Ich, Neuron

Seite 2: Homöostatische Plastizität

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Zu welchem Verständnis der neuronalen Grundlagen des Lernens die neuen Ergebnisse führen werden, ist noch ganz offen und wird kontrovers diskutiert. Während die Einen - wie Germund Hesslow - einen großen Paradigmenwechsel voraussehen, entwerfen andere - wie Susumu Tonegawa - neue Lernmodelle unter Einbeziehung "stiller" Synapsen, die untätig bereit liegen, um rasch neue Verbindungen zwischen Nervenzellen zu knüpfen.

Recht einig ist man sich anscheinend, dass verschiedene Komponenten der Informationsspeicherung unterschieden werden müssen: die Bildung eines Gedächtnisinhalts ("Lernen"), seine dauerhafte Speicherung ("Gedächtnis") und sein Abruf können drei verschiedene Prozesse sein. Änderungen an Synapsen braucht es demnach für die Einspeicherung und den Abruf, aber vielleicht nicht für das Gedächtnis.

Synaptische Veränderungen sind also nicht die ganze Wahrheit, wenn es um Gedächtnisbildung geht. Wissenschaftler fragen sich zunehmend, was sie übersehen haben könnten, und nähern sich einer "neurozentrischen Sicht des Lernens".

Es tritt dabei eine Eigenschaft von Nervenzellen in den Fokus, die vor fast vierzig Jahren erstmals beschrieben wurde, die aber erst seit zwei Jahrzehnten Raum im kollektiven Bewusstsein der Neurowissenschaftler fordert: Der Umstand, dass Neuronen - wie alle Lebewesen - homöostatische Einheiten sind. Sie können ihre Synapsenstärken nicht beliebig hoch aufdrehen oder tief sinken lassen, weil sie bestrebt sind, ihre Aktivität um einen Sollwert zu halten. Dazu haben sie verschiedene Mittel. Sie können Verknüpfungen kappen oder suchen. Sie können alle Synapsen um denselben Faktor verändern. Oder sie können ihre Erregbarkeit ändern.

Letzteres könnte hinter den rätselhaften Engrammzellen Tonegawas stecken, die auch ohne Synpsenverstärkung noch "wissen", wofür sie stehen. Auch dann, wenn sie unter pharmakologischer Hemmung ihre Verbindungen nicht modifizieren konnten, hatten sie ihre Erregbarkeit erhöht. Dadurch hob sich dieses Sub-Netz von Nervenzellen von allen anderen ab. Sie wurden gemeinschaftlich durch die bereits bestehenden Verknüpfungen aktivierbar, ohne diese verstärken zu müssen.

Zusätzlich könnte die Erregbarkeit als Lernmechanismus auch erklären, warum natürliche Lernvorgänge oft schnell, in einem einzige Versuch vonstatten gehen, während wirksame Veränderungen der Synapsen viele Wiederholungen brauchen. Völlig unklar bleibt hingegen, wie durch veränderte Erregbarkeit mehr als eine Erinnerung kodiert werden soll.

Mein Vetter Paramecium

Angesichts der Rechenleistung von Neuronen, ihrer tausendfachen Verknüpfungen, ihrer oft weitverzweigten Gestalt, und auch des Umstands, dass sie sich nach ihrer Reifung nicht mehr vom Fleck bewegen, vergisst man leicht, dass auch Nervenzellen tierische Zellen sind. Jede von ihnen ist so etwas wie ein hochzivilisiertes Pantoffeltierchen (und sogar die haben ein ganz kleines Gedächtnis). Unter all dem Komplexitätsbrimborium steckt ein autonomes Lebewesen, ein Mini-Tier. Es verbraucht Energie, es nimmt seine Umwelt wahr und reagiert darauf, es regelt seinen optimalen Zustand. Und anscheinend kann es sogar, ganz für sich allein, einfache Gesetzmäßigkeiten seiner Umwelt lernen.

Individuen nur als Träger von Beziehungen zu sehen, als reine strukturlose Anknüpfungspunkte, ist eine Sichtweise, die in den vergangenen Jahrzehnten auch in anderen Wissensgebieten üblich war. Die Luhmannsche Systemtheorie machte aus dem Menschen genau das.

Und auch die modernen Kommunikationsmedien erschaffen ein Netz, in welchen der einzelne Knoten vorwiegend durch seine Verbindungen definiert ist. Das Muster dieser Kontakte - die sogenannten Metadaten - genügt bekanntlich, um weitreichende Schlüsse zu ziehen über die Art der Beziehung zwischen den Teilnehmern.

So faszinierend aber Netzwerke auch sein mögen: Wir sollten nicht vergessen, dass an ihren Knotenpunkten nicht bloß identische, austauschbare und passive Anseilringe sitzen, sondern aktive und autonome Individuen. Das gilt auf jeden Fall für den Menschen. Aber in kleinerem Maße eben auch für Neuronen.

Von Konrad Lehmann ist bei Springer gerade das Buch erschienen "Das schöpferische Gehirn Auf der Suche nach der Kreativität – eine Fahndung in sieben Tagen".

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