"Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden"
Das Leben der Flüchtlinge, die Zukunft Nordafrikas, die Sicherheit Europas
"Ihr sollt mich recht verstehen. Wenn ihr mich bedrängt und destabilisieren wollt, werdet ihr Verwirrung stiften, Bin Laden in die Hände spielen und bewaffnete Rebellenhaufen begünstigen. Folgendes wird sich ereignen. Ihr werdet von einer Immigrationswelle aus Afrika überschwemmt werden, die von Libyen aus nach Europa überschwappt. Es wird niemand mehr da sein, um sie aufzuhalten."
Diese Worte äußerte der libysche Diktator Muaamar al-Gaddafi, in einem Interview mit dem französischen Journal du Dimanche im Februar 2011. Als er diese Worte tätigte, konnte Gaddafi nicht ahnen, dass Osama bin Laden am 2. Mai 2011 von einer amerikanischen Sondereinheit auf pakistanischem Boden erschossen würde. Noch weniger war er sich wohl bewusst, dass er selbst im Oktober des gleichen Jahres als Flüchtling im eigenen Land ein grausames Ende finden würde.
Die Zitierung dieser Interview-Passage soll nicht dazu dienen, diesen nordafrikanischen Gewaltherrscher nachträglich zu legitimieren oder gar einen Heiligenschein aufzusetzen. Im Gegenteil. Gaddafi ist im Westen schon immer weit überschätzt worden. Er war nie ein großer arabischer Volksheld, als der er gern gegolten hätte. Ein paar einfältige Sensationsreporter konnte er mit seinen theatralischen Beduinenauftritten beeindrucken.
In den übrigen Staaten der arabisch-islamischen Welt wurde dieser unberechenbare Paranoiker als "Mahbul", als Verrückter, bezeichnet. Gaddafi mag für seine Untertanen ein weniger blutrünstiger veranlagter Despot gewesen sein, als Saddam Hussein im Irak es war. Aber harmlos war dieser Autokrat nicht. Im Gegensatz zu Saddam Hussein, der die eigene Bevölkerung drangsalierte und zahllose Morde im Inland befahl, sich aber kaum als internationaler Terrorist betätigt hatte, unterstützte Gaddafi hingegen Verschwörer, Attentäter, Aufständische und Bombenleger weltweit -von Nordirland bis zu den südlichen Philippinen.
Im Westen wurde Libyen endgültig zum Schurkenstaat, als im Dezember 1988 über dem schottischen Städtchen Lockerbie eine PanAm-Maschine explodierte, wobei 270 Menschen den Tod fanden. Ein Jahr später ereilte eine französische Linienmaschine über dem Niger das gleiche Schicksal. In beiden Fällen richtete sich der Verdacht gegen den libyschen Geheimdienst als Urheber der Anschläge. Durch die Zahlung von hohen Entschädigungssummen hatte sich der Diktator von Tripolis damals noch freikaufen können.
Schnell wurde Gaddafi im "Krieg gegen den Terror" vom "bad guy" zum "good guy" des Westens
Die vom Westen damals verhängten Sanktionen konnten dem Führer der Jamahiriya, wie er das von ihm gegründete Staatswesens Libyen zu nennen pflegte, aufgrund des vorhandenen Ölreichtums nicht gefährlich werden. Gefährlich wurde es für Gaddafi allerdings, als der damalige amerikanische Präsident George W. Bush seinen "War against Terror" startete. Gaddafi wusste, was ihm blühte, wenn er sich den neuen Weisungen Washingtons nicht unterordnen würde.
Geschickt passte er sich an, gestatte den Amerikanern verdächtige Produktionsstätten zu durchsuchen, um den Verdacht zu vermeiden, Libyen würde heimlich Massenvernichtungswaffen produzieren. Als er sich dann noch gegenüber dem Westen auf dem Gebiet der Erdölförderung äußerst entgegenkommend, gar unterwürfig, zeigte, wurde aus dem "bad guy" über Nacht ein "good guy", obwohl Gaddafi auf die Einführung von Demokratie und Menschenrechte verzichtete.
Dieser plötzliche Schmusekurs des Westens gegenüber einem verbrecherischen Regime, entlarvte nicht zum ersten Mal die heuchlerische Menschenrechtsdiplomatie, welche nur dann die Einhaltung dieser zweifelsohne edlen Prinzipien einfordert, wenn das betreffende Regime sich den ökonomischen Interessen des Westens widersetzt. Zwischen Washington und Tripolis wurden die diplomatischen Beziehungen wieder etabliert und die Ölkonzerne aus den USA nahmen ihre Tätigkeit auf. Statt über diese Vorgänge den Mantel des Schweigens zu hüllen, entblödete sich die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice nicht zu erklären: "Libyen ist ein wichtiges Vorbild in einer Welt, die von Regierungen Irans und Nordkoreas eine gründliche Umkehr erwartet. "
Die Europäer, in Ermangelung eigener geopolitischer Zielsetzungen, folgten den diplomatischen Vorstößen der USA. Der britische Premierminister Blair lobte Gaddafi als "soliden Partner des Westens. " Bundeskanzler Schröder reiste nach Tripolis und gewann dort Einblicke in das Erdöl-Geschäft, die ihn für seine spätere Tätigkeit bei Gazprom nützlich waren. Nicolas Sarkozy bereitete Gaddafi in Paris einen triumphalen Empfang, was ihn einige Jahre später nicht davon abhalten sollte, bei der Ermordung seines damaligen Gastes, aufgrund der Einflüsterungen des Pariser Mode-Philosophen Bernhard Henry Levy, aktiv behilflich zu sein.
Mit Gaddafis Panafrikanismus wurde Libyen zu einem Traumziel für die darbenden Massen der Sahelzone
Bei all diesen Rahmenbedingungen darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass es Gaddafi während seiner über 40jährigen Herrschaft gelang, das traditionell zwischen Tripolitanien und der Cyrenaika gespaltene Libyen zu einen, sowie den Lebensstandard und das Bildungsniveau seiner Bevölkerung dramatisch zu erhöhen. Gegen die radikalen Strömungen, die man heute als Salafismus bezeichnet und überwiegend von Saudi-Arabien aus weltweit Verbreitung finden, holte er schon in den 1980er Jahren zu vernichtenden Schlägen aus, während der Westen engste Beziehungen mit Riad pflegte und pflegt.
Im Laufe seiner Diktatur, wich der von ihm in früheren Zeiten gepredigte Panarabismus einem ebenso utopisch anmutenden Panafrikanismus. Libyen wurde zu einem Traumziel für die darbenden Massen der Sahelzone sowie zu einem der größten Einwanderungsländer der Welt, gemessen an seiner Bevölkerungszahl. Nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes haben in Tripolis nicht Demokratie und Marktwirtschaft Einzug gehalten. Viel eher hat sich dieses ehemals reichste Land der Region zu einem gescheiterten Staat entwickelt, der entlang seiner uralten Bruch- und Trennlinien zerbrochen ist, wo ein Bürgerkrieg tobt. Der Sturz Gaddafis hat auch die Konflikte in Subsahara -Afrika angeheizt. Es brodelt von Nigeria bis nach Somalia.
Die vom Westen einst Gaddafi gelieferten Waffen kommen heute südlich von Libyen zum Einsatz, in Mali, Niger oder Tschad und führen zu immer neuen Flüchtlingswellen in Richtung Europa. Von den etwa 218.000 Bootsflüchtlingen, die im vergangenen Jahr an den Küsten der EU strandeten, waren über 140.000 in Libyen gestartet. Hierbei handelt es sich nur um offizielle Zahlen, die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Die Regierung des geografisch zerbrochene Libyens ist nicht in der Lage, den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Die Abgeordneten des Parlaments in Tripolis sind im vergangenen Sommer geflüchtet und Tagen seitdem in Tobruk, an der östlichsten Peripherie des Flächenstaates. Libyen hat sich zu einer Brutstätte für Schlepperbanden entwickelt. Während Europas Freiheit angeblich am weit entfernten Hindukusch verteidigt wird, wie es ein deutscher Politiker einmal auszudrücken pflegte, ist in unmittelbarer Nähe unseres Kontinents, an den Ufern des Mittelmeeres ein massiver Krisenherd entstanden, der das Leben der Flüchtlinge gefährdet, die Zukunft Nordafrikas verspielt und Europas Sicherheit in Frage stellt.
Und was macht Bernhard Henry Levi, der einst seinen Präsidenten zum militärischen Einsatz in Libyen erfolgreich aufforderte? In Libyen wurde er schon lange nicht mehr gesehen. Dafür beglückt er jetzt die Ukraine mit seinem weltumspannenden Erlösungsideologien