"Hungerschlangen vermeiden"

Seite 2: Positive Momente, die die Krise freisetzt

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Das sind positive Momente, die die Krise freisetzt und Menschen zum starken solidarischen Handeln bringt, da auf die Institutionen keinen Verlass ist. Im Raval, wo Menschen aus vielen Ländern und Kulturen leben, findet sich auch die Stiftung Surt. Seit 1993 setzt sie sich für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von Frauen ein, um die Diskriminierung zu beseitigen. Betrieben wird vor allem das "Empowerment von Frauen", um sie zu persönlich und ökonomisch über Kurse und Initiativen zu stärken, erklärt Angels Pujol.

Doch derzeit bezieht die Stiftung wegen der steigenden Energiearmut in diesem Bereich auch Männer ein. Aber vor allem Frauen sollen Perspektiven aufzeigt werden, um sich Selbstständig zu machen oder um ihre Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu fördern. Denn letztlich geht es darum, ihre Eigenständigkeit zu fördern. Alleinstehende Frauen mit Kindern sind in Spanien besonders armutsgefährdet, schlechter war auch vor der neuen Krise die Lage nur in der EU nur in Litauen und Malta.

Die Corona-Krise geht auch an Surt nicht vorbei. Viele Frauen, die hier betreut werden, kamen im Lockdown in existenzielle Nöte: "Wir mussten im März eine Lebensmittel-Nothilfe schaffen, weil Kurs-Teilnehmerinnen und ihre Familien plötzlich oft nicht mehr genug zum Essen hatten", erklärt Pujol, die die Surt-Lebensmittelhilfe koordiniert.

Die "Nahrungsmittelbank"

Insgesamt habe man 195 Frauen, insgesamt 550 Personen, unterstützt, "Das waren nur Surt-Frauen, niemand von außen", zeigt sie auf, wie hart die Krise eingeschlagen hat. Die Lage habe sich etwas verbessert, da die überlasteten Behörden nun meist Kurzarbeitergeld auszahlen, einigen Frauen auch Sozialgeld zugestanden worden sei.

Ana Moreno von Raval Rebel verhandelt während Protest gegen Zwangsräumung im Hintergrund Juanita. Foto: Ralf Streck

Zudem könne nun in Hotels, Cafés und Kneipen wieder gearbeitet werden. "Die Frauen verzichten dann sofort auf die Hilfe, damit sie eine noch bedürftigere Person erhalten kann." Mit Zuwendungen der "Nahrungsmittelbank" werden von Surt aber noch immer 460 Personen unterstützt. Die Begünstigten würden zu verschiedensten Zeiten bestellt. Es sollen "Hungerschlangen" vermieden werden, wie sie sich zum Teil vor Verteilungsstellen der Caritas im ganzen Land bilden.

Die Coronakrise hat die steigende Armut in Spanien aber nur weiter zugespitzt, denn sie ist längst chronisch. Kürzlich teilte die europäische Statistikbehörde Eurostat mit, dass in Spanien selbst während einer Wachstumsphase bis Ende 2018 schon 26,1 % der Bevölkerung arm oder von Armut bedroht waren. Katalonien liegt hier sogar mit 18,9% noch deutlich unter dem Durchschnitt.

Die steigende Armut auch damit zu tun, dass neun von zehn Arbeitsverträgen nur noch befristet geschlossen werden, oft ungewollt nur in Teilzeit. Die Bezahlung ist schlecht ist, doch die Ausgaben - vor allem Mieten - sind massiv gestiegen. Deshalb waren 2018 schon 21,5 Prozent der Bevölkerung von einkommensbedingter Armut bedroht, also Armut trotz Arbeit. Nur in einigen Ländern Osteuropas, allen voran Rumänien (23,5 Prozent), war die Lage diesbezüglich noch schlechter.

Über die Ramblas hinweg führt der Weg mit Raval Rebel ins Sozialzentrum des Gòtic "La Negreta". Hier, wo sich die Rebellinnen treffen, wird ein etwas anderen Ansatz als in der Stiftung verfolgt. Benannt ist das Zentrum nach Josepa Vilaret, die "Die Schwarze" genannt wurde und vor 231 Jahren einen Brotaufstand anführte.

Schlafen auf der Prachtpromenade Ramblas. Foto: Ralf Streck

Das Wirken von La Negreta ist hier weiter Programm. Zwar werden auch hier Nahrungsmittel verteilt, aber sie gehen an alle Bedürftigen, die sich einbringen wollen. Hier wird auf Hilfe zur Selbsthilfe gesetzt. Die Betroffenen werden in die Organisation eingebunden, berichtet die junge Griechin Danai. Sie greift den - zumeist Frauen - bei der Verteilung "nur unter die Arme".

Es soll "Selbstorganisation" gefördert werden, zumal ehrenamtliche Aktivisten in der ersten Coronawelle schnell an ihre Grenzen stießen. "Wir begleiten die Leute nur, die mit Einkaufswagen am Samstag vor Supermärkten im Stadtteil die Menschen um Nahrungsmittelspenden bitten". Frischware käme als Spende zu einem sehr günstigen Preis von Bauern. Die Lebensmittel werden hier jeden Donnerstag verteilt.

Ungewöhnliche Lösungen

Zu solidarischen und ungewöhnlichen Lösungen greifen auch Selbstständige wie Nil Roca. "Da hier niemand Kohle hat, haben wir den Tauschhandel eingeführt", erklärt der junge Mann. In einer Vereinigung, die ein Netz in ganz Katalonien gebildet hat, beteiligen sich nun mehr als 250 Selbstständige.

Von Zeit zu Zeit gibt es Versammlungen von Vertretern der verschiedenen Lokalgruppen, "dann tauscht man Wein gegen Fleisch, Honig, Käse, Gemüse oder auch Werkzeuge, da auch Schmiede dabei sind". Zur Selbstversorgung hat er neben seinem noch improvisierten Weinkeller auch einen Gemüsegarten angelegt und Hühner angeschafft.

Roca stammt allerdings ebenfalls aus der Altstadt Barcelonas, doch er ist inzwischen Weinbauer in Girona. Da er seinen beliebten ökologisch erzeugten "Follaraïms" vor allem an Restaurants verkauft, brach sein Umsatz mit dem Lockdown im Frühjahr fast komplett ein. Im Alarmzustand erhielt er, wie andere Selbstständige auch, eine staatliche Unterstützung von 660 Euro im Monat und musste den Sozialversicherungsbeitrag von 300 Euro im Monat nicht bezahlen. Er musste dabei aber nicht zu Tricks wie andere "Autonomos" greifen, denn seine Umsätze brachen real und nachvollziehbar um mehr als 75 % ein.

Die Hilfen waren mit dem Ende des Alarmzustands im Juni Geschichte, als voreilig vor dem Tourismussommer die wirtschaftliche Aktivität wieder voll hochgefahren wurde, um die Saison zu retten und die Wirtschaft anzukurbeln. Und nun trifft es vor allem Kleinbetriebe heftig, die wie Bars und Kneipen zeitweise wieder schließen mussten, aber nun trotz Kurzarbeit der Beschäftigten deren Sozialversicherungsbeiträge bezahlen müssen. Zahllose kleine Unternehmen stehen vor Aus, wenn die nicht schnell Unterstützung kommt, wofür sie massiv auf die Straße gehen.

Nil Roca am Weinberg. Foto: Ralf Streck

Als Solo-Unternehmer schlägt sich Roca durch und versucht irgendwie das nötige Geld aufzutreiben, um den Sozialversicherungsbeitrag bezahlen zu können. Aus dem intensiven Austausch mit anderen ist nun die Idee entstanden, im Weinkeller auch Bier zu brauen. "Ein Freund macht das und von der Miete kann ich meinen Beitrag bezahlen." Damit hat der junge Mann ein Problem zunächst gelöst.

Seine Lage wird sich auch deshalb mittelfristig nicht verbessern, da seine Reben wegen des feuchten Frühjahrs von einem Pilz befallen waren und er durch den Mehltau einen guten Teil der Ernte eingebüßt hat. Leute wie er fallen in Spanien fast durch alle Raster, aber der ideenreiche junge Mann, der vom spanischen Staat ohnehin nichts mehr erwartet, hat viele Ideen und ist kreativ. Deshalb macht er, der einst in der Empörten-Bewegung an Platzbesetzungen teilgenommen hat, sich um seine Zukunft kaum Sorgen.