Ignorierte nationale Minderheiten - Krux der EU

Zwischen Hebriden und Karpatenbogen machen sich nach dem Brexit- Referendum weitere Fliehkräfte bemerkbar

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Seit sich Engländer und Waliser wider Schotten und Nordiren mehrheitlich für die Verabschiedung des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union (EU) entschieden, sind quer über den Kontinent Gründe und Folgen geradezu auf inflationäre Weise erörtert worden. Auffällig ist, dass dabei ein unterschätztes Thema gänzlich außer Acht geriet, nämlich Lage, Dasein und Bedürfnisse einer Gruppe von Minderheiten. Dies korreliert mit dem Stellenwert, den diese in EUropa einnehmen.

Es ist eine Krux, dass sich die EU nie auf eine eigentlich wünschenswerte, weil notwendige Minderheiten-Politik eingelassen hat. Ich meine damit nicht "neue", sondern "alte" Minderheiten, nationale Minoritäten (in - aufgrund vielerlei historischer Gründe - fremdnationaler Umgebung). Es gibt deren viele, auch in EU-Europa, und einige, deren stete "Erfolglosigkeit" im Ringen um mehr Autonomie/Selbstverwaltung Sprengstoff birgt.

Warum hat die EU keine substantiellen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen ergriffen? Warum haben ihre Gremien und Institutionen stets auf den - vergleichsweise machtarmen - Europarat verwiesen, bei dem die nationalen Minderheiten angeblich gut aufgehoben sind?

Zentralstaaten als Verweigerer

Weil jene traditionell zentralistisch aufgebauten und organisierten Nationalstaaten - Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen - deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Hinsichtlich Rumäniens ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,4 Millionen ethnischen Ungarn - und insbesondere der ca. 700.000 Szekler - nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr (Stichwort: Trianon) gebrandmarkt wird. Dasselbe gilt für die Slowakei, in deren Süden mehr als 500.000 Magyaren daheim sind.

Andere Beispiele gefällig? Frankreich (am 7. Mai 1999) und Italien (27. Juni 2000) haben zwar die am 5. November 1992 vom Europarat verabschiedete und - bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen - relativ "harmlos" bleibende "Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" unterzeichnet; ratifiziert und In Kraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.

Solange das Manko aufrecht ist, dass die "kleinen Völker" respektive "kleinen Nationen", als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche verstehen, in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Maßlos enttäuscht sind sie indes von der EU, von der sie sich in gewisser Weise "Erlösung" erhoff(t)en. Denn abgesehen vielleicht von dem vergleichsweise kompetenzarmen "Ausschuss der Regionen der EU", der allenfalls als Feigenblatt taugt, hat sich just das "supranationale Gebilde" EU gänzlich ihrer Bedürfnisse entschlagen.

Schotten und Iren

Just im Gefolge des Brexit dürften sie sich daher neuerlich und umso vernehmlicher Gehör verschaffen. Die Schotten erstreben die Unabhängigkeit und den Verbleib in der EU. Mit einem weiteren, höchstwahrscheinlich erfolgreicheren Referendum ist zu rechnen. Und für die Nordiren scheint die Gelegenheit günstig, sich mit der Republik Irland zu vereinen. Sollte sich das brexit-geschwächte London gegen die manifesten Aufbegehrensmomente nördlich des Hadrianswalls und drüben in Ulster wehren, wogegen auch die Klammer United Kingdom (trotz großer Sympathie für die sie verkörpernde, aber nicht ewig lebende Königin) letztlich wenig Wirkung entfalten dürfte, so ist dort mit vernehmlichen Erschütterungen zu rechnen.

Die genannten Zentralstaaten müssen eine derartige Entwicklung jenseits des Kanals fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Denn sie hätte Signalwirkung für nationale Minderheiten auf ihrem Territorium und/oder im Grenzraum zu Nachbarstaaten. Weder von der EU-Kommission, noch vom Rat sind indes Initiativen zu erwarten, welche auf einen längst überfälligen "EUropäischen Rechtsrahmen für nationale Minderheiten" hinauszulaufen hätte. Und im Europaparlament würden - gesetzt den Fall, es käme dort dazu - die jeweiligen nationalstaatlichen Bremser in den Reihen von Sozialisten/Sozialdemokraten und EVP dafür sorgen, dass darauf gerichtete Versuche ins Leere liefen.

Katalanen und Basken

Was für Schotten und Nordiren gilt, gilt umso mehr für Katalanen und Basken. Nicht die Katalanen, die sich in - von Madrid nicht anerkannten - Referenden bisher am weitesten vorwagten, sondern die Basken waren die ersten, die - anfangs und über Jahre hin mit blutigen Anschlägen - die Trennung von Spanien und den eigenen Staat zu erreichen hofften.

Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque (in baskischer Sprache "Iparralde" = "Nordseite"), bekennen sich gut 100.000 Menschen zum baskischen Volk. Im Baskenland stellte Regierungschef Íñigo Urkullu - "Wir müssen auf die Ereignisse in Katalonien reagieren" - 2015 seinen Plan "Euskadi Nación Europea" vor. Er enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.

Bretonen und Korsen

Die Medien der Grande Nation geben zwar vor, das Geschehen auf den britischen Inseln habe auf Separatisten in Frankreich keine Auswirkung. Dem steht der Augenschein entgegen. Insbesondere in der Bretagne verfolgt man die schottische Unabhängigkeitsbewegung sehr genau. Viele Bretonen begleiten die Entwicklung dort mit Sympathie.

Wenngleich in der Bretagne das Verlangen nach Abspaltung von Frankreich wenig ausgeprägt ist, so hört man doch gar nicht so selten, das schottische Vorpreschen werde auch anderen Volksgruppen in Europa - nicht zuletzt den Bretonen selbst - mehr Gehör und politische Eigenständigkeit verschaffen. Immerhin und wohl nicht von ungefähr sind die aufmüpfigen Bretonen bei der von Präsident Hollande initiierten großen Gebietsreform - Reduktion der Zahl der (festländischen, nicht der überseeischen) Regionen von 22 auf 13 - ungeschoren davongekommen.

Dasselbe gilt für die Korsen, wenngleich man auch die Insel Korsika, die nicht als Region, sondern als Gebietskörperschaft gilt, einer festländischen Verwaltungseinheit - etwa Provence-Alpes-Côte d’Azur - planerisch hätte zuschlagen können. Die Nationalpartei PNC (Partitu di a Nazione Corsa) tritt nicht unbedingt für die Unabhängigkeit Korsikas ein, was das Ziel bisweilen bombender Extremisten war/ist, verlangt aber mehr Selbständigkeit anstatt politischer Steuerung durch Paris.

Im Elsass begnügt man sich hingegen offenbar mit einigen Zuständigkeiten in (sprach)kulturellen Angelegenheiten. Wenngleich nicht wenige Elsässer gegen die Verschmelzung ihrer Provinz mit Lothringen, der Champagne und den Ardennen zur Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine protestierten, welche vom 1. Oktober dieses Jahres an kurz "Région Grand Est" heißen wird.

Flamen und Wallonen

In Brüssel, wo oft die am weitesten wirksam werdenden Entscheidungen für die EU getroffen werden, scheint der Staat, dessen Hauptstadt es ist, stets unmittelbar vor seiner Auflösung zu stehen. Der Konflikt zwischen holländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen in Belgien währt schon lange und ist seit zehn Jahren deutlich stärker geworden.

Von den Flamen, die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der "ärmeren" Wallonie wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus.

Die deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 80.000 Menschen bewohntes Gebilde mit politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebietes Eupen-Malmedy, gehört zwar territorial zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.