Im Asylstreit müssen die Wähler entscheiden
Petition fordert eine ausgeloste BürgerInnenversammlung - Ein Interview mit den Initiatoren
Als Innenminister Horst Seehofer mit seinem Ultimatum zum Asylstreit die gesamte Regierung aufs Spiel setzte, war das Entsetzen groß. Simone Orgel und Dominik Schlett trieb dieses Entsetzen zu einer Petition: Unter dem Titel "Ask us, fragt uns" fordern sie konkret zur Asylpolitik die Einberufung einer BürgerInnenversammlung, deren Mitglieder per Los bestimmt werden sollen. Mit den beiden Initiatoren, die sich über ein Bürgerbeteiligungsprojekt kennengelernt haben, sprach für Telepolis Timo Rieg, der sich als Journalist seit vielen Jahren mit Demokratiereformen beschäftigt (Aleatorische Demokratie).
Strittige Themen gibt es viele - warum schlagt ihr gerade zum aktuellen Asylstreit eine ausgeloste Bürgerversammlung vor?
Dominik Schlett: Das Thema ist seit mindestens drei Jahren auf der Agenda. Aber seit 2015 ist es nicht gelungen, eine gesamtgesellschaftliche Diskussion darüber zu führen. Am Asylstreit entzündet sich gerade die grundsätzliche Frage nach dem demokratischen Miteinander. Es geht um die Zukunft von Europa, wenn etwa die Freizügigkeit auf dem Spiel steht, also das Recht, sich innerhalb der Europäischen Union frei zu bewegen. In Wirklichkeit ist "Asylstreit" nur eine Worthülse, die den eigentlichen Machtstreit verbergen soll.
Simone Orgel: Das Verrückte ist doch, dass im Moment eine Kleinstpartei ihre Meinung bzw. sogar nur die Meinung ihrer Führungsriege einem ganzen Land überstülpen will.
Mit "Kleinstpartei" meinst du die CSU...
Simone Orgel: ...die bei der Bundestagswahl im letzten Herbst gerade mal auf 6% kam. https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/32_17_vorlaeufiges_ergebnis.html Und wir haben derzeit kein Vehikel, unserer Meinung Gehör zu verschaffen und sie der CSU so entgegenzusetzen, dass sie auch wahrgenommen wird. Wir haben diejenigen, die derzeit die Verantwortung haben, doch nicht dafür gewählt, dass sie nach drei Monaten Regierung zusammenbrechen und in einer längst der Sachebene entflohenen Debatte untergehen. Deshalb fordern wir, dass endlich mit uns gesprochen wird, und nicht nur über uns.
Die übliche Entgegnung an dieser Stelle lautet, ausgeloste Bürger seien wohl kaum schlauer als Politiker, die sich beruflich mit all den komplexen Fragen befassen.
Dominik Schlett: Ich glaube an die "Weisheit der Vielen".
Simone Orgel: Vor allem geht es doch um uns. Es ist unsere Zukunft, über die gerade verhandelt wird. Und das Versprechen der Demokratie ist doch, dass wir alle gemeinsam über diese Zukunft entscheiden und uns nicht einer sogenannten Elite unterwerfen, die schon wissen wird, was gut und richtig ist.
Dominik Schlett: Das Thema Flüchtlinge beginnt doch gerade erst. Nicht nur, dass es schon immer Migration gab, es wird eine der zentralen Herausforderungen dieses Jahrhunderts sein, Stichwort Klimaflüchtlinge. Wenn wir jetzt nicht anfangen darüber zu reden und uns mit all den Facetten zu beschäftigen, wenn wir uns einfach alles von Politikern aufoktroyieren lassen und in der Debatte nur Zuschauer sind, dann kommen wir nicht weiter. Die Politik zeichnet gerne schwarz-weiß, gut-böse, dafür oder dagegen, es gibt kaum Zwischentöne. Parteien wollen sich profilieren, deutlich von der Konkurrenz abgrenzen, aber so entfaltet sich keine demokratische Kultur, die Probleme angemessen lösen kann.
Simone Orgel: Wir beide wollen nicht vorgeben, was zu tun ist. Wir fordern ja gerade einen Austausch vieler Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Meinungen, und das Ganze in einem Prozess, in dem eine Debatte sach- und wissensgetrieben gesteuert werden kann.
Und ihr seid da selbst wirklich ergebnisoffen?
Simone Orgel: Absolut, das ist das Anliegen unserer Petition.
Damit macht man es sich natürlich schwer, Unterstützung von Organisationen oder Verbänden zu bekommen, die ja stets schon überzeugt sind, die richtige Meinung oder die ideale Lösung für ein Problem zu haben.
Simone Orgel: Wir behaupten gerade nicht, auf jede Frage schon eine einfache Antwort zu haben. Nein, wir wollen Beratung in aller Ruhe und sind überzeugt, dass so Ergebnisse herauskommen können, die viel besser sind als irgendwelche Kompromisse im Parteienhickhack. Ein schlichtes dafür oder dagegen funktioniert bei Asyl und Migration nicht. Es ist legitim, dass wir alle in Sicherheit leben wollen, aber wie kann das organisiert werden, ohne es auf dem Rücken anderer auszutragen? Wir leben hier nicht allein auf einer Insel. Wenn aktuell Containerschiffe mit geretteten Schiffbrüchigen an den Küsten des Mittelmeers entlangfahren und Häfen suchen, die sie anlaufen dürfen, dann hilft kein dafür oder dagegen, dann braucht es Verständigung.
Dominik Schlett: Wir wären nicht in so einer verfahrenen Situation wie im Moment, wenn man von Anfang an miteinander geredet hätte. Die Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern als ihre Repräsentanten, die ganze Emotionalität bis hin zum Hass auf die jeweils andere politische Richtung hätte erst gar nicht entstehen dürfen. Die Politik hätte frühzeitig innovative demokratische Methoden zulassen müssen, man muss neue Partizipationsformen ausprobieren und es braucht viel mehr Transparenz. Wir wollen nicht mehr aus der Zeitung erfahren, was die Politik im Hinterzimmer beschlossen hat.
Das heißt doch konkret, vor allem den AfD-Wählern noch mehr Gehör zu schenken?
Dominik Schlett: Für mich heißt das, alle ernst zu nehmen und miteinander nach einer guten Lösung zu suchen. Und natürlich verlangt die Demokratie, dass ich dabei die Meinung der Menschen ernst nehme. Aber die AfD ist sicherlich auch ein Ergebnis, weil eben nicht miteinander geredet wurde. Es gibt so viele Themen, und da werde ich nicht in jedem Punkt mit meiner eigenen Meinung die Mehrheit bekommen.
Du warst selbst Mitglied in einer ausgelosten Bürgerversammmlung.
Dominik Schlett: Das war auf alle Fälle ein voneinander lernen. Keiner von uns hat da nur seine vorhandene Meinung vertreten. Deshalb bin ich so ein großer Fan der Auslosung geworden. Man denkt und argumentiert nicht nach Parteilinien.
Simone Orgel: Ich habe eine ausgeloste BürgerInnenversammlung als Moderatorin vor wenigen Wochen begleiten dürfen, und wenn solche Prozesse transparent sind und die übrigen Bürger, die nicht ausgeloste wurden, nachvollziehen können, wie ihre Vertreter zu Entscheidungen gekommen sind, dann gibt es auch Akzeptanz dafür. Jeder kann dann seine eigene Meinung an den Ergebnissen einer Bürgerversammlung evaluieren und nachvollziehen, was alles berücksichtigt und diskutiert worden ist.
Dominik Schlett: Die Nachvollziehbarkeit ist uns ganz wichtig. Viele Menschen haben den Eindruck, dass sie nur vor vollendete Tatsachen gestellt werden...
... weil alles viel zu komplex ist, als dass es die Bürger verstehen könnten...
Simone Orgel: ... und deshalb soll man alles den Experten überlassen, ja, ja, aber wir sind die Expertinnen und Experten für unser eigenes Leben. Da kann uns kein anderer sagen, was gut für uns ist. Deshalb muss es Aufgabe der Politiker sein, für uns nachvollziehbar zu machen, anhand welcher Kriterien sie entscheiden. Wir sind ja auch alle nicht als ExpertInnen auf die Welt gekommen, wir haben gelernt und das tun wir auch weiterhin. Themen müssen gelernt werden, und wenn man das richtig anpackt, dann kann sich jeder zu einem Thema, mit dem es eine intensive Beschäftigung gab, eine qualifizierte Meinung bilden. Politiker machen doch nichts anderes.
Dominik Schlett: Auch die Demokratie selbst muss gelernt werden und sie selbst muss immer weiterentwickelt werden. Sie hat auch eine aufklärende Funktion. Harald Lesch hat das auf der re.publica schön gesagt:
"Haben Sie sich schon mal gefragt was es bedeutet, wenn wir zunehmend Algorithmen die Entscheidungen für irgendwelche Problemlösungen überlassen, die uns aber gar nicht mehr erklären können, wie sie es gemacht haben. Das ist das Ende der Aufklärung. Aufklärung war immer: Wenn du eine Meinung hast, dann musst du sie begründen. Du musst in der Lage sein, Gründe zu nennen für dieses Urteil, das du gerade gefällt hast. Algorithmen tun das nicht. Wenn etwa die deutsche Bundesregierung der Meinung ist, uns mit so einer Art von Digitalisierungsterrorismus zu überfallen, dass wir ja alles digitalisieren müssen, was bei Drei nicht auf den Bäumen ist, nur weil die Leute gar nicht wissen, wovon die Rede ist, dann sollten wir dem entgegenhalten, dass wir so eine Welt auf gar keinen Fall haben wollen, sondern dass wir nach wie vor die Kontrolle über die Algorithmen behalten wollen. In dem Moment, wo wir nicht mehr die Köche sind, sondern nur noch die Kellner, haben wir verloren."
Die Gesellschaft muss nachvollziehen können, wie entschieden wird, alles andere wäre ja schon gottgleich. Insofern ist Demokratie Mitspracherecht bei der Gestaltung der eigenen Umwelt. Man kann Demokratie nicht wegdelegieren an Experten.
Aber wird nicht von vielen Aktivisten Demokratie immer in dem Sinne gefordert, dass letztlich ihre eigene Meinung gestärkt wird?
Simone Orgel: Das gibt es sicherlich oft, aber wir haben ja bewusst keine Petition gestartet, in der Lösung XY vorgeschlagen wird, der alle zustimmen sollen, sondern wir haben einen ergebnisoffenen Lösungsweg aufgezeigt. Wir wollen die Filterblasen platzen lassen, wir wollen miteinander statt übereinander reden. Nicht nur Politiker, auch die Bevölkerung redet doch von "den Linken", "den Rechten" etc., aber so funktioniert das nicht. Wir fordern Prozesse, die Teilhabe ermöglichen und die Politikverdrossenheit aufbrechen, und zwar grundsätzlich. Da ist das Grenz-Ultimatum von Horst Seehofer und der sogenannte Asylstreit im Moment nur ein Beispiel.
Habt ihr denn schon konkretes Feedback zu eurer Petition von Lobbyisten bekommen? Gerade zu Flucht und Migration sind schließlich viele aktiv.
Simone Orgel: Bei uns hat sich noch kein Verband oder so gemeldet bisher, aber interessant sind die Kommentare von Unterzeichnern der Petition und in Social Media, wo wir unsere Präsenzen gerade aufbauen. Und da merken wir z.B., dass für viele Bürgerinnen und Bürger das Prinzip der Auslosung noch nicht klar ist - was verständlich ist, obwohl es ein sehr altes Verfahren aus dem antiken Griechenland ist. Darüber braucht es also mehr Dialog und mehr Wissen, daran arbeiten wir jetzt transparent, u.a. mit einem neuen Video.
Und wie sieht es mit anderen Aktivisten der Demokratie- und Partizipationsbewegung aus, bei großen Playern wie dem Verein "Mehr Demokratie" angefangen - hat da schon jemand reagiert? Oder gibt es schon Revierstreitigkeiten?
Simone Orgel: "Mehr Demokratie NRW" hat auf Twitter unsere Petition geteilt und geschrieben: "Am besten wäre ein Zusammenspiel von Bürgerversammlungen und direkter Demokratie wie in Irland." Ansonsten herrscht bisher Zurückhaltung, aber aber wir hoffen und freuen uns auf die Debatte. Ich glaube, es ist wie so oft bei neuen Ideen, dass viele erstmal zugucken, was geschieht und in welche Richtung es geht, bevor sie sich dann selbst einbringen.
In der Petition fordert ihr eine geloste BürgerInnenversammlung, geht aber noch nicht ins Detail. Nun kann man ausgeloste Bürger in vielfältiger Form miteinander sprechen lassen - habt ihr schon konkretere Ideen zum Verfahren?
Simone Orgel: Ein Vorbild für uns ist sicherlich Irland. Dort haben 99 per Zufall ausgeloste Einwohner im Auftrag des Parlaments über das Verbot der Abtreibung beraten, das Ergebnis wurde dann in einem Referendum zur Abstimmung gestellt, mit 66% haben sich die Iren dann deutlich für eine Aufhebung des Abtreibungsverbots entschieden. Aber wir treten mit unserer Petition für Offenheit ein, also auch was das konkrete Verfahren betrifft.
Auch das sollte im Prozess entwickelt werden, u.a. mit Leuten, die damit Erfahrung haben. Klar sind die Rahmenbedingungen: Die Auslosung muss repräsentativ sein, es braucht eine faire Information der Bürgerinnen und Bürger, damit sie sachkundig entscheiden können. Und die Beratungen müssen über einen längeren Zeitraum gehen, das ist ein zentraler Unterschied zum Volksentscheid, bei dem nur eine Frage gestellt wird, die mit ja oder nein, Zustimmung oder Ablehnung beantwortet werden kann. Das wollen wir gerade nicht, dafür ist das Thema Asyl, Migration, Zuwanderung viel zu facettenreich. Über den längeren Beratungszeitraum können und sollen alle Perspektiven eingebunden werden. Am Ende sollte es eine transparente Empfehlung für die Politik geben.
Gibt es denn schon Feedback aus der Politik, die beraten werden soll?
Dominik Schlett: Bisher noch nicht, aber wir sind sehr gespannt, und je mehr Leute unsere Petition noch unterschreiben, umso eher werden sich Politikerinnen und Politiker dazu äußern. Es gibt ja auch nicht die eine Politik. Die wichtigen Entscheidungen in Asylfragen werden von der Bundesregierung und dem Bundestag getroffen, aber die Kommunen müssen die Arbeit machen und haben da in den Jahren viel Erfahrung gesammelt, auch die soll in der gelosten BürgerInnenversammlung gehört und besprochen werden. Deshalb sollten auch Kommunalpolitiker für unsere Petition stimmen.
Die Petition ist recht spontan von euch beiden gestartet worden. Gibt es, von den vielen Unterzeichnern abgesehen, ein Netzwerk, einen Unterstützerkreis?
Simone Orgel: Wir konnten zum Glück neben den Social Media Kanälen recht schnell ein Netzwerk aufbauen, unter anderem eine Mailingliste mit derzeit rund 30 Unterstützern. Aber es ist ein offener Prozess, jeder darf dazukommen, wir freuen uns.
Zeitaufwand?
Dominik Schlett: Jeder wie er mag und kann - bei uns beiden ist es momentan fast Fulltime, weil so viel los ist und die Sache uns so wichtig ist. Aber dauerhaft können wir das auf dem Level natürlich nicht machen.
Mehr zu demokratischen Losverfahren gibt es im Blog www.Aleatorische-Demokratie.de.
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