"Ich habe den Eindruck, dass nicht jeder EU-Kommissar weiß, was er nachmittags tun soll"

Knut Fleckenstein. Bild: Christine Rogge

Seit zehn Jahren sitzt Knut Fleckenstein für die SPD im Europäischen Parlament. Im Telepolis-Interview spricht er über die Schwächen der Gemeinschaft - und über ihre Chancen

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Herr Fleckenstein, wird es die Europäische Union in dieser Form in zehn Jahren noch geben?

Knut Fleckenstein: Ich hoffe nicht. Sie muss sehr viel besser werden.

Was sollte sich ändern?

Knut Fleckenstein: Es gibt eine Menge zu tun. Ich halte es zum Beispiel für dringend nötig, dass die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik künftig mit einer Stimme spricht. Wir müssen uns auch intensiver mit den Problemen der Bürger befassen, sodass mehr von ihnen sagen: Oh, das alles geht mich ja doch 'was an!

Braucht Europa eine neue Erzählung?

Knut Fleckenstein: Na ja, ich glaube schon, dass vieles von dem, was wir in Brüssel entscheiden, richtig ist. Trotzdem merke ich, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, ihre Alltagsthemen spielten hier lediglich eine untergeordnete Rolle. "Das ist weit weg, das hat mit meinem Leben nichts zu tun" - so in etwa.

Und was folgt daraus?

Knut Fleckenstein: Das Soziale muss wieder im Vordergrund stehen. Die Bürger haben kein Verständnis dafür, wenn Ungerechtigkeiten nur benannt, aber nicht gelöst werden.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Knut Fleckenstein: Steuern und Abgaben. Da geht es mitunter sehr unfair zu. Es ist höchste Zeit, dass alle ihren Beitrag leisten. Ich halte es nicht für vermittelbar, dass Großkonzerne sich aus der Verantwortung stehlen können. Denken Sie nur an die Digitalkonzerne, die Hunderte Millionen Euro verdienen. Da müssen wir ran.

"Bei der Digitalsteuer ist das letzte Wort noch nicht gesprochen"

Die Einführung einer Digitalsteuer ist Anfang des Jahres gescheitert; Irland, Schweden und Dänemark sprachen sich dagegen aus. Was macht Sie dennoch zuversichtlich?

Knut Fleckenstein: Glauben Sie mir, bei der Digitalsteuer ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Derzeit verfolgen wir das Ziel, auf OECD-Ebene eine Mindestbesteuerung von Unternehmen zu erreichen. Das ist alles andere als unrealistisch. Ich bin da äußerst zuversichtlich.

Aber auch in anderen Feldern werden wir Sozialdemokraten neue Schwerpunkte setzen, ich denke hier vor allem an einen europäischen Mindestlohn und bessere Chancen für junge Menschen. Wir wollen mehr finanzielle Mittel einsetzen, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das alles heißt aber nicht, wir würden Dinge vernachlässigen, die wir bisher getan haben - um Gottes willen.

Sie haben eben den fehlenden Zusammenhalt in Europa angesprochen. Müssten jetzt nicht grundlegende Reformen eingeleitet werden, um die Krise der EU zu überwinden?

Knut Fleckenstein: Wir müssen in der Tat in den nächsten zehn Jahren einen Weg finden, wie wir im Europäischen Rat zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommen. Denn wir sehen ja, dass ein, zwei Mitgliedsstaaten in der Lage sind, Lösungen, die auf dem Tisch liegen, zu blockieren. Das können wir uns in Zukunft nicht mehr erlauben. Die Bürger erwarten zu Recht, dass dringende Probleme gelöst werden. Das ständige Vertagen schadet Europa. Wir müssen handlungsfähig sein.

Wie ist es mit dem Europäischen Parlament?

Knut Fleckenstein: Es sollte endlich ein Initiativrecht bekommen. Das ist das Recht, das uns fehlt, um sagen zu können: Ja, wir sind ein richtiges Parlament.

Was antworten Sie denen, die die Abschaffung des Europäischen Rates fordern?

Knut Fleckenstein: Ich halte das für eine - um es vorsichtig zu formulieren - sehr kecke Forderung. Wir wissen doch alle, dass die Mitgliedsländer ihre Mitspracherechte nicht einfach so aus der Hand geben werden. Ich hielte das im Übrigen auch nicht für richtig.

Aber was genau spricht dagegen?

Knut Fleckenstein: Wir kommen ja in Deutschland auch nicht auf die Idee, den Bundesrat abzuschaffen, weil er gelegentlich Vorhaben blockiert. Denjenigen, die die Abschaffung des Europäischen Rates fordern, würde ich die Gegenfrage stellen, von was die Damen und Herren nachts träumen? Das ist so weit weg von jeder realistischen Entwicklung, dass man darüber nun wirklich nicht diskutieren muss. Ich halte es für wichtig, dass auch die nationalen Interessen in die Diskussion einfließen. Die können ja durchaus verschieden sein, aus den unterschiedlichsten Gründen - Geschichte, wirtschaftliche Situation, wie auch immer.

Aber?

Knut Fleckenstein: Da ich nichts schönreden will, sage ich auch: Es sollte nicht sein, dass immer der Langsamste bestimmt, wann es mal ein Schrittchen vorangeht. Diesen Schuh muss sich der Rat leider anziehen.

Die EU hat sich nicht überdehnt, aber darf Fehler nicht wiederholen

Sollte die EU angesichts der Krise ihr Ziel aufgeben, weitere Staaten aufzunehmen?

Knut Fleckenstein: Ich halte das für eine vorgeschobene Diskussion. Fakt ist: In den kommenden Jahren stehen keine Beitritte an. Frühestens in acht, neun Jahren könnten die Balkanstaaten dazukommen, immer vorausgesetzt, dass die Reformen dort ziehen. Bis dahin ist eine lange Zeit, um die EU zu reformieren.

Sie sind also nicht der Ansicht, die EU habe sich überdehnt?

Knut Fleckenstein: Nein. Ich bin jedoch der Meinung, dass die EU nach dem Beitritt einiger Länder nicht ausreichend bereit war, ihre Strukturen zu überarbeiten und anzupassen. Diesen Prozess müssen wir dringend nachholen. Ansonsten hätte der französische Präsident Recht, wenn er sagt, es ist schwierig, weitere Staaten aufzunehmen.

Ein Beispiel, das immer wieder genannt wird, sind die Beitritte von Rumänien und Bulgarien...

Knut Fleckenstein: Ich kenne diese kritischen Stimmen, ja.

Die Beitritte, so eine Kritik, hätten in vielen Ländern das Sinti-und-Roma-Problem verschärft.

Knut Fleckenstein: Ich würde es nicht auf das Sinti-und-Roma-Problem beziehen. Aber richtig ist, dass sowohl Bulgarien als auch Rumänien zu einer Zeit in die EU hineingebeten wurden, als sie die Reform-Vorgaben, beispielsweise den Kampf gegen Korruption, noch längst nicht ausreichend erfüllt hatten (beide beigetreten 2007, Anm. d. Red.). Diese Tatsache muss ich den Menschen im westlichen Balkan immer wieder erklären, wenn dort mal wieder von Doppelstandards die Rede ist. Ich sage es ganz deutlich: Wir dürfen einen solchen Fehler nicht wiederholen.

Und wenn doch?

Knut Fleckenstein: Dann wäre unsere Glaubwürdigkeit auch gegenüber unseren eigenen Mitbürgern wirklich hinüber. Wir reden immer von den Kopenhagener Kriterien, von Menschenrechten, ja von ganz vielen Dingen, die getan werden müssten. Dann ist es allerdings auch existenziell wichtig, dass gerade wir darauf bestehen. Da darf es keine Rabatte geben. Um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Bulgarien und Rumänien sind lieb gewonnene Partner in der EU, die allerdings später hätten eintreten sollen, Punkt.

Was es ein Fehler, die Türkei damals nicht aufzunehmen?

Knut Fleckenstein: Es war eine vertane Chance, ja. Aber nicht, weil die Türkei damals schon soweit gewesen wäre einzutreten, nein, sondern weil wir intensiver mit ihnen hätten arbeiten müssen. Das ist nicht geschehen, weil einige Partner - auch die CDU in Deutschland - diesen Beitritt ganz grundsätzlich nicht wollten.

Die Damen und Herren sprechen seit jeher von einer privilegierten Partnerschaft - na ja. Wir sehen, was daraus geworden ist. Insofern sind alle auch ein bisschen selbst schuld, dass man da jetzt große Probleme hat. Jetzt ist das Thema erst einmal durch. Die Türkei, die Herr Erdogan da gerade baut, ist so meilenweit entfernt von dem, was wir in der EU an gemeinsamen Werten teilen, dass es im Moment gar keinen Sinn ergäbe, irgendwelche Beitrittsgespräche zu führen. Das sah vor vielen Jahren noch anders aus. Eine traurige Entwicklung.

Reformbedarf bei Kommissaren und der intergouvernementalen Truppe

Sie sagten vorhin, bis zu möglichen Beitritten sei noch viel Zeit, um die EU zu reformieren. Herr Fleckenstein, wo sehen Sie denn noch weiteren Reformbedarf?

Knut Fleckenstein: Zum Beispiel bei der Anzahl der EU-Kommissare. Wir wollen doch nicht eines Tages mit 35 Kommissaren hier sitzen! Nein, auch das wäre weder vermittelbar noch klug. Ich habe schon heute den Eindruck, dass nicht jeder von denen weiß, was er nachmittags tun soll. Die Kritik teilen im Übrigen die meisten Parlamentarier hier in Brüssel, sie ist auch nicht neu. In den vorliegenden Verträgen ist jedenfalls vorgesehen, eine solche Diskussion zu führen.

Und woran hakt es?

Knut Fleckenstein: Es ist nicht so einfach, wie viele denken. Denn wie wollen Sie die Kommissare aufteilen? Die großen Länder kriegen immer einen Kommissar, die kleinen ab und zu mal einen? Oder müssen sich die Kleinen etwa zusammentun? Ich bin nicht sicher, ob beispielsweise Kroatien und Slowenien sich gern von demselben Kommissar vertreten lassen würden. Kurzum: Es wird darüber eine längere Diskussion geben.

Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel sagte kürzlich, das mit den Spitzenkandidaten sei von Anfang an eine schlechte Entscheidung gewesen. Und Macron sagte sehr deutlich, er fühle sich daran nicht gebunden.

Knut Fleckenstein: Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass einige es sich gerne ein bisschen leicht machen. Die Bundeskanzlerin ist ja offensichtlich auch eine Freundin intergouvernementaler Methoden. Nach dem Motto: Die Staats- und Regierungschefs setzen sich zusammen - und finden schon eine Lösung. Aber die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass genau diese Truppe Europa langsam kaputt macht, da sie sich in wichtigen Fragen gar nicht einigen kann. Deshalb darf das Europäische Parlament auch nicht zulassen, dass es nicht die entscheidende Kraft ist bei der Frage, wer in den nächsten fünf Jahren Präsident der Europäischen Kommission wird.

Wird einer der Spitzenkandidaten Kommissionpräsident?

Knut Fleckenstein: Ob es einer der Spitzenkandidaten wird, weiß ich nicht. Ich hoffe es sehr. Im Moment gehe ich davon aus, dass Frans Timmermanns die besten Chancen hat. Ich füge an: Wenn man einen Kommissionspräsidenten haben will, der nicht mit den Stimmen von Faschisten und Nationalisten gewählt wird.

Derzeit sieht es so aus, als könnten populistische und nationalistische Parteien ein Drittel oder mehr der Sitze erringen. Wie stark schränkte ein rechtspopulistisches Bündnis die Spielräume in Europa ein?

Knut Fleckenstein: Diese Allianz hat eigentlich nur ein Interesse: die wollen die Europäische Union abwickeln - und eben nicht weiterentwickeln. Ich glaube, das ist in vielerlei Hinsicht gefährlich, vor allem wirtschaftlich und sozial. Wir müssen uns klar wehren gegen deren Ansinnen. Wenn im Parlament diejenigen immer mehr werden, die finden, die Nazi-Zeit sei nur ein Vogelschiss in der Geschichte; die zudem glauben, es komme darauf an, die nationalen Interessen vor die der internationalen Gemeinschaft zu stellen; die außerdem das Asylrecht infrage stellen, um nur ein paar Beispiele zu nennen, ja dann...(überlegt)... wird es ein anderes Parlament.

Es wird schwieriger sein, Mehrheiten zu finden, wenn man ebenjene ohne die Nationalisten im Parlament finden will. Wir Sozialdemokraten werden selbstverständlich nicht mit diesen Herrschaften zusammenarbeiten. Die haben ein Menschenbild, das sich fundamental von unserem unterscheidet. Das merken wir im Parlament beinahe in jeder Sitzung.

Inwiefern?

Knut Fleckenstein: Da wird ununterbrochen versucht, die Grenze dessen, was wir Anstand nennen, zu dehnen. Ich werde deren teils absurden und unverschämten Zwischenrufe und Parolen jetzt nicht wiederholen.

Wie sehr schwächen illiberale Entwicklungen innerhalb der EU die Glaubwürdigkeit der Union in den Außenbeziehungen?

Knut Fleckenstein: Jeden Tag erneut. In jeder Diskussion mit einem Nachbarland, dem wir sagen: Ihr braucht mehr Rechtsstaatlichkeit, ihr müsst unbedingt Reformen auf den Weg bringen, ihr müsst korrupte Richter rausschmeißen, in jeder dieser Diskussion kommt der Punkt, an dem unser Gegenüber sagt: Alles schön und gut, aber wie ist das noch mal in Ungarn? Und was geschieht da gerade in Polen? Wir sehen: Diese Entwicklung ist nicht nur für die Europäische Union selbst eine Gefahr, sondern auch für alle Bemühungen, einen Ring gut regierter Nachbarn um uns herum aufzubauen. Ich bedauere das sehr.

Apropos Nachbarn, in Österreich kommt es zu vorgezogenen Neuwahlen. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom sogenannten Ibiza-Video erfuhren?

Knut Fleckenstein: Hätte Bundeskanzler Kurz doch früher mal Ole von Beust gefragt. Dann hätte er gleich gewusst: Mit dem rechten Rand ist kein Staat zu machen.

Inwiefern könnte sich die Regierungskrise in Österreich auf die bevorstehende Europawahl auswirken?

Knut Fleckenstein: Ich bin sicher, dass es sich positiv auswirkt. Rechtsradikale braucht niemand. Denen geht es um die eigene Macht, nicht um Europa.

In den aktuellen Umfragen liegt Ihre Partei bei 15-17 Prozent, das ist ein Minus von rund zehn Prozentpunkten im Vergleich zur Europawahl 2014. Was wäre für Sie am kommenden Sonntag ein Erfolg?

Knut Fleckenstein: Wenn die SPD über 18 Prozent erhält und ich auch in den kommenden Jahren für Hamburg im Europäischen Parlament arbeiten darf.

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