Hunger in Amerika
Bilder wie aus einem Entwicklungsland: Warteschlangen vor Essenstafeln und eine Regierungspolitik, der Vetternwirtschaft vorgeworfen wird
Der Mythos vom reichen Amerika ist von gestern, ganz verweht ist das dazu gehörige Versprechen anscheinend aber nicht. Wie sonst ist zu erklären, dass man sich trotz allem unweigerlich über Bilder langer Autoschlangen wundert, die im Stau stehen, um an Nahrungsausgaben "for feeding hungry neighbors" zu kommen?
Es gibt noch mehr Bilder von Warteschlagen an Essensausgaben, aus Massachusetts, Washington, Florida, Minnesota, New York, Pennsylvania, Utah, Maryland und auch aus Kalifornien. Freilich ist bei Fotos die Frage des Blickwinkels wichtig und politisch.
Doch gibt es zum anfangs erwähnten Bild der langen Autoschlange vor Colchester im Bundesstaat Vermont eine aktuelle Aussage von Bernie Sanders, der neulich noch Präsidentschaftskandidat war und den Bundesstaat seit 2007 im Senat vertritt. Er geht dabei auf das Hungerproblem ein und zieht ein größeres Feld auf als der Blick des Fotografen:
"Hunger ist ein wachsendes Krisenproblem im ganzen Land und Vermont bildet da keine Ausnahme."
Bevor die Pandemie die USA getroffen habe, so Sanders, zählte man 3,5 Prozent der Amerikaner als arbeitslos und 37 Millionen mussten darum kämpfen, Essen auf den Tisch zu bringen. Seit April dieses Jahres ist die Arbeitslosigkeitsrate auf 14,7 gestiegen (Corona-Krise: US-Arbeitsmarkt im freien Fall und:
"So viele können sich jetzt kein Essen leisten, dass 98 Prozent der foodbanks (oft übersetzt mit "Tafeln") einen Anstieg der Nachfrage beobachten."
Für Vermont hat Sanders etwas präzisere Zahlen. Im April sollen 25 Prozent der Befragten bei einer Umfrage angegeben haben, dass sie unter "Ernährungsunsicherheit" leiden, das bedeute einen Zuwachs von 33 Prozent gegenüber den Zahlen vor der Coronakrise, lässt Sanders verstehen.
"Ernährungsunsicherheit"
Das englische Fachwort lautet "Food Insecurity" und wird vom US-Agrarministerium in verschiedene Kategorien unterteilt. Als Kennzeichen wird der "Mangel an dauerhaftem Zugang zu ausreichender Nahrung für ein aktives, gesundes Leben" genannt. So zu lesen auf der Webseite von "Feeding America", einem Netzwerk von über 200 Tafeln.
Dort gibt es Szenario-Kalküle zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit, Armut und Ernährungsunsicherheit (etwa: "Wenn die Arbeitslosigkeit um 7,6 Prozentpunkte steigt und die Armut um 4,8 Prozentpunkte, dann leiden 17,1 Millionen Menschen mehr an Ernährungsunsicherheit"), aber keine Zahlen zum aktuellen Stand in den USA.
Die letzten abgesicherten Überblickszahlen, die Feeding America zum "Hunger in America" veröffentlicht, stammen aus einem Bericht des US-Agrarministeriums von 2019. Demnach kämpften 37 Millionen US-Amerikaner im Jahr 2018 "mit dem Hunger". Bei 14,3 Millionen Haushalten wurde "Ernährungsunsicherheit" berichtet: "Mehr als 11 Millionen Kinder leben in ernährungsunsicheren Haushalten."
"Zig-Millionen, die sich kein Essen kaufen können"
Zum Notprogramm der US-Regierung - Pandemic-EBT - eingerichtet, um das Schulessen zu kompensieren, dass durch die Schließungen infolge der Pandemie ausfällt, war aktuell die Rede von 30 Millionen Kindern, denen geholfen werden soll. Erreicht hat die Hilfe bislang nur 4,4 Millionen, wie die New York Times am Dienstag berichtete.
Es gibt Befürchtungen, dass die Zahl der Hungernden durch die rasant gestiegene Arbeitslosigkeit in der Corona-Krise eine historische Größenordnung erreicht, doch sind die Experten vorsichtig mit der Nennung genauer Zahlen. Sie sprechen wie etwa gegenüber CBS-News von "Zig-Millionen (tens of Millions), die sich kein Essen kaufen können, weil sie kein Geld haben". Die Leute, die sich um Essenmarken bewerben werden, werden wie Durchschnittsamerikaner aussehen, wird dort eine Harvard-Professorin für Gesundheitspolitik zitiert.
Kürzungspläne der Regierung bei "Essensgutscheinen"
Das ist insofern eine bemerkenswerte Aussage, da sie zum Hintergrund die Bemühungen der US-Regierung hat, die Ausgabe von Essensberechtigungsscheinen ("foodstamps") zu begrenzen. Die Absicht verficht die Regierung in Washington schon länger. Ihr Ziel ist es, das Ergänzungsprogramm für Ernährungshilfe (Supplemental Nutrition Assistance Program, SNAP) für Erwachsene ohne Kinder an strengere Bedingungen zu knüpfen und damit zu kürzen.
Ein Gericht hat dem angesichts der Pandemie kürzlich einen Riegel vorgeschoben, wie CBS berichtet. Das Landwirtschaftsministerium legte Widerspruch ein. Es hält am Kürzungsprogramm der Regierung fest. Eine Umfrage im November letzten Jahres sah dagegen eine Mehrheit für die Erweiterung des Foodstamp-Programms.
Damals, als das Kürzungsvorhaben schon im Schwange war, schätzten Kritiker, dass die rigideren Regelungen 700.000 Arbeitslose vom Erhalt der Essensgutscheine ausschließen würde. In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation würde es sehr viel mehr treffen, sollte die Regierung mit ihren SNAP-Reformplänen durchkommen.
"Win-win-Situation"
Interessant ist dazu zweierlei. Einmal, dass die US-Farmer durch die Krise einem Überschuss an Nahrungsmitteln gegenüberstanden - in der New York Times anschaulich so geschildert: "Während Menschen hungern, wurde Milch in Feldern weggegossen, Früchte und Gemüse wurden nicht geerntet und verrotten (…) Farmer töteten Ferkel, weil sie keinen Platz mehr für sie hatten." (vgl. Marode kapitalistische Misswirtschaft)
Thema des NYT-(Meinungs-)Artikels ist das Ernährungshilfeprogramm Coronavirus Food Assistance Program (CFAP), das das US-Landwirtschaftsministerium aufstellte, um eine Brücke zwischen der Überproduktion bei den Farmern und dem Hunger in der Bevölkerung zu schlagen - eigentlich eine sogenannte "win-win-Situation". Nur funktioniert das nicht, wie die Autoren, ein Farmbesitzer, ein Nachrichtenjournalist mit Iowa-Ortskenntnissen und ein früherer Kongressabgeordneter darlegen.
Sie sind der Auffassung, dass der Versuch, das funktionierende und ausbaufähige System der Hilfe durch Essensmarken (SNAP) durch das CFAP zu ergänzen, um an der Streichungspolitik festzuhalten, aus "ideologischen Gründen" erfolgt und nicht aus Gründen der Effizienz. Food Banks - Tafeln - reichen nicht, so verdienstvoll deren Engagement sei, sie haben nicht Kapazität und den Organisationsgrad, um den vielen Bedürftigen im ganzen Land zu helfen, lautet die Kritik.
Chaos
Der zweite bemerkenswerte Punkt an der "Austeritätsreform" des Foodstamps-Programms durch die US-Regierung ist, dass Unternehmen, die beim Programm "Farmers to Families Food Box Program" mit von der Partei sind, laut einem aktuellen Bericht der Financial Times organisatorisch offenbar derart überfordert sind, dass sich Bundesstaaten wie New York Connecticut, Rhode Island, Massachusetts, Vermont, New Hampshire and Maine deutlich benachteiligt fühlen, da bei ihnen nur 5 Prozent der Gesamthilfen ankommen.
Politische Fairness und Hochzeitsplaner
Laut Bericht der Finanzzeitung wird Kritik an der politischen Fairness laut, da die genannten Staaten auffallend solche sind, die 2016 nicht für den gegenwärtigen US-Präsidenten gestimmt haben.
Erhärtet werden die Vorwürfe noch dadurch, dass die Nahrungsverteilung nicht gut funktioniert ("It’s just chaos"). Als Grund wird angeführt, dass einige Unternehmen, die nun Vertragspartner des Landwirtschaftsministeriums sind, als Branchenneulinge auf diesem Gelände gar nicht bewandert sind, sondern lediglich Geschäftserfahrungen ("past commercial experience") haben, zum Beispiel als Hochzeitsplaner.
Sachte angedeutet wird, dass sie mit der Tochter der Präsidentenfamilie gute Kontakte haben.