Hochrangige türkische Nato-Offiziere warnen vor einer islamisierten Armee der Türkei

Bild: Türkischer Armeeangehöriger / Chairman of the Joint Chiefs of Staff/CC BY 2.0

Den Säuberungen nach dem Putschversuch soll eine Einstellungspolitik folgen, auf welche die AKP großen Einfluss ausübt

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Hat die Nato in der Türkei bald ein Mitglied, dessen Armee-Führung mit Islamisten besetzt ist? Fünf ehemalige hochrangige türkische Nato-Offiziere weisen auf diese Gefahr hin, sollte die Entwicklung in der Türkei so weitergehen wie nach dem Putschversuch. Sie warnen die NATO und Europa, dass die Türkei zum Sicherheitsrisiko werden könnte.

Im Interview mit der Publikation vocal europe sprechen sie über Folter in den Gefängnissen und Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten der Türkei und begründen, warum sie den Putschversuch im Juli 2016 als Inszenierung von Erdogan sehen.

Die Bundesregierung scheint kein Interesse an einer demokratischen Entwicklung in der Türkei und in Syrien zu haben, denn sie belegte jene kurdischen Organisationen, die gegen den IS und für Demokratie kämpfen, mit einem Verbot ihrer Symbole bzw. Fahnen. Eine Demonstration in Berlin am Samstag, die sich gegen das Verbot kurdischer Symbole und Flaggen wandte, wurde von der Polizei brutal auseinander getrieben.

Der Putsch und die Kurdenfrage

Die fünf ranghohen türkischen Offiziere stammen aus den Land-Streitkräften, der Luftwaffe und der Marine. Sie arbeiteten in der militärischen Zentrale der Nato, SHAPE, und im Nato-Hauptquartier in Belgien. Sie gehören zu jenen Militärs, die der Aufforderung, in die Türkei zurückzukehren, nachdem sie entlassen und der Beteiligung am Putschversuch bezichtigt wurden, nicht nachkamen.

Die türkischen Armeeangehörigen gehörten traditionell zu den am besten ausgebildeten Bürgern der Türkei, das Militär sei die am besten funktionierende Institution gewesen, berichten sie. Die Säuberungsaktionen hätten der Armee schwer geschadet:

Für mich ist die türkische Armee nun ein Körper, dem einige Teile abgehackt wurden und ein paar geblieben sind - man könnte glauben, dass der Körper noch lebt, aber nein, dem ist nicht so, er ist nicht lebendig, er ist ein "dead man walking".Nach diesen Säuberungen gibt es keine "Waffenbrüder" mehr in der türkischen Armee, da keiner mehr dem anderen traut.

Ungenannter hochrangiger türkischer Nato-Offizier im Interview

Inzwischen zeichnen sich beim Putschversuch immer mehr Elemente ab, die für eine Inszenierung sprechen. Es gab im türkischen Militär eine große Unzufriedenheit mit der Politik Erdogans. Viele Militärs hatten gehofft, dass eine friedliche Lösung der Kurdenfrage das gegenseitige Töten beenden würde.

Diese Hoffnung wurde von Erdogan durch die Aufkündigung des Friedensprozesses zerstört. Die Zerstörung kurdischer Dörfer, die Ermordung von kurdischen Frauen und Kindern, die Vertreibungen führten dazu, dass es im Militär bis in die obersten Ränge rumorte.

Ich kann mich persönlich daran erinnern, dass einer von den inhaftierten und gefolterten Mitgliedern der Führungsschicht, das Armeekommando darum anflehte, wegen der zivilen Opfer damit aufzuhören Sur in Diyarbakir zu beschießen. Bedauerlicherweise kommandierten Generäle, die pro-Erdogan sind, die Operationen in Diyarbakir und Sirnak.

Ungenannter hochrangiger türkischer Nato-Offizier im Interview

Die Eliminierung liberal denkender Militärs

Auf den ersten Blick sah es tatsächlich so aus, als hätten unzufriedene Armeeangehörige geputscht. Die Aussagen der Offiziere zeigen jedoch ein anderes Bild: Demnach haben sich Erdogan und der Geheimdienst diese Unzufriedenheit zunutze gemacht, um liberal denkende Militärs zu eliminieren.

Die interviewten Offiziere sagten übereinstimmend, sie wären nicht über Putschpläne informiert gewesen. Ein Putsch wäre selbst bei den Erdogan-Kritikern im Militär nie eine Option gewesen. Sie zweifeln demnach an der Echtheit des Putschversuches. Mehr als 8.000 Armeeangehörige, davon 160 Generäle, wurden wegen angeblicher Beteiligung am Putsch aus dem Militär entlassen.

Wären sie tatsächlich aktiv involviert gewesen, so einer der Interviewten, dann wäre der Putsch erfolgreich gewesen: "Wenn die Generäle, die aus der Armee entfernt wurden - sie machen mit 160 fast die Hälfte der türkischen Generäle aus, die insgesamt 324 zählen -, bei der Planung, beim Kommando und bei der Ausführung des Coups dabei gewesen wären, sie wäre dieser erfolgreich gewesen."

Einer der interviewten Offiziere berichtet, dass er in der Putschnacht einen Kameraden in der Türkei angerufen habe um zu erfahren, was dort los sei. Dieser habe ihm gesagt, sie hätten die Order bekommen, gemeinsam mit der Polizei an einer militärischen Übung teilzunehmen. Als sie am befohlenen Einsatzort ankamen, seien allerdings Zivilisten, die sich dort versammelt hatten, auf sie losgegangen.

Der Nato-Offizier berichtet, dass sein Kamerad seit der Putschnacht verschwunden sei. Er berichtet auch von offensichtlich unter Folterungen erpressten Geständnissen inhaftierter Armeeangehöriger. Ein prominenter Fall verbreitete sich in den sozialen Medien mit Fotos des Mitglieds des Generalstabs, Levent Türkkan. Ihm wurden in der Haft beide Hände gebrochen und er wies schwere Verletzungen am Körper und am Kopf auf.

Dass es sich bei dem Putschversuch um eine Inszenierung gehandelt haben könnte, ist auch der Bundesregierung bekannt. BND-Chef Bruno Kahl sagte in einem Gespräch mit dem Spiegel

Der Putsch war wohl nur ein willkommener Vorwand. (…) Was wir als Folge des Putsches gesehen haben, hätte sich - vielleicht nicht in der gleichen Tiefe und Radikalität - auch so ereignet.

BND-Chef Bruno Kahl

Die Gefahr einer islamisierten türkischen Armee

Noch nicht verstanden wurde aber offensichtlich, welche Gefahr von einer nunmehr islamisierten türkischen Armee für Europa und die NATO ausgeht. Die Offiziere wiesen im Interview auf eine entscheidende Entwicklung hin. All jene Islamisten, die vor vielen Jahren aus dem Militär entlassen oder isoliert wurden, bekommen nun von der AKP wieder sicherheitsrelevante Positionen in der Armee. Viele dieser Leute sind jetzt für die Personalauswahl der Streitkräfte zuständig. Neuankömmlinge werden im Bewerbungsverfahren zum Beispiel gefragt, ob sie fünfmal am Tag beten.

Wenn sie ein Empfehlungsschreiben von einem AKP-Beamten haben, erhalten sie den Job, ohne überprüft zu werden. Dies wird mit Sicherheit zur Islamisierung der Armee enorm beitragen. Wenn die gegenwärtige Einstellungspraxis fortgesetzt wird, warnen die Offiziere im Interview, wird die Nato in zwei oder vier Jahren ein Nato-Mitglied mit einer Armee voller Extremisten und Salafisten haben.