Warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen
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Rainer Zitelmann über die Faszination, die der Maoismus in der 68er-Generation und danach erzeugte
Die Generation, die in den späten 1960ern und den 1970er Jahren erwachsen wurde, begeisterte sich nicht nur für Sex, Drogen und Rockmusik, sondern häufig auch für den Mao Tse-tung. Die Begeisterung für dessen Lehren soll damals bis in die deutsche Fußballnationalmannschaft hinein gereicht haben. Der diskussionsfreudige Historiker und Soziologe Rainer Zitelmann, der damals Maoist war und sich heute für den Kapitalismus begeistert, versucht zu erklären, warum das so war.
Herr Zitelmann, Sie erblickten 1957 das Licht der Welt, in Frankfurt am Main. In Ihrer Jugend waren Sie Maoist, wie Sie in Ihrer Biografie Wenn Du nicht mehr brennst, starte neu, freimütig bekennen. Bevor ich auf Ihre persönliche politische Sozialisation eingehe, gestatten Sie mir bitte folgende Frage. Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb dieses Phänomen der bundesrepublikanischen Zeitgeschichte - nämlich die Hinwendung eines beachtlichen Teils der akademischen Jugend jener Zeit zum Maoismus - im Schatten der 68er-Bewegung steht, deren Aufbegehren sich dieses Jahr zum fünfzigsten Mal jährt?
Rainer Zitelmann: Das ist in der Tat erklärungsbedürftig. Denn in den maoistischen Gruppen der 70er-Jahre waren viel mehr Menschen engagiert als in der 68er-Bewegung. Aber die 68er-Bewegung eignet sich besser zur Verklärung, zur Mystifikation. Heute heißt es: "Da war die verkrustete Adenauerzeit, die Eltern, die nicht über ihre Schuld in der Nazizeit sprechen wollten, der Vietnamkrieg usw. - und da waren wir, die kritischen jungen Menschen, die das 1968 alles kritisch hinterfragt und schließlich die Bundesrepublik zu einem modernen und weltoffenen Land gemacht haben."
Diese Geschichte, die allenfalls halb wahr ist, ist inzwischen die offizielle bundesdeutsche Geschichtsschreibung geworden. Und sie klingt doch auch viel sympathischer, als wenn man davon erzählen würde, dass man in den 70er-Jahren Stalin bewundert hat oder dass beispielsweise der KBW, die damals führende maoistische Gruppe, Geld für die Massenmörder von den Roten Khmer in Kambodscha sammelte.
"Weil China weit weg und sehr fremd war, eignete es sich besonders gut, dort alle utopischen Sehnsüchte hineinzuprojizieren"
Im zarten Alter 13 Jahren gründeten Sie eine sogenannte Rote Zelle an Ihrer Schule und waren Herausgeber der Schülerzeitung "Rotes Banner". Mit 14 Jahren schlossen Sie sich der Jugendorganisation der maoistischen KPD/ML an. Was hatte Sie damals, als Kind der Bundesrepublik, aufgewachsen im Wirtschaftswunder, an dieser Ideologie fasziniert, die nicht nur einem ganz anderen Kulturkreis entstammte, sondern sich auch unter völlig unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen entstand?
Rainer Zitelmann: Ich denke, gerade weil China weit weg und sehr fremd war, eignete es sich besonders gut, dort alle utopischen Sehnsüchte hineinzuprojizieren. Die DDR war nahe, das wollten wir auf keinen Fall. Und den Kapitalismus sowieso nicht. China und Mao erschienen uns als Alternativen, sozusagen als "dritter Weg". Im Grunde wusste aber keiner von uns, was dort wirklich geschah. Wir bezogen unsere Informationen aus der "Peking Rundschau", die jede Woche erschien. Oder aus den vielen Broschüren, die im Verlag für fremdsprachige Literatur in Peking gedruckt wurden.
In seinem Roman "Der Chinese" lässt der inzwischen verstorbene schwedische Schriftsteller Henning Mankell seine Hauptfigur - die Richterin Birgitta Roslin - monologisieren: "Es sind vierzig Jahre vergangen, dachte sie. Mehr als zwei Generationen. Damals wurde ich von einer Sekte mit Erweckungscharakter angezogen wie die Fliege vom Zucker. Wir wurden nicht aufgefordert, kollektiven Selbstmord zu begehen, weil der Jüngste Tag nahe war, sondern unsere Identität aufzugeben zugunsten eines kollektiven Rausches, wo ein kleines rotes Buch jede andere Aufklärung ersetzt hatte." Haben Sie Ihre damaligen politischen Aktivitäten auch als einen kollektiven Rausch empfunden?
Rainer Zitelmann: Nein, und ich war auch damals schon widerspenstig. Ich war einer, von dem man in der Partei sagte: "Der hat ein riesiges theoretisches Wissen, aber der hat keinen gefestigten proletarischen Klassenstandstandpunkt." Das kam einfach, weil ich in der Partei Dinge infrage stellte, kritisierte. Das war nicht gewollt. Da wurde man leicht des Rechts- oder Linksabweichlertums bezichtigt. Oder des "kleinbürgerlichen Intellektualismus".
Beruhte Ihre damalige Hinwendung zum Maoismus auf jener "abergläubischen Kraft", die von "absoluten Systemen" aus gehen, wie es Tocqueville einst formulierte?
Rainer Zitelmann: Junge Menschen - aber auch ganz generell Intellektuelle - neigen ja dazu, sich eine "ideale Welt" auszumalen. In diesen Kopfkonstruktionen gibt es keine Ungerechtigkeiten. Und am Maoismus faszinierte uns, dass Mao - in dieser Hinsicht eigentlich nicht ganz unähnlich zu Trotzki - so etwas wie eine Theorie der permanenten Revolution vertrat. Revolution als Dauerzustand, weil nach der Vorstellung von Mao immer wieder Leute Macht an sich reißen würden, die den kapitalistischen Weg gehen wollten und die es dann vom Thron zu stürzen gelte.
Wir sprachen vom "Sowjetrevisionismus" oder auch vom "Sozialimperalismus"
Inwieweit war die Ablehnung jenes Sozialismus-Modells, wie es in der DDR und der Sowjetunion praktiziert wurde, für Sie ausschlaggebend, sich der chinesischen Variante zuzuwenden?
Rainer Zitelmann: Wir hatten eine ziemlich verrückte Geschichtssicht: Danach war die Sowjetunion unter Lenin und Stalin sozialistisch und vorbildlich gewesen, eine Diktatur des Proletariats wie Marx sie als Übergangsstadium zum Kommunismus gewollt hatte. Mit der Entstalinisierung durch Chruschtschow ab dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahr 1956 habe dann der Verrat am Sozialismus begonnen. Wir sprachen vom "Sowjetrevisionismus" oder auch vom "Sozialimperalismus". Die einzigen, die den Sozialismus und den Marxismus-Leninismus nicht verraten hätten, waren demnach die Chinesen und die Albaner. Ich habe damals jeden Abend um 23 Uhr die Sendungen von Radio Tirana gehört.
Ihr persönlicher Abschied vom Marxismus (der vom Maoismus hatte schon zuvor stattgefunden) begann, als Sie sich im Rahmen Ihrer Dissertation mit Hitler auseinandersetzten, speziell mit dessen wirtschaftspolitischen Vorstellungen. Könnten Sie das bitte konkretisieren?
Rainer Zitelmann: Ja, der Abschied vom Maoismus kam vor dem Abschied vom Marxismus. Nach meiner ML-Zeit begann ich Wilhelm Reich zu lesen und die Bücher eines damals bekannten Autors in der linken Bewegung, Dieter Duhm. Es ging da um eine Synthese von Marxismus und Psychoanalyse. Und, ja, der Abschied vom Marxismus kam endgültig, als ich bei meiner Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erkannte, dass die marxistischen Faschismustheorien einfach falsch sind.
Als ich meine Dissertation über Hitler schrieb, war ich noch eher links. Ich habe mich darin mit Hitlers sozial- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen beschäftigt und damit, was er unter "Revolution" verstand. Das ermöglichte es mir einerseits, die Massenwirksamkeit und Attraktivität des Nationalsozialismus für viele Menschen zu verstehen. Andererseits sah ich, wie unsinnig die marxistische Sicht ist, die den "Faschismus" als letzten Abwehrkampf des Bürgertums gegen den Sozialismus sah. Übrigens, nebenbei bemerkt, ähnelte diese linke Faschismussicht in mancher Hinsicht der Deutung des Nationalsozialismus durch Ernst Nolte. Meine Sicht ist das Gegenteil der Sicht von Nolte.