Idlib: Verfahrene Situation
Scheinheilig vermeidet man im Westen, Mosul und Raqqa zu thematisieren, wenn man die geplante Offensive auf Idlib verurteilt und damit auch die Dschihadisten schonen will
Warum wird von westlichen Politikern - und den Medien, die damit übereinstimmen - die geplante Offensive der syrischen-iranischen-russischen Truppen auf die sogenannte "Rebellenhochburg" als Katastrophe und Verbrechen dargestellt? Die Vereinten Nationen warnen gar vor der schlimmsten humanitären Katastrophe dieses Jahrhunderts.
Idlib wird zumindest teilweise kontrolliert von al-Qaida-Kämpfern und anderen dschihadistischen Milizen, die sich mit ihren Familien teilweise dorthin zurückgezogen haben, nachdem ihnen ein Korridor angeboten wurde. Von den mutmaßlichen 3 Millionen Menschen, die dort leben, hat die Hälfte dort Zuflucht gesucht, weil sie nicht in andere Teile Syriens gehen wollte, sei es in die von Damaskus oder von den Kurden kontrollierten Gebiete. Sie sind also nicht völlig unfreiwillig hier.
Wie viele dschihadistische Kämper und Mitglieder anderer bewaffneter Milizen hier leben, ist eine Frage der Spekulation. Vermutlich sind es mindestens 100.000 oft schwer bewaffnete Angehörige von bewaffneten Gruppen und Banden, darunter bis zu 20.000 oder 30.000, die direkt mit HTS (Hayat Tahrir al-Sham), also al-Qaida, einst al-Nusra, verbunden sind. Sie kontrollieren einen Großteil des Gebiets. Welchen Anteil deren Familien an der Gesamtbevölkerung darstellen, lässt sich noch schlechter abschätzen. Vielleicht eine halbe Million? Die aber von den Kritikern einer Offensive als Zivilisten dargestellt werden.
Die Türkei hat versucht, alle Gruppen in Idlib in der angeblich gemäßigten Nationalen Befreiungsfront (NLF) zu versammeln und aus der Schusslinie und unter eigene Kontrolle zu bringen. Das hat nicht geklappt, wohl auch deswegen, weil HTS und andere dschihadistische Gruppen nicht von der Türkei abhängen, sondern (auch) von anderen Ländern finanziell und mit Waffen unterstützt werden.
Das Hauptproblem dürfte sein, dass der Westen nicht nur über die Gruppen einen Einfluss in der Region erhalten und die Konsolidierung der Assad-Regierung verhindern, sondern dass man die Terroristenenklave erhalten will. Jetzt können die Dschihadisten nicht mehr in Syrien verschoben werden, die Gefahr besteht, dass sie zu Zehntausenden in die Türkei oder in andere Länder ausweichen. Als Feinde des Feindes Assad und Putin sind sie zwar als angeblich "Gemäßigte" erwünscht, als Freunde will man die Gotteskämpfer und Kalifatgründer auch nicht bei sich aufnehmen.
Erschwert wird der angebliche Einsatz für die Zivilisten dadurch, dass die Türkei eben jene dschihadistischen Kämpfer auch in Milizen übernommen hat, um gegen die wahren Terroristen zu kämpfen, also gegen die Kurden. Erdogan fordert demgemäß auf, die Offensive auf Idlib zu stoppen, um die "gemäßigten Rebellen" zu schützen, die im "türkischen Kampf gegen Terroristen in Nordsyrien" eine entscheidende Rolle gespielt hätten. Mit dem Kalkül von Ankara spielen HTS und andere salafistische Gruppen aber nicht mit. Sie verschanzen sich wie der IS in Mosul und Raqqa hinter den Zivilisten, die sie als Geiseln festhalten und jeden "Verrat" bestrafen.
Und wenn es stimmt, was Moskau und andere vermuten, dass die vom Westen unterstützten Weißhelme mit HTS verbündet sind, dann werden die Schreckensbilder und -geschichten auch von diesen inszeniert, um einen Kampf der Bösen gegen unschuldige Zivilisten zu propagieren. Dabei ist die Offensive gegen Idlib nicht viel anders als die Offensiven gegen Ramada, Mosul oder Raqqa, von den saudischen Angriffen auf Jemen ganz zu schweigen.
Kampf bis zum Ende wie in Raqqa und Mosul
Ein Bericht in Al-Monitor macht noch einmal deutlich, dass der westliche Blick getrübt ist. Die Dschihadisten um HTS würden, wie das der IS auch in Mosul und Raqqa gemacht hat, die Zivilisten als Geiseln halten und bis zum Schluss kämpfen: "Je blutiger es wird, desto besser, da das den Druck auf das syrische Regime und Russland erhöht, die Kämpfe einzustellen und den Dschihadisten zu erlauben, ihre Enklave zu behalten."
Verwiesen wird auf einen Artikel der Washington Post, nach dem HTS um die Provinz Idlib Galgen errichtet hat, um Verräter hinzurichten, wozu auch diejenigen gehören, die über einen Abzug verhandeln wollen. Es gebe ein Netzwerk an Kellern und Höhlen, die als Gefängnisse dienen, JAN Violations, die Vorwürfe gegen HTS oder Jabhat al-Nusra dokumentieren, sprechen von mindestens 5 Gefängnissen, "einige sind wegen Folter berüchtigt". In den letzten Jahren seien um die 10.000 Menschen in Idlib von den Dschihadisten festgenommen worden, man nimmt an, dass viele getötet wurden.
Idlib hat Tausende und Tausende von denjenigen, die aus Ost-Turkistan (Uiguren), Usbekistan, Tadschikistan, Europa und Amerika, aus den nicht-arabischen und arabischen Ländern eingewanert sind. Sie haben ihre Kinder, ihre Heime, ihre Jobs und ihre Karriere hinter sich gelassen, um zu suchen, welche Aufgaben Allah für sie hat und sie wünschen Märtyrer zu werden. … In Allahs Namen haben wir einen Schwur abgelegt und wir werden jeden kreuzigen, der seine Waffe in diesem befreiten Land niederlegt. Es wurde mit dem Blut der tapferen Märtyrer befreit, mit denen uns Allah, wie ich bitte, vereinen möge.
Der aus Ägypten stammende HTS-Scheich Abu Al-Yaqthan Al-Masri in einer Predigt am 27. August
Treffen von Putin und Erdogan: Kaum eine Lösung denkbar
Der russische Präsident Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan treffen sich heute in Sotchi um eine gemeinsame Lösung zu finden. Erdogan ist daran gescheitert, alle Gruppen zu vereinen und unter die türkische Kontrolle zu bringen und will die von türkischen Truppen umringte Dschihadisten-Enklave erhalten. Russland und Syrien verlangen zumindest eine Trennung zwischen "gemäßigten" und harten Dschihadisten, was aber die Türkei nicht bewerkstelligen kann. Sie hat nicht nur die türkischen Truppen um Idlib verstärkt, sondern weiß auch bei einer syrisch-russischen Offensive die USA mit ihren Alliierten hinter sich, zumindest wenn ein Angriff, von wem auch immer, mit Chemiewaffen stattfinden sollte.
Während Russland Interesse hat, die Kluft zwischen der Türkei und der USA zu vertiefen, haben die USA ein Interesse, die Türkei wieder von Russland abrücken zu lassen. Man kann davon ausgehen, dass sowohl Russland als auch die USA einen direkten militärischen Konflikt vermeiden wollen. Russland und Syrien werden sich nicht davon abhalten zu lassen, Idlib unter Kontrolle zu bringen, möglicherweise läuft es auch erst einmal darauf zu, die Enklave aufzuteilen. US-Außenminister Pompeo hatte Anfang des Monats schon eingeräumt, dass die Terroristen in Idlib bekämpft werden müssen. Auch Erdogan will mit Putin Möglichkeiten finden, die Terroristen zu bekämpfen, will aber die Bombardierung verhindern. Wie das gehen soll, bleibt vorerst sein Geheimnis, zumal er offensichtlich auch nicht für die Schaffung von humanitären Korridoren ist, um die Zivilisten aus Idlib herauslassen.
Edogan erklärt, die Türkei würde alle Terroristen bekämpfen, die Kurden eingeschlossen, aber die Türkei müsse die politischen und humanitären Folgen einer Offensive tragen. Jetzt schon seien 3,5 Millionen Syrer in der Türkei. Und er betonte scheinheilig angesichts der besetzten syrischen Gebiete, die Türkei wolle nicht wie die anderen Staaten Syrien aufteilen. Die Türkei habe solche Absichten nicht, Syrien solle ein Staat bleiben. Und wenn Iran und Russland sagen würden, sie seien von der syrischen Regierung eingeladen worden, dann sei die Türkei vom Volk eingeladen worden: "Das ist der Unterschied. Wir erkennen das Regime nicht an. Wir erkennen das Volk an." Und weil die Türkei leidende Menschen nicht alleine lasse, würden die Menschen in Idlib türkische und keine russischen, amerikanischen, deutschen und französischen Flaggen tragen. Manche tragen allerdings auch die Flaggen der Dchihadisten.