Ich, Neuron
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Die Sichtweise, dass Nervenzellen nichts als passive Träger von Verknüpfungen sind, wird zunehmend aufgegeben
Lernen in neuronalen Netzen wird gemeinhin gleichgesetzt mit Änderungen an den Verbindungen zwischen den Nervenzellen, den Synapsen. Diese Idee war ursprünglich ein Postulat von Donald Hebb (und, im Westen weniger bekannt, zeitgleich von Jerzy Konorski).
Viel später erst wurde es möglich, unmittelbar zu beobachten, wie sich Synapsenstärken während eines Lernvorgangs ändern, wie neue Rezeptormoleküle eingelagert werden, und wie sich die winzigen Dornfortsätze auf den Eingangsstrukturen der Nervenzellen dabei vermehren und in ihrer Form verändern. Dass man diese Veränderungen seit ungefähr 15 Jahren in der lebenden Großhirnrinde über Wochen hinweg verfolgen kann, gehört für mich immer noch zu den großen Wundern der Mikroskopie und Neurobiologe, Daran, dass synaptische Veränderungen beim Lernen vor sich gehen, besteht kein Zweifel. Aber bewahren sie auch die Erinnerung?
Die Frage mag überraschen. Umso mehr, als hinreichend gründlich bewiesen ist, dass Gedächtnisspeicherung in Synapsen funktioniert. Man denke etwa an die immer leistungsfähiger werdenden künstlichen neuronalen Netze. Eine klassische und sehr einfache Form solcher Netze - die McCulloch-Pitts-Netze - wird sogar gemeinhin nur als Matrix der Verbindungsstärken dargestellt. Die Neuronen sind darin nichts als Nummern für Zeilen und Spalten.
In den letzten Jahren häufen sich die Hinweise, dass diese Sicht unvollständig ist. Nervenzellen können mehr tun als Synapsen tragen und Membranpotentiale aufsummieren. Sie greifen selbst ins Geschehen ein.
Gedächtnis ohne stabile Synapsen
Sehr vieles von dem, was wir heute über die synaptischen Grundlagen des Lernens wissen, hat Eric Kandel am Nervensystem der Meeresnacktschnecke Aplysia herausgefunden. Unter anderem zeigte er, welche Synapsen wie verstärkt werden, wenn ein schmerzhafter Stromstoß ihren Kiemenrückzugsreflex vehementer ausfallen lässt.
Es hat darum eine gewisse Ironie, dass kalifornische Wissenschaftler kürzlich ausgerechnet an Aplysia Versuche machten, die Zweifel daran weckten, ob Synapsen tatsächlich der Ort der Gedächtnisspeicherung sind. Sie kultivierten dieselben Nervenzellen, an denen Kandel seine nobelpreisgekrönte Forschung gemacht hatte, in Petrischalen, und konnten sie so über Tage hinweg beobachten.
Wenn sie das biochemische Äquivalent eines Stromschlags gaben, bildeten die Sinnesneuronen mehr Verknüpfungen zu den motorischen Neuronen - das war zu erwarten. Wenn die Forscher diese Erinnerung dann aber wieder löschten, verschwanden nicht nur die neugebildeten Synapsen, sondern zu gleichen Anteilen auch solche, die vor dem Lernen schon dagewesen waren. Das Gedächtnis schien nicht an bestimmten Verbindungen zu hängen, sondern eher an der Anzahl von Verbindungen. Trotzdem konnte die Erinnerung durch einen leichteren Reiz wiederhergestellt werden, war also latent noch vorhanden geblieben. Wie, das ließ sich nicht abschließend klären. Aber dass sogenannte epigenetische Veränderungen an der Erbsubstanz eine Rolle spielen, ließ sich immerhin zeigen. Teile des Gedächtnisses werden also im Zellkern aufbewahrt, und nicht in den Synapsen.
Der umtriebige Susumu Tonegawa demonstrierte wenig später an Mäusen, dass ein Engramm, also das neuronale Substrat eines Gedächtnisinhalts, auch dann noch erhalten bleibt, wenn man synaptische Veränderungen pharmakologisch verhindert und damit eine Amnesie induziert. Tonegawa nutzte wieder das faszinierende Paradigma, diejenigen Nervenzellen, die an einem Furchtlernvorgang beteiligt waren, mit gentechnischen Tricks einen lichtempfindlichen Kanal in ihre Zellwände einbauen zu lassen (Die leuchtende Spur der Erinnerung). In unbehandelten Tieren verstärkten diese Zellen auch ihre Verbindungen. Mäuse, bei denen pharmakologisch die Eiweißsynthese blockiert wurde, konnten die Synapsen nicht verstärken und vergaßen ihre Furchterinnerung auch. Aber wenn mit blauem Licht die Engrammzellen aktiviert wurden, war die Erinnerung wieder da. Unterschwellig blieb das Engramm erhalten, obwohl es nicht in Synapsenstärken kodiert sein konnte.
Sogar das einzelne Neuron kann lernen, wie eine Arbeitsgruppe aus Lund vor drei Jahren gezeigt hat. Bei dem allseits bekannten Schulversuch zur klassischen Konditionierung, nämlich der Konditionierung des Lidschlagreflexes, lernt die Versuchsperson nicht nur, dass einem Ton ein Luftstoß folgen wird. Sie lernt auch, wann das sein wird, und schließt unwillkürlich die Augenlider kurz davor.
Bestimmte Zellen in der Rinde des Kleinhirns, die sehr photogenen Purkinjezellen, steuern dieses Verhalten: Sie sind normalerweise ständig aktiv, aber bei der Konditionierung lernen sie, nach dem bedingten Reiz (dem Ton) für genau die gelernte Zeitspanne ruhig zu bleiben.
Diese Fähigkeit ist beeindruckend und hat viel Neugier auf sich gezogen. Denn wie ein Netzwerk Zeit kodiert, ist alles andere als trivial. Bisherige Modelle erreichten es über die zeitliche Kodierung in den Eingängen der Purkinjezellen. Wenn die vorgeschalteten Nervenzellen in einer geeigneten Reihenfolge aktiv sind, könnten sie damit die Purkinjezelle entsprechend steuern.
Die Arbeitsgruppe um Germund Hesslow aus Lund aber steckte nun in einem technisch eigentlich recht einfachen Versuch ihre Reizelektroden unmittelbar in die Zuleitungsfasern zu den Purkinjezellen, umging also alle vorgeschalteten Zellen. Dann konditionierte sie die Zellen auf verschiedene Zeitintervalle, indem nur diese unmittelbaren Eingänge angeregt wurden. Und tatsächlich: Die Purkinjezellen lernten, für einen vorgegebenen Zeitraum zu verstummen. Das "Gedächtnis" dafür muss also in ihnen selbst stecken. Ein biochemischer Vorgang, dem die Arbeitsgruppe seither auf der Spur ist.
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