Hongkong: Wahlen verschoben - Peking muss absichern
Per Notstandsrecht aus der Kolonialzeit werden die Wahlen um ein Jahr verschoben. Deutschland folgt Großbritannien, Australien und den USA und kündigt das Auslieferungsabkommen auf
Die Parlamentswahl in Hongkong wurde vom 6. September dieses Jahres auf den 5. September nächsten Jahres verschoben. Dies kündigte am Freitag Hongkongs Stadtregierung an. Stunden später reagiert die Bundesregierung. Außenminister Heiko Maas teilte am Freitagabend mit, das Auslieferungsabkommen mit Hongkong zu suspendieren. "Wir haben wiederholt unsere Erwartung klargestellt, dass China seine völkerrechtlichen Verpflichtungen einhält. Hierzu gehöre auch das Recht auf freie und faire Wahlen, das den Menschen in Hongkong zustehe. "Dieses steht den Menschen in Hongkong zu."
Deutschland schließt sich damit den USA, Kanada und Großbritannien an, die zuletzt das Auslieferungsabkommen mit Hongkong aufgrund der Einführung des Nationalen Sicherheitsgesetzes aussetzten. Damit werden Kritiker Pekings im Ausland vor einer Auslieferung nach China bewahrt, die das Nationale Sicherheitsgesetz vorsieht.
Allerdings ist die Verschiebung der Parlamentswahlen selbst legitim. Die Stadtregierung beruft sich dabei auf eine fast 100 Jahre alte Notstandsverordnung aus der britischen Kolonialzeit. Diese Verordnung wurde erstmals 1922 verabschiedet, als Reaktion auf einen Lohnstreik chinesischer Seeleute, der den Hafen lahm legte. Das Gesetz ermächtigt den Regierungschef der Stadt, im "Notfall oder bei Gefahr für die Öffentlichkeit" jede Regelung auszuarbeiten, die "im öffentlichen Interesse wünschenswert" ist. Dazu gehören die Zensur von Veröffentlichungen, die Kontrolle des Transports und die Beschlagnahme von Eigentum sowie die Verhaftung, Inhaftierung und Deportation von Einzelpersonen.
Letztes Jahr wurde die Notstandsverordnung eingesetzt, um Demonstrierenden das Tragen von Gesichtsmasken zu verbieten. Die Pandemie machte dies wieder rückgängig. Kritikern zufolge nutzt die Stadtregierung die gesundheitlichen Bedenken als Vorwand, um die Wahlen zu verschieben und der pro-demokratischen Opposition das Momentum zu stehlen.
Weltweit über Hundert Wahltermine verschoben
"Die Ankündigung, die ich heute machen muss, ist die schwierigste, die ich in den letzten sieben Monaten machen musste", sagte Hongkongs Chief Executive Carrie Lam auf einer Pressekonferenz am Freitag. "Es ist eine wirklich schwere Entscheidung, die Wahl zu verschieben, aber wir wollen die öffentliche Sicherheit und Gesundheit gewährleisten und sicherstellen, dass die Wahlen offen und unparteiisch durchgeführt werden."
Die Gesundheit von Millionen von Wählern gehe vor, ein erneutes Ausbrechen drohe das öffentliche Gesundheitssystem der Stadt zu überfordern. Außerdem seien einige Bürger Hongkongs aufgrund von Reisebeschränkungen auf dem chinesischen Festland und im Ausland gestrandet, weshalb es für sie "unmöglich" sei, zum Wählen nach Hause zurückzukehren. In chinesischen Medien wird Lams Entscheidung unisono unterstützt. Diese sei ein "verantwortungsvoller Schritt, um die Gesundheit und Sicherheit der Bürger zu schützen."
Zwar sollen die Neuinfektionen seit Anfang Juli um 1.852 zugenommen haben - ein Anstieg um 140 Prozent im Vergleich zu den ersten sechs Monaten - doch insgesamt ist Hongkong bisher glimpflich davon gekommen: Seit Ausbruch der Pandemie wurden knapp 3.300 Infektionen gemeldet. In der Stadt mit 7,5 Millionen Einwohnern sind bislang 27 Menschen an Covid-19 gestorben. Knapp zehn Prozent der Bevölkerung wurden bereits getestet. Grund genug für die Stadtregierung die Wahlen zu verschieben? In Südkorea, wo es pro 100.000 Einwohner mehr Tote gab und in Singapur, wo es pro 100.000 Einwohner 22 Mal mehr Infektionen gab, wurden dieses Jahr Wahlen abgehalten. So wie in zehn weiteren Ländern.
Weltweit wurden dieses Jahr über ein Hundert Wahltermine aufgrund der Pandemie verschoben: Die gemeinnützige Organisation International Foundation for Electoral Systems (IFES) zählt derzeit 63 Länder, die zum Wohle der öffentlichen Gesundheit Kommunal-, Landes-, Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen verschoben haben, insgesamt 109 Wahltermine, ein großer Teil davon lagen im März, April und Mai, in der Zeit der Hochphase der Pandemie. Hongkong kommt nun dazu.
Opposition hoffte auf die diesjährigen Wahlen
Pro-demokratische Oppositionelle vermuten, dass es der Stadtregierung weniger um die öffentliche Gesundheit geht als um die Einschränkung pro-demokratischer Kräfte. Ein deutliches Zeichen hierfür war der am Donnerstag verkündete Ausschluss von zwölf Kandidaten der pro-demokratischen Bewegung von den Parlamentswahlen. Die Aktivisten hatten bis zuletzt gehofft, von der gegenwärtigen Stimmung in Hongkong profitieren zu können. Nicht ohne Grund: die Vorwahl zur Bestimmung der Kandidaten der Opposition Mitte Juli dieses Jahres erzielte eine Rekordbeteiligung von mehr als 600.000 Stimmabgaben.
Die Aussicht auf eine Mehrheit im Parlament war außerdem dieses Jahr groß wie nie zuvor. Bei der Wahl zum Legislativrat können die Hongkonger Bürgerinnen und Bürger nur über die Vergabe der Hälfte der 70 Sitze abstimmen. 30 weitere Sitze werden von meist pro-chinesischen Vertretern von Berufsverbänden besetzt. Die Besetzung von weiteren fünf Sitzen obliegt den Bezirksräten. Diese sind seit den Bezirkswahlen mehrheitlich pro-demokratisch besetzt sind. Die pro-demokratische Opposition gewann damals 344 der 452 Sitze in den Bezirksräten, während das pro-chinesische Lager die Mehrheit in 17 der 18 Bezirke einbüßte.
In einem Jahr könnte die Lage in Hongkong dagegen ganz anders aussehen. Einem Leitartikel der pro-chinesischen Zeitung The Standard zufolge besteht für das pekingtreue Lager die Hoffnung, dass innerhalb von 12 Monaten genügend Menschen, die für die Opposition stimmen würden, nach Großbritannien ausgewandert sind.
Doch es gibt noch rechtliche Unklarheiten. Die Wahlen müssen laut Basic Law innerhalb von 14 Tagen nach dem ursprünglichen Termin stattfinden. Ohne Entscheidung hat die Legislative kein Recht über die laufende Legislaturperiode hinaus zu regieren. Chief Executive Lam gab daher bekannt, dass nun Chinas oberstes Gesetzgebungsorgan einspringen müsse, um über die Lösung aller rechtlichen Fragen zu entscheiden, die Stadt vor einer Verfassungskrise zu bewahren. Die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua berichtete am Mittwoch, dass Chinas oberstes Gesetzgebungsorgan, der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses (NPCSC), vom 8. bis 11. August in Peking erneut zusammenkommen werde, um eine Reihe von Gesetzen zu diskutieren. Bisher steht noch kein Punkt bezüglich Hongkong auf der Tagesordnung.