Warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen

Seite 2: Renaissance?

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"Die marxistische Utopie hat ihre Chance gehabt. Sie wurde nicht nur einmal ‚ausprobiert’, sondern in den unterschiedlichsten Modellen. Aber weder der sowjetische Weg hat funktioniert noch der jugoslawische oder der chinesische. Seit dem Sieg der Oktoberrevolution, die nach dem Glauben der Marxisten endgültig die Phase des Niedergangs des Kapitalismus und des weltweiten Sieges des Sozialismus einleitete, war die Menschheit vom Ziel des Weltkommunismus noch nie so weit entfernt wie heute." Diese Zeilen schrieben Sie 1991, in einem Zeitungsartikel. Hätten Sie es damals für möglich gehalten, dass "linkes Denken" im Allgemeinen und der Marxismus im Speziellen nur einige Jahrzehnte später wieder eine Renaissance erleben würde?

Rainer Zitelmann: Unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gab es Bücher mit Titeln wie "Das Ende der Geschichte" oder "Vom Ende des utopischen Zeitalters". Während die Linke deprimiert war, herrschte unter Konservativen und Liberalen ein unglaublicher Optimismus. Ich war damals schon längst nicht mehr links, teilte aber nicht den Optimismus der Liberalen und Konservativen. Dass die Geschichte zu Ende sei, hielt ich sowieso für eine völlig absurde Vorstellung.

Aber ich wandte mich Anfang der 90er-Jahre auch gegen Joachim Fests These vom angeblichen Ende des utopischen Zeitalters. Ich schrieb damals einen grundsätzlichen Artikel über die "Träume vom neuen Menschen", der mit einem pessimistischen Ausblick endete: "Ob die leidvollen Erfahrungen mit den realen Experimenten des ‚neuen Menschen’ den wirklichen Menschen eine Lehre sein werden, ist jedoch zweifelhaft. Vermutlich lautet der Schluss eher, das Experiment müsse unter besseren Bedingungen und mit neuen Zielvorgaben wiederholt werden."

Ob der Marxismus eine Renaissance erlebt, weiß ich nicht. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, aber auch nicht für entscheidend. Der Antikapitalismus nimmt immer wieder neue, zeitgemäße Formen an, ob das nun früher der Marxismus war oder heute der Ökologismus oder die sogenannte Globalisierungskritik: Der Feind, nämlich der Markt, bleibt immer der Gleiche. Und die Lösungen, die das Heil in "mehr Staat" sehen, ähneln sich auch stets.

Affinität der Intellektuellen zum Antikapitalismus

Sie vertreten heute die Ansichten eines überzeugten Marktwirtschaftlers. Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb sich Intellektuelle mit dem Kapitalismus so schwer tun, beziehungsweise weshalb der ideologische Unterbau des Liberalismus so dürftig wirkt, im Vergleich zu anderen Ideologien?

Rainer Zitelmann: Von Ideologien würde ich im Zusammenhang mit dem Liberalismus nicht sprechen. Aber es gibt einen "Unterbau", der nur von vielen linken Intellektuellen nicht zur Kenntnis genommen wird. Wer hat von Hayek, von Mises oder Friedman wirklich gelesen? Ich finde, in deren Werken steckt viel mehr Substanz als in den Schriften von Marx oder anderen linken Theoretikern. Ganz zu schweigen von Büchern wie dem von Piketty, der neuen Bibel der Kapitalismuskritiker.

Der Frage, warum Intellektuelle den Kapitalismus nicht mögen, habe ich ein ganzes Kapitel in meinem neuen Buch "Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" gewidmet. Intellektuelle selbst finden das gar nicht erklärungsbedürftig, weil Kapitalismuskritik für sie mehrheitlich sozusagen die natürliche, selbstverständliche Grundhaltung ist. Wahrscheinlich handelt es sich beim Antikapitalismus um eine identitätsstiftende Religion der Intellektuellen, übrigens keineswegs nur der linken Intellektuellen. Merkwürdig ist, dass Intellektuelle es offenbar nicht intellektuell faszinierend finden, sich mit ihren eigenen Wahrnehmungsbeschränkungen und -verzerrungen kritisch zu befassen.

Die Affinität der Intellektuellen zum Antikapitalismus führe ich in meinem Buch auf mehrere Gründe zurück: Der Kapitalismus ist eine spontane Ordnung, kein Gedankenkonstrukt. Er ist so entstanden wie die Sprachen, nicht so wie die Kunstsprache Esperanto. Intellektuelle haben aber eine Affinität zu Kopfkonstruktionen. Daher hat der Marxismus eine so ungeheure Faszination auf Intellektuelle ausgeübt. Zumal ja für die Intellektuellen eine besondere Aufgabe bereit gehalten wurde.

Ich war als Teenager fasziniert von Lenins "Was tun?", der darin zustimmend Karl Kautsky zitierte: "Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur entstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht … Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz… Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes."

Sie sprechen noch weitere Gründe für die Affinität von Intellektuellen zum Antikapitalismus an …

Ja, das ist nun ein wenig komplizierter: Intellektuelle verabsolutieren die für sie spezifische Art des Wissenserwerbs, also explizites, akademisches Lernen. Sie verstehen nicht, dass es daneben eine ganz andere Art des Wissens und des Wissenserwerbs gibt - implizites Wissen und implizites Lernen -, das jedoch für den Unternehmer sehr viel wichtiger ist.

Zumindest sehen Intellektuelle diese andere Art des Wissens, insofern sie überhaupt verstehen, dass es sich dabei um Wissen handelt, als minderwertig an im Vergleich zum akademischen Wissen. Aus ihrer Sicht ist der Unternehmer unwissend, weil er nicht so viele Bücher gelesen hat und oft keine akademischen Grade vorweisen kann. Aus meiner Sicht hat der Unternehmer dagegen nur eine andere Art von Wissen. Lesen Sie mal, was Michael Polanyi über implizites Wissen schreibt - das ist wie eine Erleuchtung.

Und dann mögen Intellektuelle den Kapitalismus natürlich nicht, weil die Wirtschaftselite ökonomisch viel besser dabei wegkommt als die intellektuelle Elite. Das führt zu unbewussten Neidgefühlen, die man sich natürlich nicht eingesteht, denn Neid ist die am stärksten verdrängte und geleugnete Emotion. Denn das Eingeständnis, neidisch zu sein, impliziert ja, dass der andere etwas hat, was man selbst gerne hätte. Das will man sich nicht eingestehen.

Und für einen Intellektuellen ist es schlicht ein Zeichen des "Marktversagens", wenn sein ehemaliger Schulnachbar, der in der Schule immer schlecht war, heute mit seiner Abfallbeseitigungsfirma zehnmal soviel verdient wie er als geistreicher Kulturwissenschaftler, der sich von einem befristeten Arbeitsverhältnis an der Uni zum nächsten quält. Aus Sicht des Intellektuellen ist damit die Welt auf den Kopf gestellt - und das muss natürlich dringend korrigiert werden, indem der Staat wieder Gerechtigkeit herstellt.

"Die Chinesen mögen meine Bücher"

Die Volksrepublik China scheint Sie immer noch zu faszinieren. In Ihrem neuen Buch" Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung" widmen Sie dem Reich der Mitte ein ganzes Kapitel. Halten Sie Deng Xiaoping eventuell für eine der am meisten unterschätzen historischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts?

Die Faszination beruht vielleicht ein wenig auf Gegenseitigkeit: Die Chinesen mögen meine Bücher - ein Buch über "Financial Freedom" ist dort ziemlich erfolgreich und nächsten Monat erscheint in China mein Werk The Wealth Elite auf Mandarin. Doch nun zu Ihren Fragen: Deng ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Er war einerseits der Mann, der die Demonstrationen am Platz des Himmlischen Friedens niederschlagen ließ. Andererseits öffnete er China und machte den Weg frei für mehr Privateigentum und Markt.

Tatsache ist, dass niemals in der Menschheitsgeschichte so viele Hunderte Millionen Menschen in so kurzer Zeit aus bitterer Armut entronnen sind wie in China seit den von Deng angestoßenen kapitalistischen Reformen. Ist es nicht merkwürdig, dass es in den 70er Jahren mehr Bewunderer Maos unter bedeutenden westlichen Intellektuellen gab, als es heute Bewunderer von Deng gibt? Dabei war Mao allein durch sein Experiment des "Großen Sprungs nach vorne" Ende der 50er-Jahre für den Tod von etwa 45 Millionen Menschen verantwortlich.

Schauen Sie persönlich optimistisch in die Zukunft, was die Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft des Kapitalismus betrifft, selbst wenn dieser in seiner sinisierten Variante global dominieren würde?

Rainer Zitelmann: Zunächst: Es gibt keine speziell "sinisierte" Variante des Kapitalismus, das ist ein großes Missverständnis hier im Westen. Zhang Weiying, einer der bedeutendsten chinesischen Ökonomen, schreibt: "Tatsächlich ist Chinas ökonomische Entwicklung grundsätzlich identisch mit der in einigen westlichen Ländern, so wie in Großbritannien während der industriellen Revolution, in den Vereinigten Staaten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und in einigen asiatischen Ländern wie Japan und Südkorea nach dem Zweiten Weltkrieg.

Sobald Marktmechanismen eingeführt und die richtigen Anreize gesetzt sind, damit Menschen nach Reichtum streben, folgt das Wunder des Wachstums früher oder später." Die erfolgreiche Entwicklung Chinas ist einfach ein Ergebnis der Tatsache, dass der Einfluss des Staates auf die Wirtschaft sukzessive zurückgedrängt und dem Markt mehr Raum gegeben wurde. China wird nur dann weiter erfolgreich sein, wenn dieser Prozess weitergeführt wird. Aber das steht keineswegs fest.

Im Westen verabschieden wir uns immer mehr vom Kapitalismus - und darin sehe ich eine Gefahr. Schauen Sie sich die Energiewirtschaft in Deutschland an, die zunehmend planwirtschaftlich gesteuert wird. Schauen Sie sich an, wie Trump dabei ist, den Freihandel durch Protektionismus zu ersetzen. Schauen Sie sich vor allem die Zentralbanken an, die sich fast so aufführen wie einst Planungsbehörden im Sozialismus. Das macht mir die größten Sorgen.

Die Finanz- und die Eurokrise und ihre Ursachen sind, anders als die meisten glauben, noch lange nicht überwunden. Es wurde und wird nur an den Symptomen herumgedoktert, aber die Nullzinspolitik und die Anleihekäufe haben dazu geführt, dass Marktgesetze außer Kraft gesetzt wurden. Dadurch bauen sich neue Blasen auf und ich fürchte, dass es noch heftigere Krisen geben wird. Ich sage jetzt schon voraus, dass Kapitalismuskritiker dann diese Krisen als Bestätigung für ihre Thesen vom "Marktversagen" nehmen werden, obwohl sie das Ergebnis von genau dem Gegenteil sind, nämlich von zu vielen Staatseingriffen.