Hoher Krankenstand: Drei Punkte, die gegen die Blaumacher-Theorie sprechen
Ältere Beschäftigte und Corona-Folgen können hohen Krankenstand erklären. Auf die Infektionswellen folgte nicht nur eine statistisch höhere Anfälligkeit.
Die Frage, ob Deutschland ein "Paradies für Blaumacher" sei, wie es am Montag der Spiegel formulierte, wird seit vielen Monaten diskutiert. Auch das Hamburger Magazin musste allerdings einräumen, dass "das Problem" – also der hohe Krankenstand – "international verbreitet" sei.
Auch in anderen europäischen Ländern seien die Krankenstände hoch, manchmal sogar höher. Das Erstaunliche an Deutschland sei aber der Anstieg: Mitten in der Wirtschaftskrise verzeichnen die Krankenkassen häufigere Fehlzeiten als zuvor.
Noch vor der Erkältungssaison zählte etwa die AOK in diesem Jahr bis einschließlich August 225 Krankmeldungen pro 100 erwerbstätige Versicherte – so viele wie im bisherigen Rekordjahr 2023 insgesamt.
Blaumachen in der Wirtschaftskrise – ein deutscher Volkssport?
Haben die Deutschen also weniger Angst vor dem Jobverlust und machen deshalb neuerdings sorgloser blau als andere Europäer – oder haben sie sich nur früher etwas häufiger krank zur Arbeit geschleppt?
Drei Indizien sprechen gegen die Blaumacher-These
Mindestens drei Punkte sprechen dagegen, dass Beschäftigte in Deutschland ausgerechnet in der Wirtschaftskrise den Trend zum Blaumachen für sich entdeckt haben und in der Masse ihre Erkrankung nur vortäuschen. Auch der demografische Wandel spielt dabei eine Rolle.
1. Boomer an der Belastungsgrenze: Mehr ältere Beschäftigte
Erstens nähern sich geburtenstarke Jahrgänge dem Rentenalter – 1969 oder davor geborene Menschen sind inzwischen Mitte 50 oder älter. Viele Erkrankungen werden bereits ab 50 häufiger, etwa Osteoporose, Diabetes und Herz-Kreislauf-Probleme. Diese Krankheitsrisiken steigen dann Jahr für Jahr. Menschen ab 60 gelten zudem als anfälliger für schwere Verläufe bei Infektionskrankheiten.
Die Erwerbsbeteiligung der 60- bis 64-Jährigen hat im Jahrzehnt von 2013 bis 2023 aber so stark zugenommen wie in keiner anderen Altersgruppe und ist damit von 50 auf 65 Prozent gestiegen. In dieser Gruppe gibt es bereits deutlich weniger Lebensläufe von "Nur-Hausfrauen" als in der Generation vor ihr – die Doppelbelastung der berufstätigen Mütter war immer wieder Thema sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeiten.
Wer aus der "Babyboomer-Generation" noch im Berufsleben steht, tut das in der Regel seit Jahrzehnten – teils ohne Unterbrechung, teils unterbrochen durch Arbeitslosigkeit, die meist nicht als erholsames "Sabbatical" erlebt wurde, sondern von finanziellen Problemen, Existenzangst und sozialer Stigmatisierung geprägt war. Umso mehr wollten sich viele von ihnen danach im neuen Job beweisen.
Andreas Hillert, Chefarzt an der Schön Klinik Roseneck, attestiert dieser Generation von Männern und Frauen insgesamt ein Arbeitsethos, das viele von ihnen schon Jahre vor dem regulären Rentenalter an die Belastungsgrenze getrieben hat. Die "Babyboomer" haben demnach den Begriff "Burnout" geprägt.
"Leitmotive in der Generation der Babyboomer waren unter anderem Leitsätze wie 'Nur wer etwas leistet, ist etwas wert'", sagte Hillert, der Zusammenhänge zwischen beruflichen Belastungen, gesellschaftlichem Wandel und psychischen Erkrankungen erforscht, im vergangenen Jahr der Wirtschaftswoche.
2. Corona-Folgen für Herz, Immunsystem und Krankenstand
Zweitens gibt es deutliche Hinweise auf eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit großer Bevölkerungsteile durch das Coronavirus. Eine Covid-19-Infektion erhöht statistisch gesehen das Risiko für Autoimmunerkrankungen und Herzprobleme.
Eine Analyse der Daten von rund 640.000 Krankenversicherten in Deutschland, die ein Team des Universitätsklinikums Dresden Anfang des Jahres vorstellte, hat ergeben, dass Personen, die vor einer Infektion mit dem Virus nicht an einer Autoimmunerkrankung litten, danach ein um 43 Prozent erhöhtes Risiko für eine solche Erkrankung hatten.
Bei Versicherten, bei denen bereits vorher eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert worden war, stieg das statistische Risiko für eine weitere nach Corona-Infektion um 23 Prozent.
Das Risiko für rheumatische Autoimmunerkrankungen ist laut einer Studie aus Nordostasien teilweise noch ein Jahr nach der Infektion erhöht.
Laut einer aktuellen Studie der University of Southern California und der Cleveland Clinic verdoppelt eine Covid-19-Infektion sogar das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse wie Herzinfarkt oder Schlaganfall für bis zu drei Jahre nach der Infektion. Das Forschungsteam hatte dafür Daten von mehr als 10.000 Covid-19-Patienten aus der UK Biobank ausgewertet.
Gemeldet wurden seit 2020 in Deutschland knapp 39 Millionen Corona-Infektionen, die offizielle Infektionsrate liegt damit bei 46,9 Prozent. Von einigen unerkannten oder nicht gemeldeten Infektionen ist vor allem seit dem Wegfall der Corona-Maßnahmen im April 2023 auszugehen.
3. Lehre aus der Corona-Zeit: Seltener krank zur Arbeit
Drittens während und nach den Corona-Infektionswellen der "Präsentismus" kritischer betrachtet – etwa als "Unsitte, krank zur Arbeit zu gehen". Zumindest galt dies bei Erkältungssymptomen. Doch nicht nur bei ansteckenden Infektionskrankheiten kann dieses Verhalten sowohl den Erkrankten selbst als auch Dritten schaden.
Präsentismus könne für das Unternehmen und die Betroffenen verlustreich sein, erläuterte Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkasse AOK im Frühjahr 2022 im Gespräch mit der Apotheken Umschau. Er verwies dabei auf ein erhöhtes Fehler- und Unfallrisiko sowie verminderte Produktivität.
Zudem könnten sich die Ausfallzeiten letztendlich erhöhen, wenn Beschäftigte entgegen dem ärztlichen Rat krank zur Arbeit gehen – etwa mit einer nicht auskurierten Erkältung, aus der sich dann eine Lungen- oder Herzmuskelentzündung entwickelt.
Unsicher ist nur, in welchem Ausmaß vermehrte Homeoffice-Regelungen, die die Corona-Krise überdauert haben, dazu führen, dass Beschäftigte auch in Zuständen arbeiten, die es ihnen außerhalb der eigenen vier Wände nicht ermöglichen würden.