Gandhi von einem fanatischen Hindu getötet wurde. Das sei nur ein Versehen, unbeabsichtigt.
The Hindu fasst in einem Artikel die schlimmsten sachlichen "Versehen" auf, die sich im ersten Entwurf der neuen Schulbücher fanden. Madagaskar sei eine Insel im arabischen Meer, "Zaren" der Name einer Dynastie, und die Große Mauer in China aus Terrakotta gebaut. Dass die BJP in einer Wahl von 1996 die Mehrheit verfehlte, wird in das Geschichtsbuch eingebracht (dessen Ende nominell 1950 ist) und mit "leider" qualifiziert. Auch zum Historikerstreit hat man im BJP-Indien eine dezidierte Meinung: Faschismus und Nationalsozialismus seien "eine Art Pendant zur Diktatur des Proletariats, die Stalin einrichtete".
Auf die Kritik der Opposition hin sieht der Minister für Entwicklung von Humanressourcen Murli Manohar Joshi darin nur typografische oder Korrekturlesefehler. Aber die Lehrbücher sind nicht das einzige Ärgernis für Kai Friese. Er kommt auch auf Pläne zu sprechen, gemäß denen nicht nur der IQ begabter Schüler bestimmt werden soll, sondern auch ihr SQ: Spiritueller Quotient. Klingt ziemlich abgehoben, und scheint es auch zu sein. Esoteriker, Managertrainer und dergleichen scheinen schon länger Spaß am SQ zu haben, wie eine kurze Google-Suche zeigt. Ob dies allerdings ein sinnvoller Mechanismus zur Auslese der besten Schüler ist, darf mehr als bezweifelt werden. Genaue Pläne hat man in den indischen Schulbehörden noch nicht, aber "ein geeigneter Mechanismus für die Auffindung der Talentierten und Begabten muss ausgearbeitet werden". Ob nicht-hinduistische Schüler wohl spirituell mit ihren Kollegen mithalten können? Und werden dann die spirituellen Mensaner später solch spirituelle Schulbücher vorlegen wie die derzeitigen Entwürfe?
Der Bundesstaat Bihar hat angekündigt, die NCERT-Schulbücher nicht einzuführen. Andere nicht-BJP-regierte Bundesstaaten könnten folgen. BJP-Mitglieder haben sich schon erkundigt, welche Maßnahmen die Regierung zu ergreifen gedenkt, um die Verwendung der neuen Bücher landesweit durchzusetzen.