Ihr Affen im Netz!

Norbert Bolz entdeckt (wieder mal) Klatsch und Tratsch im Internet

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Auch wenn der Vorspann mittlerweile nur noch selten vom Autor selbst geschrieben wird, so überrascht die aktuelle Ausgabe des "Spiegel" doch mit einer besonders naiv-realistischen Ankündigung: "Der Essener Philosoph Norbert Bolz über die Bedürfnisse des Menschen im Umgang mit Computern und in der vernetzten Welt."1 (Hervorhebung S.W.)

Norbert Bolz, in der Tat smarter und wirklich attraktiver Hip-Denker an der Universität Essen, weiß, was dahintersteckt, was der Fall ist: Wir Menschen sind wie Affen! Soziobiologen, Evolutionspsychologen und andere Neo-Darwinisten werden sich freuen ob dieser gaaanz neuen Sichtweise, und auch die Human-Genom-Entschlüsseler dürfen sich angesichts jüngster Entdeckungen einmal mehr bestätigt fühlen (Sprechen anstatt Kraulen).

Was treibt die Leute vor die Kameras und die Bildschirme? Der Verhaltensforscher Robin Dunbar hat nach gründlicher Beobachtung unserer tierischen Verwandten die These aufgestellt, das Geschwätz und der Klatsch erfüllten für die Menschen genau die Funktion, die bei den Affen 'grooming' heißt, also das gegenseitige Sich-Kraulen und -Pflegen. Wer eine Talkshow oder Daily Soap betrachtet, genießt die narkotischen Effekte des 'grooming'.

Norbert Bolz

Der animalische Medienkonsument

Fürwahr, Biologisten und Realisten können sich die Hände reiben: So ist es! Doch die Versuche, aus verschiedenen Blickwinkeln unterschiedlichster paradigmatischer Provenienz zu erklären, warum die Menschen was mit den Medien machen, sind alt und langweilig. "Big Brother" erfülle eine "bardische Funktion", könnte ein Vertreter der Popular Culture Studies behaupten, und Alexander Kluge zieht gleich Parallelen zur Oper, zu Herz und Schmerz in den vergangenen Jahrhunderten. All dies sagt, um Heinz von Foerster zu paraphrasieren, viel über jene aus, die etwas sagen, und wenig über das, worüber sie sprechen.

Mag sein, dass wir, die "Girlscamp" Guckenden, die ob der schlechten Masturbationsvorlagen regelmäßig enttäuscht werden, uns wie sich kraulenden Affen verhalten. Letztlich ist dies aber gehaltlose Analogie und hat mit Medienkritik so wenig zu tun wie Norbert Bolz mit Immanuel Kant. Das Argument klingt vielmehr verdächtig nach biologistischer Rechtfertigung von Trash-TV, nach dem Motto: Wir können eben nicht anders.

Medien = Klatsch, Internet = Geschwätz

Was an Bolz jedoch immer wieder besonders nervt, ist die Generalisierung seines Arguments: Klatsch, Tratsch, gossip und Geschwätz, jenes trivial funkelnde Diskursuniversum des Redundanten, beherrscht nach Bolz nicht nur Telefonie und Trash-TV, sondern auch das Internet: "Das Internet ist, genau so wie die Telefonie, im Wesentlichen Geschwätz", steht im "Spiegel" geschrieben. Und weiter:

"Auch das Internet ist ein Tummelplatz für Voyeure, die andere beim Kommunizieren beobachten; man nennt sie verächtlich Lurker. Sie sind der Resonanzboden des Global Gossip, des weltumspannenden Klatsches."

Zum einen ist die immer wieder zu hörende Gleichsetzung von Internet mit Mailinglisten und Diskussionsforen analytisch langsam eine Zumutung (es ist so, als würde man ständig vom "Fernsehen" reden und etwa nur "Teletext" meinen). Bolz redet eigentlich immer nur von Email, Mailinglisten und Foren, aber ständig schreibt er von "dem Netz" oder "dem Internet". Zum anderen möchte ich von Bolz den empirischen Beweis dafür hören, dass Lurker in dieselbe Seinsklasse gehören wie etwa die Voyeure von "Big Brother". Ist es nicht eher (mehrheitlich?) so, dass manche threads und radical-actives schlichtweg nerven und man deshalb lieber das Maul hält, bevor man sich dann irgend wann einmal entscheidet, mittels Unsubscribe-Mail aus den immer relativ hermetischen Zirkeln einer Liste auszusteigen? Unterstellt Bolz hier Lust, wo Unlust herrscht?

Sinnvoller Mediengebrauch ausgeblendet

Das Internet sei nichts anderes als eine Gerüchtebörse, voll mit Geschwätz statt profundem Wissen, mit Faszination und Emotion statt Information, mit Redundanz statt Neuheit: das Netz als zugespitztes und ultimatives Boulevardmedium. Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat genau diese These vor einem Jahr beim Fachkongress der "Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft" vertreten, und der tosende Applaus der mehrheitlich an Computer- und Mail-Phobie erkrankten akademischen Professorenkaste war ihm gewiss. Netzaktivisten, Widerstandsgruppen, alle Menschen, die das Netz sinnvoll (pragmatisch, zielorientiert oder auch nur "materielle" Kommunikationswege einsparend) nutzen, in Summe User, die Informationen suchen oder anbieten, statt wahllos zu surfen oder zu lurken, müssten hier eigentlich aufschreien: ihr Mediengebrauch wird völlig ausgeblendet, "dem Netz" offensichtlich überhaupt keine produktive Leistung zugetraut.

Norbert Bolz selbst übrigens vertritt seine problematischen Internet = Geschwätz & Gerücht (und lurkende User = kraulende Affen)-Gleichsetzungen schon seit Jahren. In seinem 1997 erschienenen Buch2 heißt es:

"Das Internet ist Geschwätz. Aber es kann auch gar nicht anders sein. Denn je interaktiver ein Medium ist, desto unwichtiger wird die Information." (Bolz 1997, S. 194)

Im selben Buch outet sich Bolz übrigens bezüglich seines etwas eigenartigen Verhältnisses zu Email, wenn er unter dem Abschnitt "Man kann nicht nicht e-mailen" schreibt:

"Norbert.Bolz@t-online.de - nun gut, ich habe kapituliert." (Ebenda, S. 191)

Es war also 1997, als Bolz es nicht mehr länger ertragen konnte, seine Email-lose Visitenkarte herumzureichen, wie er selbst bekennt. Der Druck der Gesellschaft, der Zwang, auch online zu sein, hat über die versuchte Resistenz gesiegt, und die Einrichtung der T-online-Adresse wird im Buch stolz als bemerkenswertes Ereignis verkündet (schon sonderbar, dass jemand, der bis zu diesem Zeitpunkt keine Mailadresse haben wollte, sie dann gleich hunderten Lesern mitteilt). Noch einmal: Die Rede ist von einem Professor für Kommunikation, der im akademischen Kontext lehrt und forscht (geht langsam ein Lichtlein auf?).

Zum Schluss auch noch digitale Skifahrer

Fairerweise wäre noch zu ergänzen, dass Bolz nicht nur Mailinglisten und Foren empirisch untersucht hat, nein, er hat sich auch mit dem Phänomen des digitalen Wellenreiters auseinandergesetzt und kommt im "Spiegel"-Essay zu erstaunlichen Befunden:

"Wie beim Skifahren ist es auch beim Surfen so, dass man nicht an ein Ziel kommen, sondern die Fahrt genießen will. Deshalb ist die Metapher vom Surfen im Internet gut gewählt. Denn es geht hier gar nicht primär um Information und Wissen. Wir genießen uns selbst, indem wir unsere Sinne in den Medien baden. Wenn Menschen im Internet surfen, geht es ihnen also nicht darum, Informationen aufzunehmen oder auszutauschen. Sie wollen gerade in der Redundanz der Botschaft mitschwingen, oben auf der Welle bleiben."

Genug damit. Liebe Telepolis-Leser, die ihr bis hierher gekommen seid: Ihr ziel- und planlosen Surfer, die ihr euch selbst suhlt in der Redundanz, ihr skifahrenden Ötzis, die ihr euch treiben lässt in einem Meer an Tratsch, Fake und Gerücht - lest Bolz und erkennt eure "wahren Bedürfnisse"! Wollt ihr nicht wie die Affen sein, die sich gängeln lassen vom Global Gossip, dann steigt aus aus der Welt der Telefonie, des Fernsehens und des Internet. Die Welt hat mehr zu bieten als ein gegenseitiges virtuelles Sich-Kraulen, und das trifft auch auf diese nur im Internet publizierte Kritik zu, ihr dämlichen Schimpansen! Reales Kraulen ist viel schöner, das will uns Bolz in Wahrheit sagen.

Hierzu dringend zu empfehlen: Ich poste, also bin ich.