Hongkong im Ausnahmezustand
Hongkongs Hoffnung auf Freiheit löst sich in Rauch auf
Knapp eine Million Bürger demonstrieren friedlich in den Straßen Hongkongs gegen das Auslieferungsgesetz der Stadtregierung. Keine Scherben eingeworfener Fenster, keine Nebelschwaden aus Tränengas, keine umherfliegenden Steine, keine Schüsse. Solch ein Bild gab es im Hongkong der letzten vier Monaten nicht mehr. Die Stadt scheint stattdessen unterzugehen in einer Gewaltspirale. Straßenschlachten im Downtown, wo sich radikale Demonstranten mit der Polizei brutale Straßenkämpfe abliefern, werden schon als "war zones" bezeichnet. Die städtische Metro, das wichtigste Transportmittel der Sieben-Millionen-Stadt, ist vandalisiert. Sie steht still, und steht damit auch sinnbildlich für eine Protestbewegung, die ihre Ziele aus den Augen zu verlieren droht.
Zwar erfüllte die Stadtregierung Anfang September eine der fünf Forderungen der Demonstranten und strich die Einführung des Auslieferungsgesetzes von der politischen Agenda. Doch für viele kam dieses Zugeständnis durch Chief Executive Carrie Lam zu spät, nach monatelangen Protesten empfanden es viele als zu wenig. Ihr Versäumnis rechtzeitig zu reagieren als auch ihr Schweigen über die eskalierende Polizeigewalt, die Diffamierung durch Peking und Staatsmedien, ließen die Proteste gegen das Auslieferungsgesetz zu einer Freiheitsbewegung transformieren. Daher fordern Hongkonger weiterhin den Rücktritt der Regierung, eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt, die Freilassung von inhaftierten Demonstranten, und freie Wahlen (universal suffrage).
Das Versprechen freier Wahlen
Insbesondere der letzte Punkt ist delikat. Verankert in Artikel 45 des Hongkonger Grundgesetzes wird der Stadt explizit in Aussicht gestellt, den Posten des Chief Executive durch freie Wahlen besetzen zu dürfen. Der Gesetzestext lautet: "Die Methode zur Wahl des Chief Executive soll im Lichte der aktuellen Situation in der Sonderverwaltungszone und in Übereinstimmung mit einem graduellen und ordnungsgemäßen Fortschritt konkretisiert werden. Das Endziel ist die Auswahl des Chief Executive durch allgemeine und gleiche Wahlen, nach seiner Nominierung durch ein möglichst repräsentatives Nominierungskomitee im Einklang mit demokratischen Verfahrensweisen."
Doch die "aktuelle Situation" lässt eine solche Entwicklung in weite Ferne rücken. Während in Peking am ersten Oktober der 70. Gründungstag der Volksrepublik mit viel Pomp gefeiert wurde, setzte die Polizei in Hongkong bei der bisher größten Eruption der Gewalt zum ersten Mal scharfe Munition ein. Aus kürzester Distanz schoss ein Polizist auf einen 18-jährigen Demonstranten. Drei Tage später wurde ein 14-Jähriger am Bein getroffen. Dies heizte die Stimmung unter den Demonstranten weiter ein. Viele schlagen nun radikalere Töne an, und nicht wenige dulden keine Zweifler unter sich. Die Frage, was Minderjährige inmitten der Ausschreitungen zu suchen haben, bleibt unbeantwortet. Moderate Stimmen verstummen. Die Radikalisierung der Freiheitsbewegung scheint sie von ihrem Ziel zu entfernen.
Tägliche Gewalteskalationen
Insgesamt setzte die Polizei bisher rund 4500 Kanister mit Tränengas ein und feuerte knapp 2000 Gummigeschosse. Radikale Demonstranten entgegnen mit Steinen und mittlerweile auch mit Molotowcocktails und Benzinbomben. Über 2000 Demonstranten wurden bereits verhaftet. Vielen drohen Haftstrafen von bis zu zehn Jahren.
Um die Lage nach den Ausschreitungen am Nationalfeiertag zu beruhigen setzte Regierungschefin Lam am Samstag unter Berufung auf ein Notstandsgesetz aus der britischen Kolonialzeit ein Vermummungsverbot in Kraft. Die Maßnahme zeigte keine Wirkung. Womöglich schütte sie dadurch noch mehr Öl ins Feuer, so beende man keine Proteste, kommentiert die South China Morning Post. Zehntausende ließen sich nicht einschüchtern und demonstrierten weiter mit Atem- und Gasmasken, am Sonntag versank die Stadt im Chaos. Immer öfter zeigt sich, dass Polizei und Protestierende die Provokation wenig scheuen. Videos von als Demonstranten verkleideten Polizisten schüren die Stimmung genauso wie Radikale, die die US-Fahne schwenken oder die China-Fahne verbrennen. Journalisten werden von Polizisten verprügelt oder von brennenden Molotowcocktails getroffen. Ein Ende ist nicht in Sicht.
Die Protestbewegung bzw. Freiheitsbewegung scheint nun alles auf eine Karte zu setzen, eine "Alles oder nichts"-Mentalität bricht sich Bahn. Längst heißt der Wahlspruch nicht mehr "Fünf Forderungen und keine weniger!" sondern "Befreit Hongkong, die Revolution unserer Zeit!". Auf Graffiti in den U-Bahn-Stationen ist zu lesen: "If we burn, you burn with us." Oder: "We'd rather die in the fight than slowly suffocate to death after we lose the fight." Was als friedliche Demonstration begann mündet nun in blinde Wut und dem Willen alles zu opfern. An der zum Alltag gewordenen Polizeibrutalität entzündet sich noch mehr Gewalt. Die Lage ist nun so brenzlig, dass Lam einen Einsatz der Volksbefreiungsarmee nicht ausschließt. Hardliner in Peking würden diese Option begrüßen. Doch Xi Jinping wartet ab.
Wirtschaftlicher Druck
Währenddessen versucht die chinesische Führung Hongkong vor internationaler Solidarität zu isolieren. Solidaritätsbekundungen mit den Protesten resultieren in sofortigen Gegenmaßnahmen. Der Geschäftsführer des in China sehr beliebten NBA-Teams Houston Rockets twitterte vor wenigen Tagen "Kämpft für die Freiheit, unterstützt Hongkong!" und spürte prompt Pekings Druck: Mehrere chinesische Sponsoren zogen ihre Verträge mit dem Team zurück. Der Basketballverband NBA gab klein bei und missbilligte den Tweet. Milliarden von Dollars an Übertragungsrechten stehen schließlich auf dem Spiel. Auch die Computerspielindustrie fürchtet sich um die Milliarden aus dem größten Absatzmarkt China und reagiert in vorauseilendem Gehorsam. Hersteller Activision Blizzard sperrte einen Hongkonger Pro-Gamer, nachdem dieser während eines Livestreams seine Unterstützung für die Protestierenden in Hongkong kund getan hatte.
Auch Apple steht unter Beschuss. Das Unternehmen wurde von chinesischen Medien verdächtigt die Demonstranten in Hongkong zu unterstützen. Daraufhin löschte Apple die App HKmap.live, welche die Bewegungen der Polizei verfolgt. Auch die iPhone-Funktion Airdrop steht in der Kritik. Sie ermöglicht die P2P-Übertragung von Nachrichten von einem iPhone zum anderen, ohne dafür das Internet zu benutzen. Sender und Empfänger bleiben dabei unter dem Radar der Überwachung. Aktivisten versenden so Marschrouten und Protesttermine, warnen vor anrückender Polizei. Apple äusserte sich bisher nicht über eine mögliche Sperrung dieser iPhone-Funktion, doch vermutlich wird Apple auch wegen des Handelsstreits und des einbrechenden Absatzes auf dem chinesischen Smartphone-Markt Schadensbegrenzung betreiben.
Derweil schweigt jener Teil der Hongkonger Stadtgesellschaft, die das Auslieferungsgesetz stärker zu befürchten hatten als der Normalbürger: Immobilien-Mogule, Geschäftsleute und Konsorten. Sie profitierten am meisten von der Regelung "Ein Land, zwei Systeme". Auch trugen sie durch Immobilienspekulation viele Mieter in die Bredouille, schließlich stiegen die Mieten in den letzten fünf Jahren um 48%. Sie sind die heimlichen Nutznießer der Proteste, ohne sich für sie einzusetzen. Nicht zuletzt fordern daher die Demonstranten freie Wahlen, um mitzubestimmen, wer die Interessen der Bürger vertreten darf. Ihre Wut gilt daher auch denjenigen, die in ihrem Profitstreben in Kauf nehmen, dass Peking immer mehr Einfluss im Legislativrat Hongkongs gewinnt, welcher die Stadtregierung besetzt. Pekingtreue, das gilt nicht nur für Hongkonger Unternehmen, wird mit guten Geschäften belohnt.
Offen bleibt, inwieweit der andauernde Handelsstreit Hongkongs Zukunft beeinflussen wird.