Idlib: Türkei schickt massive militärische Verstärkung
Ankara will die syrische Offensive stoppen, Krisengespräche mit Russland sind noch offen. Unklar ist das genaue Verhältnis der Türkei zur al-Qaida-Miliz HTS, die Idlib beherrscht
Man habe einen Plan B und einen Plan C für Syrien vorbereitet, so der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar am Wochenende. Berichtet wird von Konvois von Panzerfahrzeugen und auch von Panzern des Typs Leo, die in den letzten Tagen über die türkische Grenze nach Idlib gefahren sind. Auch Lastwagen mit Mehrfachraketenwerfersystemen sollen in Idlib angekommen sein. Indessen gibt es Krisengespräche zwischen türkischen und russischen Vertretern. Bisher ohne nennenswerte Ergebnisse.
Aus Ankara gab es vergangene Woche ein Ultimatum an die Regierung in Damaskus, dass die Kampfhandlungen in Idlib bis Ende Februar eingestellt werden sollten. Bislang hält sich die syrische Regierung nicht daran. Zusammen mit der russischen Luftwaffe sollen am Wochenende über 120 Angriffe auf Stellungen der bewaffneten Opposition im Süden und Westen geflogen worden sein. Von dort aus sollen Gebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung beschossen worden sein.
Zuvor hatte die syrische Armee (SAA) Orte erobert, die für ihr Nahziel wichtig sind: der Wiedererlangung der Kontrolle über die Schnellstraße M5 zwischen Damaskus, Hama und Aleppo. Noch wird ein kleinerer Abschnitt der Magistrale in Idlib von dschihadistischen Milizen kontrolliert, aber nach der Eroberung der beiden Städte Maarat al-Numan und Saraqib, die in Idlib direkt an der M5 liegen, und der Sicherung des Umlandes konnte die SAA am Samstag auch den Ort Al-Eis erobern im Süden Aleppos, der aufgrund seiner höheren Lage, die "Waffenhoheit" über einen wichtigen Streckenabschnitt des Highways einräumt.
"Verhinderung einer humanitären Katastrophe"
Al-Eis (manchmal auch: al-Eiss) galt zuvor als Bastion der dschihadistischen Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), in unmittelbarer Nähe befindet sich ein türkischer Beobachtungsposten. Die türkische Regierung begründet die Entsendung von Panzerfahrzeugen, Haubitzen, Munition und Panzern damit, dass man die Beobachtungsposten verstärken will und zum anderen mit der "Verhinderung einer humanitären Katastrophe in Idlib", mit der Idlib und in der Folge die Türkei konfrontiert werde, sollte die syrische Armee ihre Offensive fortsetzen.
Die türkische Zeitung Hürriyet News untermauert die Warnungen aus Ankara mit dem Verweis auf 600.000 syrische Binnenflüchtlingen unweit der türkischen Grenze.
Ankara macht geltend, dass man sich anders als Syrien und Russland an die Astana-Abmachung halte, die eine Deeskalationszone mit Beobachtungsposten, bemannt von der Türkei, vereinbart hatte. Die Wirklichkeit in Idlib entspricht aber nicht diesem Anspruch. Tatsächlich hielt sich die in Idlib dominierende Miliz, die HTS, nie an die Einrichtung der Deeskalationszone. Sie wurde niemals in der Art verwirklicht, wie dies vorgesehen war.
Auch die andere Abmachung, die Sotschi-Vereinbarung zwischen Russland und der Türkei, die Erdogan kürzlich Moskau vorhielt, wurde in wesentlichen Punkten nicht erfüllt: Weder gelang es der Türkei dafür zu sorgen, dass die wichtigen Verkehrsverbindungen M5 und M4 für die syrische Regierung frei gemacht werden, noch gelang es ihr, die HTS von anderen Milizen zu trennen.
Wie der in Expertenkreisen wegen seiner ausgiebigen Quellenstudien (z.B. Dokumente des Islamischen Staates) und raren Interviews mit Milizen-Mitgliedern bekannte Syrien-Spezialist Aymenn Jawad Al-Tamimi in einem Abriss der jüngeren Geschichte Idlibs bis zur Gegenwart in aller Deutlichkeit darstellt, ist der al-Qaida-Abkömmling Hayat Tahrir asch-Scham die alles dominierende militärische und politische Kraft in Idlib.
Jede Miliz in Idlib ist abhängig von HTS - seien es solche, die mit ihrem Treue-Eid noch mit al-Qaida verbunden sind wie etwa Hurras ad-Din, oder solche, die als salafistisch eingeordnet werden und auch von Russland unter "gemäßigt" rubrifiziert wurden wie Ahrar al-Scham, die von der Türkei unterstützt wird.
Inwieweit die Türkei sie von dieser Abhängigkeit oder Zusammenarbeit - Ahrar al-Sham hat da eine längere Vorgeschichte der militärischen Kooperation mit HTS gerade in Idlib und teilt auch extremistische Ansichten und einen Personenkreis als Brücke - lösen kann, ist die Frage, die mit der Entsendung der militärischen Verstärkung aus Ankara neu gestellt wird.
Ein interessanter hintergründiger Aspekt, den der erwähnte Al-Tamimi nennt, ist, dass die USA, die auch einmal vor der Aufgabe standen, die HTS-Vorgängermiliz al-Nusra von anderen zu trennen, in Idlib Milizen mit Geld und Waffen unterstützt haben, weil man in Washington annahm, damit Gegner der al-Qaida-Truppe aufzubauen. Das Kalkül, sollte es denn ernstgemeint worden sein, schlug völlig fehl: Alles, was den anderen islamistischen, vermeintlich weniger extremen Milizen zugeteilt wurde, wurde der HTS übergeben und machte sie noch stärker.
Das gilt übrigens auch für NGOs, die HTS ist abhängig von Hilfslieferungen der NGOs, wie Al-Tamimi ausführt, sie reißt sich alles unter den Nagel. Weswegen bestimmte NGOs auch die Zusammenarbeit einstellten und die Regierung in Damaskus den Hilfslieferungen gegenüber ablehnend eingestellt ist.
Signal an Damaskus und die HTS-Führung
Wie die türkische Regierung, die türkische Militärführung und der türkische Geheimdienst zu HTS steht, darauf gibt es keine einfachen Antworten - auch vice versa bemüht sich die HTS um Distanz zur Türkei, man will sich keinesfalls als Verbündete oder Anhängsel der Nationalen Syrischen Armee (NSA, vormals FSA) sehen lassen. Das würde die eigene Stärke untergraben. An ein freiwilliges Abrücken von der Dominanz in Idlib vonseiten der HTS ist nicht zu denken. Mit Idlib steht ihre Existenz auf dem Spiel.
Demgegenüber gibt es einige Zeichen einer Kooperation zwischen der türkischen Armee und HTS. In der letzten Woche kam es zu Gefechten zwischen der syrischen Armee und türkischen Militärs auf ihren Beobachtungsposten; am Wochenende hieß es, dass die Türkei weitere Beobachtungsposten eingerichtet habe. Die Einrichtung und die Versorgung dieser Beobachtungsposten geht mit einer Zusammenarbeit zwischen türkischen Vertretern und der HTS-Miliz einher.
Mit der Verstärkung der türkischen Beobachtungsposten wird die Spannung zwischen der Regierung in Damaskus und Ankara weiter erhöht. Auch bei Stellungen, die die Türkei letzte Woche zur Abwehr vorrückender syrischer Armeeeinheiten auf dem M5-Highway bezogen hatte, waren laut Berichten ebenfalls HTS-Milizen mit von der Partie. Ob die Verstärkung, die die Türkei jetzt nach Idlib schickt, nicht nur dazu dient, der Regierung in Damaskus ein Haltesignal zu schicken, sondern auch, mit militärischer Macht der HTS Grenzen deren Anspruchs aufzuzeigen, ist derzeit noch nicht eindeutig zu erkennen.
Auf lange Frist ist aber klar, dass sich die syrische Regierung nicht davon abhalten lassen wird, erst die Verkehrsverbindung nach Aleppo, die aufgrund der Sanktionen noch wichtiger geworden ist, herzustellen und später nach ihrem Plan vorgehend, Idlib wiederzuerobern.