"Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht"

Rainer Zitelmann. Foto mit freundlicher Genehmigung von Rainer Zitelmann.

Ein Interview mit dem Soziologen Rainer Zitelmann, der mehr Markt und weniger Staat fordert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. So lautet der Titel eines Buches, das der Historiker und Soziologe Rainer Zitelmann gerade veröffentlicht hat (s. a. die Telepolis-Gespräche: Das Jahreseinkommen ist für diese Menschen eine ziemlich unwichtige Größe und Für mich ist neoliberal ein Ehrentitel).

Zitelmann, der auch als Immobilieninvestor tätig ist, hat sich auf eine Reise durch 5 Kontinente begeben und vertritt die Auffassung, dass mehr Kapitalismus im Kampf gegen Armut helfe. Im Interview mit Telepolis lobt der Autor die Reformen unter Ronald Reagan, Margaret Thatcher sowie die Agenda-Politik von Gerhard Schröder. Außerdem ist er der Auffassung, dass der "Antikapitalismus so etwas wie eine identitätsstiftende Religion für viele Intellektuelle" sei.

Zu Zitelmann siehe auch auf Telepolis: Warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen und "Ich bin es gewohnt, Außenseiter zu sein!"

Der Kapitalismus, er lebe hoch! So könnte man Ihr neues Buch zusammenfassen. Warum dieser Lobgesang auf den Kapitalismus?
Rainer Zitelmann: Weil ich überall das Gegenteil höre - und das eben nicht stimmt. Machen Sie doch mal eine Umfrage unter Ihren Lesern, ich schätze, dass mindestens 95% mit dem Begriff "Kapitalismus" negative Assoziationen verbinden. In meinem Buch belege ich, dass das nicht gerechtfertigt ist.
Vielleicht ist es am besten, wenn Sie unseren Lesern erstmal erklären, wie Sie den Begriff Kapitalismus erfassen.
Rainer Zitelmann: Ich führe mal eine Passage aus meinem Buch an. Dort habe ich es so erklärt: Es gibt in der modernen Zeit grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine Wirtschaft zu organisieren.
Im ersten Fall gibt es kein Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden, sondern nur Staatseigentum. In Planungsbehörden wird festgelegt, was in welcher Menge produziert wird. Im zweiten Fall ist das Privateigentum garantiert und die Unternehmer produzieren im Rahmen einer rechtlichen Ordnung jene Güter, von denen sie glauben, dass die Konsumenten sie brauchen. Die Preise geben ihnen die Informationen darüber, ob sie mit ihrer Annahme richtig lagen, also ob sie das Richtige in der richtigen Menge produziert haben.
Tatsächlich existiert in der Realität keines dieser Systeme - Kapitalismus oder Sozialismus - in Reinkultur. Selbst in sozialistischen Staaten wie der DDR oder sogar in Nordkorea gab oder gibt es neben dem Staats- auch Privateigentum und neben dem alles dominierenden Plan Elemente von Marktwirtschaft, legal oder illegal. In den kapitalistischen Ländern existiert neben dem Privat- auch Staatseigentum, und der Staat greift regulierend in die Wirtschaft ein oder verteilt durch Steuern die erzielten Erträge um, indem er den Reichen Geld wegnimmt und dies an die Mittelschicht oder die Ärmeren verteilt.
Entscheidend ist das Mischungsverhältnis, also die Frage, wie stark die Rolle des Staates ist und wie viel Freiheit dem Unternehmer eingeräumt wird. Die These meines Buches: Wird der Kapitalismus-Anteil in einer Wirtschaft erhöht, so wie das etwa in den letzten Jahrzehnten in China geschah, dann führt das in der Regel zu mehr Wachstum, und der Mehrheit der Menschen geht es damit besser.

Erhöhung des Kapitalismus-Anteils führt zur Senkung der Armut

Der Teufel liegt bei Ihren Ausführungen im Detail. Auch wenn tatsächlich der verstärkte Einsatz von kapitalistischen Elementen in Ländern wie China zur ökonomischen Verbesserung der Menschen beigetragen hat, sagt das aber erstmal noch nichts darüber aus, wie ein völlig entfesselter Kapitalismus sich später auswirken wird. Außerdem: Was heißt es, wenn Sie von einer "Mehrheit der Menschen" sprechen? Wir sehen überall auf der Welt viel Armut - letztlich auch in kapitalistischen Ländern. Hinzu kommt: Wenn ich Sie richtig verstehe, plädieren Sie eben tatsächlich für einen Kapitalismus, der sich selbst überlassen ist und Politik nur noch minimal eingreift. Damit ist der Konzentration von Reichtum und schließlich von Macht und Einfluss in den Händen weniger Akteure Tür und Tor geöffnet. Oder sehen Sie das anders?
Rainer Zitelmann:: Also ich habe nicht von einem "wild entfesselten Kapitalismus" gesprochen, sondern davon, was passiert, wenn der "Kapitalismus"-Anteil in einer Volkswirtschaft erhöht wird. China ist nur ein Beispiel. Schauen Sie sich Korea an: In den 60er-Jahren war das ein armes Land, so wie heute viele afrikanische Länder. Heute ist Nordkorea immer noch bettelarm, Südkorea dagegen gehört zu den führenden Exportnationen und den Menschen geht es sehr viel besser. Besser als früher und besser als in Nordkorea. Was ist passiert? Südkorea hat sich - anders als Nordkorea - für den kapitalistischen Weg entschieden.
Ja, Armut gibt es überall auf der Welt. Viel zu viel. Aber die Armut ist in den letzten Jahrzehnten stärker gesunken als jemals zuvor. Und das lag genau daran, dass Länder wie China und Indien den Kapitalismus-Anteil erhöht haben. Ende der 50er-Jahre sind in China bei Maos Experiment des "Großen Sprungs nach vorne" noch 45 Millionen Menschen verhungert. Heute ist China die führende Exportnation und den Menschen geht es sehr viel besser.
Und das ist kein Einzelbeispiel: Die Weltbank veröffentlicht regelmäßig Daten zur Armutsentwicklung in den Entwicklungsländern. Eine Untersuchung belegt, dass die Rate extremer Armut in den am wenigsten kapitalistischen Entwicklungsländern Ländern bei 41,5 Prozent lag, jedoch nur bei 2,7 Prozent unter den Entwicklungsländern mit dem relativ höchsten Kapitalismus-Anteil.
Aber Sie plädieren doch dafür, dass sich "der Staat" weitestgehend aus allem zurückzieht und dem Kapitalismus seinen Lauf lässt. Was ist das denn sonst als ein "entfesselter Kapitalismus". Oder habe ich Sie falsch verstanden?
Rainer Zitelmann: Für die Leser, die mein Buch nicht gelesen haben: Das ist keine polemische Streitschrift, sondern ein wirtschaftshistorisches Buch. Ich schaue mir an, was passiert ist, wenn sich der Staatseinfluss auf die Wirtschaft massiv ausgeweitet hat und was geschehen ist, wenn er reduziert wurde. Das zeige ich an praktischen Beispielen.
Nehmen Sie Schweden in den 70er- und 80er Jahren: Das war so ein System, wie es sich viele Antikapitalisten wünschen: Extrem hohe Steuern, extreme Regulierungen, hoher Staatsanteil an der Wirtschaft. Bekanntlich ist Schweden damit vor die Wand gefahren. Es ging den Schweden in dem Maße besser (ab den 90er-Jahren), wie es wieder kapitalistischer wurde.
Oder nehmen Sie Großbritannien. Ich denke, dass viele Leser bestimmt Thatcher nicht leiden können: Aber schauen Sie mal, wie schlimm die Verhältnisse in Großbritannien in den 60er- und 70er-Jahren waren, als der Steuersatz bis zu 98% betrug, weite Teile der Wirtschaft sozialisiert waren und die Macht der Gewerkschaften sehr hoch war: Das Land war der "kranke Mann Europas" mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit, durch Dauerstreiks lahmgelegt. Thatcher senkte die Steuern, privatisierte Staatsunternehmen und deregulierte - und den Menschen ging es danach besser. Das Gegenbeispiel, wo der Staatseinfluss massiv ausgeweitet wird, können Sie derzeit in Venezuela in seinen Auswirkungen sehen.
Das ist jetzt aber etwas zu einfach. Die von Ihnen angeführten Beispiele verweisen erstmal nur darauf, dass es darauf ankommt, welche staatliche Eingriffe durchgeführt werden und vor allem eben auch auf welche Weise. Wie sollte der Kapitalismus Ihrer Meinung nach denn angelegt sein?
Rainer Zitelmann: Genau darum geht es ja: Welche Rolle soll der Staat spielen, welche der Markt? Das ist doch die Kernfrage, um die es in der ganzen Diskussion geht.
Zu Ihrer Frage, wie der Kapitalismus "angelegt sein sollte": Ich habe kein Modell, keine Utopie, keine Wunschvorstellung einer perfekten Gesellschaft. Das ist ja genau das, was ich den Antikapitalisten vorwerfe: Die malen sich irgendwelche idealen Gesellschaften aus und vergleichen damit dann die Realität. Die Realität kommt dann naturgemäß immer schlecht weg. Ich vergleiche nicht irgendwelche Kopfkonstrukte mit der Realität, sondern ich vergleiche in meinem Buch Dinge, die man vergleichen kann.
Nehmen Sie Venezuela und Chile. Venezuela ist das am wenigsten kapitalistische Land in Südamerika, wo Hugo Chávez seinen "Sozialismus im 21. Jahrhundert" ausprobiert hat. Das Ergebnis: Im erdölreichsten Land der Welt hungern die Menschen, die Inflation ist so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Über eine Million Menschen haben das Land schon verlassen.
Vor fünf Jahren lobte Sahra Wagenknecht noch Chávez in höchsten Tönen und meinte, Venezuela beweise, dass ein anderes Wirtschaftssystem möglich sei. Aber genau dieses System ist wieder einmal - wie alle sozialistischen Experimente in der Geschichte - gescheitert. Chile dagegen ist eines der kapitalistischsten Länder auf der Welt. Und dort geht es den Menschen sehr, sehr viel besser.

"Kapitalistische Reformen": Steuersenkungen und Privatisierungen

In Ihrem Buch gibt es ein Kapitel mit dem Titel "Plädoyer für kapitalistische Reformen". Da äußern Sie doch gewisse Vorstellungen, wie Kapitalismus aussehen sollte bzw. was sich verändern müsste. Können Sie unseren Lesern sagen, wofür Sie plädieren?
Rainer Zitelmann: Mit "kapitalistischen Reformen" meine ich das, was man in Schweden ab Beginn der 90er-Jahre gemacht hat, ich meine Reformen, wie sie von Reagan und Thatcher in den 80er-Jahren in den USA und Großbritannien durchgeführt wurden, ich meine auch die heute so verhassten Reformen von Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010. Und nicht zuletzt meine ich Reformen, wie sie von Deng Xiaoping nach Maos Tod eingeleitet wurden.
All diese Reformen wurden nicht aus einer Laune heraus gemacht, sondern deshalb, weil die Wirtschaft in den betreffenden Ländern zuvor in einer schlimmen Lage war. Am drastischsten war das in Großbritannien in den 70er-Jahren. Lesen Sie mal "SPIEGEL"-Berichte aus der damaligen Zeit - ich habe sie ausführlich in meinem Buch zitiert.
Und mein Befund ist: Wenn die Rolle des Staates zu stark ausgeweitet wurde, wenn der Markt zu weit zurückgedrängt wurde, dann entstehen erhebliche Probleme, die nur durch kapitalistische Reformen gelöst werden können. Diese Reformen beinhalten meist Steuersenkungen und Privatisierungen. Ganz generell kann man den Geist solcher Reformen auf den Punkt bringen: Mehr Vertrauen in die spontanen Kräfte des Marktes, Misstrauen gegen einen allmächtigen Staat.
Heute mache ich mir vor allem Sorgen über die Rolle der Zentralbanken. Die EZB hat Marktmechanismen im Finanzsystem durch ihre Nullzinspolitik und durch die Anleihenkäufe weitgehend ausgehebelt. Die Ursachen der Finanzkrise wurden von der Politik weder erkannt noch angegangen.
Aus meiner Sicht sind wir noch mitten in der Finanzkrise, nur dass eben die Symptome nicht mehr sichtbar sind. Aber wer würde auf die Idee kommen, einen Heroinabhängigen für gesund zu erklären, nur weil er durch regelmäßige Gaben von Methadon keine offensichtlichen Entzugserscheinungen mehr hat? Die Anleihenkäufe und die Nullzinsen sind das Methadon im Finanzbereich, und der Markt ist weitgehend ausgehebelt. Das macht mir Sorgen.

Mehr Tafeln, weniger Arbeitslose

Was Sie hier vorschlagen ist doch genau das, was Sprengstoff für ein soziales Gesellschaftssystem ist. Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung, wenn bis zum Exzess betrieben, führen dazu, dass der Starke noch stärker und der Schwache noch schwächer wird.
Da Sie die "Agenda-Politik" von Schröder angesprochen haben: Ich sehe nicht, dass diese Reformen denen geholfen hätten, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind. Die Reformen, die Sie vorschlagen, sind sicherlich gut für "das Kapital", aber eben nicht für die Armen in einer Gesellschaft. Alleine die Anzahl der Tafeln, die von 310 im Jahr 2002 auf 934 im Jahr 2018 gestiegen ist, sollte zu denken geben. Die Agenda-Politik hat zu schweren sozialen Verwerfungen innerhalb des Landes geführt. Und von dieser Reformpolitik wollen Sie wirklich noch mehr sehen?
Rainer Zitelmann: Also über Schröder werden wir keinen Konsens finden. Sie verweisen auf die gestiegene Zahl der Tafeln, ich auf die Halbierung der Arbeitslosenquote. Zur Zeit der Agenda-Rede von Schröder lag die Arbeitslosenquote bei 11,3 Prozent, Deutschland war der "kranke Mann Europas". Heute ist Deutschland das wirtschaftlich erfolgreichste Land Europas, die Arbeitslosenquote liegt bei 5,8 Prozent - während sie in den südeuropäischen Ländern, die vergleichbare Reformen versäumt haben, bei über 16 Prozent (Spanien), 11 Prozent (Italien) und 9 Prozent (Frankreich) liegt. Ist das sozialer?
Ich habe ja über die Reagan-Reformen gesprochen. Und dazu möchte ich Ihnen doch gerne einige Zahlen aus meinem Buch zitieren, die mit dem Vorurteil aufräumen, sie hätten die sozial Schwächsten getroffen. Das Gegenteil ist nämlich wahr! 86 Prozent der amerikanischen Haushalte, die 1980 dem ärmsten Quartil angehörten, stiegen bis 1990 in der Einkommensleiter in ein höheres Quartil auf. Es gab sogar etwas mehr Haushalte, die vom ärmsten in das reichste Quartil aufstiegen als solche, die im ärmsten Quartil verharrten.
Die Zahl derjenigen Amerikaner, die weniger als 10.000 Dollar im Jahr verdienten, sank in den 80er-Jahren um fünf Prozent, gleichzeitig erhöhte sich die Zahl derjenigen, die mehr als 50.000 Dollar verdienten, um 60 Prozent, und die Zahl derjenigen mit über 75.000 Dollar Jahresverdienst, sogar um 83 Prozent. Es gibt viele Legenden über die Reagan-Jahre, so etwa die, dass nur die ohnehin schon reichen Weißen profitiert hätten auf Kosten der ärmeren Schwarzen. Tatsächlich stiegen die realen Haushaltseinkommen der Schwarzen in den Jahren 1981 bis 1988 sogar stärker als die der Weißen.
Merken Sie etwas? Die Tafeln werden mehr und die Arbeitslosenzahl hat sich halbiert. Da läuft doch etwas Grundlegendes falsch. Mit den Zahlen ist es außerdem immer so eine Sache. Man muss sie sich genau anschauen und die Entwicklung, die die Zahlen hervorgebracht hat, im Detail analysieren. Alleine zur Arbeitslosenquote in Deutschland gibt es viel zu sagen, aber das würde den Rahmen unseres Interviews sprengen.
Jedenfalls kommt noch etwas hinzu: Mit Reformen wie denen von Schröder wurden zutiefst klassistische Ressentiments in unserer Gesellschaft etabliert. Die Armen sind faul und dumm und wollen einfach nicht arbeiten, so der Tenor, der die "Reformen" begleitet hat.
Rainer Zitelmann: Es ist doch erst einmal zu begrüßen, dass es immer mehr Tafeln gibt, weil das ein hohes Maß an zivilgesellschaftlichem Engagement zeigt. Früher gab es so etwas gar nicht, und das ist doch bestimmt kein Beleg dafür, dass es nicht in der Zeit vor der Agenda 2010 Menschen gegeben hätte, die eine solche Hilfe gebraucht und in Anspruch genommen hätten.
Und wenn Sie von "classism" reden, dann lassen Sie uns auch mal von "upward classism" sprechen, also von Ressentiments gegen Reiche. Neulich, bei Veröffentlichung der Paradise Papers, schrieb Jakob Augstein auf SPIEGEL ONLINE seinen Kommentar mit der Überschrift "Zur Hölle mit den Reichen". Können Sie sich irgendeinen Kommentar vorstellen, der "Zur Hölle mit den Hartz IV-Empfängern" überschrieben ist? Glücklicherweise ist so etwas nicht vorstellbar.
Wenn Sie undifferenziert und pauschalisierend Vorurteile über Reiche verbreiten in Deutschland, dann wird das viel eher akzeptiert, als wenn Sie Vorurteile über Arme, wie Sie sie hier zitieren, verbreiten würden. Ich bin ganz generell dagegen, gesellschaftliche Gruppen mit pauschalen Urteilen zu diffamieren - und das sollte für Arme wie Reiche gelten. Ich habe auch von denen, die diese Reformen damals beschlossen haben - das waren SPD und Grüne - niemals irgendwelche Äußerungen gehört, wonach Arme pauschal als faul und dumm bezeichnet wurden. Sehr wohl höre ich jedoch immer wieder primitive Vorurteile über Reiche, die pauschal als "raffgierig" etc. diffamiert werden.

"Die Gefahr geht davon aus, dass sich der Staat in immer mehr Bereiche der Wirtschaft einmischt"

Schlimme Äußerungen, die von Politkern gegen die Ärmsten in unserer Gesellschaft gerichtet waren, gibt es viele . Denken Sie nur daran, wie Oswald Metzger, damals noch Politiker der Grünen, gesagt hat, viele Kinder der Sozialhilfeempfänger würden "verdickt und verdummt" aufwachsen. Im Zuge der Agenda-Reformen wurde eine regelrechte Hetzjagd gegen die Ärmsten betrieben - medial und politisch.
Und zu dem Kommentar von Augstein: Die Überschrift "Zur Hölle mit den Reichen" macht eben das, was wir oft in Überschriften finden: zuspitzen. Aber nochmal zu den "kapitalistischen Reformen", die Sie ja gerne stärker durchgesetzt sehen möchten: Wie sollten diese denn konkret ablaufen. Was müsste aus Ihrer Sicht in Deutschland, aber auch in anderen Ländern getan werden?
Rainer Zitelmann: Ich bestreite nicht, dass es auch Vorurteile gegen Arme gibt, aber ich bestreite, dass man einen Artikel im SPIEGEL veröffentlichen würde mit der Überschrift "Zur Hölle mit den Armen". Und dass das nicht vorstellbar ist, ist gut so. Oder würden Sie das dann auch mit dem Hinweis rechtfertigen, das sei eben eine normale journalistische Zuspitzung? Also ich messe hier nicht mit zweierlei Maß, wenn es um Vorurteile gegen Arme, Reiche oder andere Gruppen der Gesellschaft gehe.
Nun zu Ihrer Frage, welche Reformen ich mir wünschen würde. Ich nenne nur mal ein paar Beispiele, damit Sie sehen, was ich meine: Erstens würde ich mir wünschen, dass sich unsere Regierung wieder an den Maastrichter Vertrag hält…
Q.: … statt ihn laufend zu brechen.
A. Genau. Ich meine hier vor allem den Verstoß gegen die "No-bailout"-Klausel. Zweitens würde ich mir wünschen, dass im Bereich des Baurechtes erheblich entbürokratisiert wird, weil durch alle möglichen unnötigen Vorschriften zum Energiesparen und durch andere Öko-Vorschriften das Bauen massiv behindert und verteuert wird, was zur Wohnungsknappheit in den Metropolen beiträgt.
Drittens würde ich mir wünschen, dass das Steuerrecht massiv vereinfacht wird und Steuern für alle gesenkt werden, was keineswegs zu geringeren Steuereinnahmen führen muss. Viertens würde ich mir wünschen, dass nicht bei jeder Bankenkrise Banken auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden, denn das hat mit Marktwirtschaft nicht das Geringste zu tun. Es ist jedoch immer wieder geschehen und wird auch immer wieder geschehen. Fünftens verstehe ich nicht, warum der Staat Anteile an der Telekom besitzen muss. Mit dem Geld, das durch den Verkauf dieser Anteile eingenommen würde, könnte man Sinnvolleres tun, zum Beispiel für die innere Sicherheit.
Sechstens würde ich mir wünschen, dass man die planwirtschaftliche "Energiewende" wieder rückgängig macht und im Energiebereich wieder Marktwirtschaft statt Planwirtschaft herrscht.
Sie schreiben in Ihrem Buch ja selbst, dass wir nicht in einer Zeit leben, in der eine Art kommunistischer Umsturz bevor steht. Warum also überhaupt dieses Buch und dieses flammende Plädoyer für den Kapitalismus?
Rainer Zitelmann: Die Gefahr für den Kapitalismus ist heute in der Tat weniger, dass eine sozialistische Revolution kommt und alle Betriebe verstaatlicht. Die Gefahr geht davon aus, dass sich der Staat in immer mehr Bereiche der Wirtschaft einmischt - die Energiewirtschaft und die Wohnungswirtschaft sind nur zwei von vielen Beispielen. Meine Kritik richtet sich jedoch vor allem gegen die Zentralbanken, die sich ähnlich aufspielen wie die mächtigen Planungsbehörden einst in sozialistischen Ländern.
Was sollten diese stattdessen tun?
Rainer Zitelmann: Die EZB sollte sich genau auf die Aufgabe beschränken, der ihr laut Gesetz zukommt, sich nämlich um die Geldwertstabilität zu kümmern. Aber heute überzieht die EZB massiv ihren Kompetenzbereich, hebelt Marktgesetze aus, kauft in gigantischem Stil Anleihen und schafft faktisch den Zins ab.
Durch die Politik der Zentralbanken, in diesem Fall durch die Fed, ist es schon in der Vergangenheit zu riesigen Problemen gekommen: Ich erinnere an die Hauspreiskrise in den USA, die schließlich zur Finanzkrise führte. Das führte uns an den Rand einer Weltwirtschaftskrise.
Und Sie befürchten, dass wir auf eine noch größere Krise zusteuern.
Rainer Zitelmann: Ja, weil die Politik der Zentralbanken zu erheblichen Fehlallokationen führt und neue Blasen erzeugt. Ein Hohn ist es dann, wenn solche Krisen als Beleg für ein angebliches Marktversagen gewertet werden, obwohl es tatsächlich ein Staatsversagen war. In meinem Buch habe ich ein ganzes Kapitel den Ursachen der Finanzkrise gewidmet und gezeigt, dass diese nicht - wie allgemein behauptet - ein Ergebnis von zu viel Deregulierung und "neoliberaler Politik" war, sondern ganz im Gegenteil eine direkte Folge unsinniger Eingriffe des Staates und der Zentralbank.
Auch weltweit mache ich mir große Sorgen, wenn ich etwa sehe, wie Trump den Freihandel zunehmend in Frage stellt, der aber eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Marktwirtschaft ist. Mein Buch habe ich geschrieben, weil immer mehr die Vorstellung vorherrscht, der "Markt" habe versagt und der allmächtige Staat müsse überall eingreifen zum Segen der Menschen.
Der Staat soll sich auf das konzentrieren, was seine Kernaufgabe ist, nämlich die innere und die äußere Sicherheit zu garantieren. Hier versagt unser Staat bekanntlich kläglich. Stattdessen steht im Koalitionsvertrag der GroKo, dass die Politik die Menschen vor "Einsamkeit" schützen wolle. Ich verstehe auch nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht.
In Ihrem Buch setzen Sie sich auch damit auseinander, warum Intellektuelle angeblich mehrheitlich den Kapitalismus nicht mögen. Was wollen Sie damit erreichen?
Rainer Zitelmann: Meine kühne Hoffnung ist, dass einige Intellektuelle mal über ihre eigenen Vorurteile nachdenken, statt nur über die von anderen Menschen. Es ist doch erklärungsbedürftig, dass der Kapitalismus, der mehr zur Überwindung der Armut beigetragen hat als jedes andere System in der Geschichte, von Intellektuellen so scharf abgelehnt wird, während selbst die schlimmsten sozialistischen Diktaturen von führenden Intellektuellen im 20. Jahrhundert immer wieder verharmlost oder sogar gepriesen wurden.
Ich versuche in dem Kapitel eine Erklärung dafür zu geben, warum Intellektuelle - übrigens keineswegs nur Linksintellektuelle, sondern auch Rechtsintellektuelle - den Kapitalismus so barsch ablehnen. Was mich ärgert ist, dass dies nicht einmal als erklärungsbedürftig betrachtet wird. Aus meiner Sicht ist der Antikapitalismus so etwas wie eine identitätsstiftende Religion für viele Intellektuelle.