"Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht"
Seite 3: Mehr Tafeln, weniger Arbeitslose
- "Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht"
- Erhöhung des Kapitalismus-Anteils führt zur Senkung der Armut
- Mehr Tafeln, weniger Arbeitslose
- "Die Gefahr geht davon aus, dass sich der Staat in immer mehr Bereiche der Wirtschaft einmischt"
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Was Sie hier vorschlagen ist doch genau das, was Sprengstoff für ein soziales Gesellschaftssystem ist. Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung, wenn bis zum Exzess betrieben, führen dazu, dass der Starke noch stärker und der Schwache noch schwächer wird.
Da Sie die "Agenda-Politik" von Schröder angesprochen haben: Ich sehe nicht, dass diese Reformen denen geholfen hätten, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind. Die Reformen, die Sie vorschlagen, sind sicherlich gut für "das Kapital", aber eben nicht für die Armen in einer Gesellschaft. Alleine die Anzahl der Tafeln, die von 310 im Jahr 2002 auf 934 im Jahr 2018 gestiegen ist, sollte zu denken geben. Die Agenda-Politik hat zu schweren sozialen Verwerfungen innerhalb des Landes geführt. Und von dieser Reformpolitik wollen Sie wirklich noch mehr sehen?
Rainer Zitelmann: Also über Schröder werden wir keinen Konsens finden. Sie verweisen auf die gestiegene Zahl der Tafeln, ich auf die Halbierung der Arbeitslosenquote. Zur Zeit der Agenda-Rede von Schröder lag die Arbeitslosenquote bei 11,3 Prozent, Deutschland war der "kranke Mann Europas". Heute ist Deutschland das wirtschaftlich erfolgreichste Land Europas, die Arbeitslosenquote liegt bei 5,8 Prozent - während sie in den südeuropäischen Ländern, die vergleichbare Reformen versäumt haben, bei über 16 Prozent (Spanien), 11 Prozent (Italien) und 9 Prozent (Frankreich) liegt. Ist das sozialer?
Ich habe ja über die Reagan-Reformen gesprochen. Und dazu möchte ich Ihnen doch gerne einige Zahlen aus meinem Buch zitieren, die mit dem Vorurteil aufräumen, sie hätten die sozial Schwächsten getroffen. Das Gegenteil ist nämlich wahr! 86 Prozent der amerikanischen Haushalte, die 1980 dem ärmsten Quartil angehörten, stiegen bis 1990 in der Einkommensleiter in ein höheres Quartil auf. Es gab sogar etwas mehr Haushalte, die vom ärmsten in das reichste Quartil aufstiegen als solche, die im ärmsten Quartil verharrten.
Die Zahl derjenigen Amerikaner, die weniger als 10.000 Dollar im Jahr verdienten, sank in den 80er-Jahren um fünf Prozent, gleichzeitig erhöhte sich die Zahl derjenigen, die mehr als 50.000 Dollar verdienten, um 60 Prozent, und die Zahl derjenigen mit über 75.000 Dollar Jahresverdienst, sogar um 83 Prozent. Es gibt viele Legenden über die Reagan-Jahre, so etwa die, dass nur die ohnehin schon reichen Weißen profitiert hätten auf Kosten der ärmeren Schwarzen. Tatsächlich stiegen die realen Haushaltseinkommen der Schwarzen in den Jahren 1981 bis 1988 sogar stärker als die der Weißen.
Merken Sie etwas? Die Tafeln werden mehr und die Arbeitslosenzahl hat sich halbiert. Da läuft doch etwas Grundlegendes falsch. Mit den Zahlen ist es außerdem immer so eine Sache. Man muss sie sich genau anschauen und die Entwicklung, die die Zahlen hervorgebracht hat, im Detail analysieren. Alleine zur Arbeitslosenquote in Deutschland gibt es viel zu sagen, aber das würde den Rahmen unseres Interviews sprengen.
Jedenfalls kommt noch etwas hinzu: Mit Reformen wie denen von Schröder wurden zutiefst klassistische Ressentiments in unserer Gesellschaft etabliert. Die Armen sind faul und dumm und wollen einfach nicht arbeiten, so der Tenor, der die "Reformen" begleitet hat.
Rainer Zitelmann: Es ist doch erst einmal zu begrüßen, dass es immer mehr Tafeln gibt, weil das ein hohes Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement zeigt. Früher gab es so etwas gar nicht, und das ist doch bestimmt kein Beleg dafür, dass es nicht in der Zeit vor der Agenda 2010 Menschen gegeben hätte, die eine solche Hilfe gebraucht und in Anspruch genommen hätten.
Und wenn Sie von "classism" reden, dann lassen Sie uns auch mal von "upward classism" sprechen, also von Ressentiments gegen Reiche. Neulich, bei Veröffentlichung der Paradise Papers, schrieb Jakob Augstein auf SPIEGEL ONLINE seinen Kommentar mit der Überschrift "Zur Hölle mit den Reichen". Können Sie sich irgendeinen Kommentar vorstellen, der "Zur Hölle mit den Hartz IV-Empfängern" überschrieben ist? Glücklicherweise ist so etwas nicht vorstellbar.
Wenn Sie undifferenziert und pauschalisierend Vorurteile über Reiche verbreiten in Deutschland, dann wird das viel eher akzeptiert, als wenn Sie Vorurteile über Arme, wie Sie sie hier zitieren, verbreiten würden. Ich bin ganz generell dagegen, gesellschaftliche Gruppen mit pauschalen Urteilen zu diffamieren - und das sollte für Arme wie Reiche gelten. Ich habe auch von denen, die diese Reformen damals beschlossen haben - das waren SPD und Grüne - niemals irgendwelche Äußerungen gehört, wonach Arme pauschal als faul und dumm bezeichnet wurden. Sehr wohl höre ich jedoch immer wieder primitive Vorurteile über Reiche, die pauschal als "raffgierig" etc. diffamiert werden.