Neue Deutsche Härte: Kampf dem Krankenstand, vergesst die Work-Life-Balance!

Die Produktivkraftentwicklung der letzten Jahrzehnte wird in diesem System nicht genutzt, um Menschen Stress zu ersparen. Symbilbild: Pixabay Licence

Die deutsche Debatte um Arbeitsmoral kann krank machen. Ganz vorne dabei: Privatjet-Besitzer und Ex-Ministerinnen. Die Mehrheit denkt anders. Ein Kommentar.

Karl May hat bekanntlich Bücher geschrieben, die in den USA spielten, ohne dort gewesen zu sein. Pubertierende Knaben reden oft und gern über Sex, den sie noch nie hatten – und der Privatjet-Besitzer Friedrich Merz spricht gern über Arbeit und Arbeitsmoral im Niedriglohnbereich.

"Wir reden über die 1,7 Millionen arbeitsfähigen Menschen in Deutschland, die arbeiten könnten, aber sich ausrechnen, dass es sich eigentlich gar nicht lohnt, wenn man Bürgergeld bezieht", sagte der CDU-Chef kürzlich im ARD-Morgenmagazin.

Der Unterschied zwischen Niedriglöhnen und Bürgergeld-Regelsatz plus Wohnkostenerstattung sei zu gering, meint er. Deutlich höhere Mindestlöhne will er aber nicht. Wo kämen wir denn da hin?

Hoher Krankenstand: Arbeitsunlust oder Burnout-Gefahr?

Doch nicht nur, wer Lohnersatzleistungen bezieht, wird in der politisch-medialen Debatte über Arbeit und Arbeitsmoral zur Zielscheibe: Auch der hohe Krankenstand unter den Beschäftigten wird als Verweichlichung und überzogener Selfcare-Kult problematisiert.

"Diese hingebungsvoll zelebrierte Achtsamkeit und Selbstfürsorge wird unser Bruttosozialprodukt jedenfalls nicht mehr steigern", beschwerte sich die freie Autorin und einstige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) diese Woche in einem Meinungsbeitrag für die Tageszeitung Die Welt. "Im Zweifel krankschreiben? Das ist eine Gefahr für unseren Wohlstand", so ihr zentraler Befund.

Auch die Spiegel-Kolumnistin Ursula Weidenfeld hat vor wenigen Tagen ihre Meinung zum Thema Krankenstand kundgetan und beweist, dass "Neue Deutsche Härte" nicht nur eine Musikrichtung ist. Ihre Überschrift: "Ranklotzen, bitte!"

Arbeitskult im Spätkapitalismus: War da was mit Freiheit?

Solche Sätze im Archiv einer DDR-Parteizeitung wären ein Fest für die Totalitarismusforschung: "Ranklotzen, bitte! Diese hingebungsvoll zelebrierte Achtsamkeit und Selbstfürsorge wird unsere sozialistische Volkswirtschaft jedenfalls nicht voranbringen!"

Da kämen sofort Assoziationen wie Unfreiheit, Stalinismus und Gulag-Mentalität auf – gerade bei einer strammen Antikommunistin wie Kristina Schröder. Aber bei "unserem Wohlstand" ist das natürlich etwas ganz anderes.

Schuldzuweisung an Kranke bei Dauerstress in der Arbeitswelt

Im Durchschnitt 22,6 Tage lang fehlten berufstätige Mitglieder der Betriebskrankenkassen 2022 wegen Krankschreibungen am Arbeitsplatz; zwei Wochen mehr als im Jahr 2008.

Natürlich sind steigende Krankenstände ein Grund zur Sorge – aber statt die Schuld beim verweichlichten Arbeitsvolk zu suchen, das sich mal nicht so haben soll, könnte auch nach einer realen Zunahme von Stressfaktoren und Arbeitsverdichtung gefragt werden.

Schröder unterstellt zwar kein flächendeckendes Simulantentum und räumt sogar ein, dass in Deutschland vor einigen Jahren auch das "andere Extrem" zu beobachten gewesen sei – und dass Krankheitssymptome während der Arbeit einfach mit vielen Tabletten weggedrückt wurden.

Grenzenlose Arbeitsmoral kann Spuren hinterlassen

Allerdings kommt die Ex-Ministerin nicht auf den Zusammenhang, dass Menschen, die das damals so gehandhabt haben, heute zum Teil noch im Arbeitsleben stehen, dass sie älter geworden sind – und dass dieser Raubbau an ihrer Gesundheit Spuren hinterlassen haben könnte.

Denn dann wäre es eine logische Folge, dass sie inzwischen krankheitsanfälliger sind, als sie sein müssten, wenn sie früher mit der Selbstfürsorge angefangen hätten.

Schröder argumentiert mit einer Studie der Pronova BKK, die zeige, dass 59 Prozent der Beschäftigten sich ab und zu auch bei "leichtem Unwohlsein" krankmelden, obwohl sie sich "eigentlich arbeitsfähig" fühlen – das könne gegenüber Kollegen und Kundschaft "ziemlich unsolidarisch sein".

Auskurieren oder Durcharbeiten? Ein Dilemma

Genau das hält in der Realität manche Beschäftigte selbst mit starken Krankheitsgefühlen davon ab, sich krankzumelden – bis sie eben nicht mehr können oder das Gefühl haben, sich durch krankheitsbedingte Fehler bei der Arbeit angreifbarer zu machen als durch Abwesenheit.

Denn es gibt in Deutschland nicht die Möglichkeit einer Teilkrankschreibung: Es gilt die Devise "Ganz oder gar nicht". Wer dann feststellen muss, dass ihm oder ihr das Arbeiten trotz Unwohlsein nicht gedankt wird, sondern eher Kritik einbringt, weil die Arbeitsleistung eben doch zu wünschen übrig lässt, wird sich das beim nächsten Mal gut überlegen.

Ganz oder gar nicht: Keine Teilkrankschreibung möglich

Mehr als ein Drittel aller in Deutschland Beschäftigten klagte laut einer Studie des McKinsey Health Institutes im vergangenen Jahr über körperliche und geistige Erschöpfung, 20 Prozent gaben sogar Burnout-Symptome wie Dauermüdigkeit, Konzentrationsstörungen oder eine starke Ablehnung der eigenen beruflichen Tätigkeit an. Nur 51 Prozent der Befragten fühlten sich wirklich gesund.

Das sind zwar nur Aussagen der Beschäftigten selbst – aber das gilt ebenso für die 59 Prozent, die in der Pronova-BKK-Studie zugaben, nicht immer vollständig arbeitsunfähig zu sein, wenn sie sich krankmelden. Die Ergebnisse stehen nicht im Widerspruch zueinander: Wer ständig erschöpft ist und am vollständigen Burnout vorbeikommen will, fängt eben irgendwann an, auf sich aufzupassen.

Wenn Gewerkschaften eine Arbeitszeitverkürzung fordern, um den Krankenstand zu reduzieren und bestimmte Berufe für junge Menschen attraktiver zu machen, wird vor Wohlstandsverlusten gewarnt.

Vier-Tage-Woche: Beschäftigte pro Arbeitsstunde produktiver?

Eine britische Studie von 2023 legt aber nahe, dass die Arbeitsproduktivität pro Stunde auch hier höher sein könnte, wenn Beschäftigte im Normalfall nur vier Tage pro Woche arbeiten müssten: Von 61 Unternehmen, die in Großbritannien ein halbes Jahr lang die Vier-Tage-Woche getestet haben, wollten 56 auch erst einmal dabei bleiben.

In Deutschland sorgt aber die Diskussion über eine Vier-Tage-Woche bei neoliberalen Politikern für Schnappatmung und treibt journalistische Workaholics zu flammenden Plädoyers für ihr Leistungsideal.

Zwei Welten: Das Politiker-Wir und die arbeitende Bevölkerung

Der Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) meint: "Wir müssen uns mehr anstrengen." Da ist es schon wieder, dieses Politiker-"Wir", das mit der Lebensrealität der breiten Masse nichts zu tun hat. Was soll damit eine Bäckereiverkäuferin anfangen, die mehrere Stunden am Tag stehen muss und keine Möglichkeit hat, unangenehme Aufgaben zu delegieren?

Was soll damit ein Lokführer oder Fahrdienstleiter anfangen, der nun mal ausgeruht sein muss, um keine Menschenleben zu gefährden? Was denkt eine 57-jährige Pflegekraft mit Bandscheibenvorfall und Burnout, wenn sie solche Sätze hört?

Die Mehrheit wünscht sich kürzere Arbeitszeiten

Laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung wünschen sich rund 81 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen eine Vier-Tage-Woche mit entsprechend niedrigerer Wochenarbeitszeit. Knapp 73 Prozent gaben dabei an, dies nur bei gleichbleibendem Lohn zu wollen.

Manche Journalistinnen großer bürgerlicher Medien haben da schon mehr Verständnis für das Politiker-"Wir" und warnen Beschäftigte, denen die eigene Gesundheit und ein Leben außerhalb der Firma wichtig sind, vor Wettbewerbsnachteilen. So auch Nena Brockhaus, die für Handelsblatt, Focus und Bild arbeitete, bevor sie 2023 mit Franca Lehfeldt das Buch "Alte weise Männer" veröffentlichte.

"Die Wahrheit: Es gibt auf der Welt genug andere Menschen, die hart an ihrem Erfolg arbeiten. Die klüger, besser, erfolgreicher werden und die Work-Life-Balance-Fraktion einfach abhängen", schrieb Brockhaus auf Facebook.

Von Arbeit ohne Dauerstress leben: Zuviel verlangt?

Vielleicht geht es den Betreffenden aber gar nicht um das, was sie "Erfolg" nennt: Vielleicht wollen sie keinen Platz auf der Spiegel-Bestseller-Liste oder irgendwelchen Siegertreppchen, sondern einfach nur ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne dadurch schon in jungen Jahren völlig ausgelaugt zu sein und Sozialkontakte außerhalb der Arbeit zu vernachlässigen.

Schlimm ist nur, wenn es schon als außergewöhnlicher Erfolg gelten muss, ohne Burnout-Gefahr materiell über die Runden zu kommen. Denn das sollte in einem hochentwickelten Land selbstverständlich sein.

Deshalb sollten sich Ältere nicht über "verweichlichte" Youngsters aus der Generation Z beschweren, die mehr Urlaub wollen, sondern froh sein, dass diese Generation nicht zu 100 Prozent aus Workaholics und Karrieristen besteht, die ihre Unverbrauchtheit nutzen, um andere "abzuhängen".