Im Diskurs-Cyberspace

Thomas Meineckes neuer Roman "Musik"

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Dass Copyright-Ansprüche Schwachsinn sind, lässt sich im Prinzip für kulturelle Produktionen allgemein behaupten. Ein neuer Sound, eine Geschichte, eine theoretische Erkenntnis sind immer das Ergebnis von Kommunikation. Sie werden eben nicht von "Genies" erschaffen, sondern entstehen aus gesellschaftlichen Kontexten ("sie liegen in der Luft") und werden dann von Einzelnen, mehr oder weniger gekonnt, zusammengesetzt. Selten jedoch hat sich der Copyright-Text im Vorspann eines Buchs - "kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ... reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden" - so absurd gelesen wie bei Thomas Meineckes "Musik". Der 1955 in Hamburg geborene, jetzt wahlbayrische Musiker (FSK) und DJ veröffentlicht seit Mitte der 1990er Jahre Bücher, die sich wie literarische Projektionen von Sampling-Techniken lesen.

In "The Church of John F. Kennedy" (1996) und "Tomboy" (1998) versuchte Meinecke dabei noch, seinen aus Zitaten, Musik- und Diskussionsfragmenten zusammengeschnittenen Texten einen narrativen Rahmen zu geben. Imperfekt und allwissender Erzähler sorgten für eine bisweilen ziemlich hölzerne Atmosphäre, die wirkte, als habe der Autor seinen Text durch Zugeständnisse an Erzählkonventionen als Literatur kenntlich machen wollen.

In "Hellblau" (2001) und nun "Musik" (2004) hat Meinecke auf solche Kompromisse verzichtet und seine Methode radikalisiert. Er hat die Distanz zu seinen Personen aufgegeben und verschwendet keine Energie mehr auf jene Elemente, anhand derer gängigerweise Romane identifiziert werden: die Entfaltung eines Erzählstrangs und die Charakterisierung von Personen in Handlungssituationen. Meineckes Storys bestehen aus Diskursen. Drei oder vier inhaltliche Fragen werden in immer wieder neuen Zusammenhängen aufgeworfen. Wenn man so will, ist in diesen Büchern alles "in irgendeiner Weise reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet und vervielfältigt." Der Verweis zur elektronischen Musik liegt auf der Hand: Die Zusammensetzung von Zitaten kreiert neue Werke, die in ihrer Reproduziertheit von der Aura des Genialischen befreit sind.

"Hellblau" und "Musik" werden vom Verlag zwar unter dem Label "Roman" vermarktet, doch letztlich hat Meinecke etwas viel Interessanteres gemacht: Er hat eine Form gesampelt. Einen Prosa-Text, der gleichermaßen als assoziativer Mix, fragmentierter Essay und kulturwissenschaftliche Erzählung daherkommt.

Was ist an Ludwig II. und Claudia Schiffer cool?

Die inhaltliche Klammer bildeten in "Hellblau" die Fragen nach der Konstruktion von Hautfarbe und Geschlecht und nach dem Aufbegehren im Techno. Also: Wie wird jemand weiß, schwarz, jüdisch ...? Wie findet geschlechtliche Codierung einer Geste, eines Kleidungsstücks, eines Tanzes statt? Welche Musik bricht solche Zuschreibungen? Und welche Rolle spielt Techno darin?

"Musik" ist in dieser Hinsicht die konsequente Fortsetzung von "Hellblau", auch wenn die Rahmenhandlung neu bestimmt worden ist. Zwei Geschwister - Kandis und Karol; sie Schriftstellerin, er Steward - erzählen im Präsens und aus der Ich-Perspektive von Diskussionen, vom Lesen und Musikhören. Kandis arbeitet an einem literarischen Text, Karol - zwischen den Flügen - an einer Untersuchung. Das Thema ihrer Arbeiten überschneidet sich. Es geht erneut, jedoch klarer fokussiert als in "Hellblau", um die Entstehung von Gender. Kandis ist eine eher hetorosexuelle, maskuline Frau, Karol ein eher heterosexueller, femininer Mann. Und damit eröffnet sich ein im Verlauf des Buchs immer breiter werdendes Assoziationsfeld: "feminin", "effiminiert", "hetero-/ homosexuell", "camp" ...

Weil diese Art des Schreibens vom Prinzip her "flächig" ist, setzt sich nicht nur der Text aus horizontal angeordneten, einfach verlinkten Passagen zusammen, auch die Beschäftigungsfelder, die Meinecke für Kandis und Karol auswählt, werden so miteinander verwoben, dass die - trotz aller gegenteiliger Behauptungen nach wie vor existenten - hierarchisierenden Spaltungen zwischen Musik, Literatur und Philosophie bzw. "Hoch"- und Pop-Kultur ziemlich wirkungsvoll aufgehoben werden. Er fragt, wie Jazz, Funk, Soul & Disco gesellschaftliche Prozesse ausgelöst und reflektiert haben; wie Rockmusik eine Männlichkeit wieder zu rekonstituieren versuchte, die von Disco und Mode in Frage gestellt worden war. Was an Ludwig II. und Claudia Schiffer irgendwie cool ist und wie sich Nietzsche emanzipatorisch lesen lässt. Oder er berichtet ganz simpel, was zwischen Klatsch und Feuilleton gerade in der Zeitung stand.

Auf diese Weise verweigert sich "Musik" konsequent allen Zuordnungen. Meinecke stellt cultural studies-Fragen, aber untersucht dabei nicht, sondern erzählt. Er spricht - auch - über Pop und hält sich vom koketten Umgang mit Sprache und Codes der Jugend- und Musikkulturen, wie er für das popliterarische Schreiben der letzten Jahren kennzeichnend war, dennoch fern. Meineckes Schreibe ist geschliffen, um Exaktheit bemüht und trotzdem nicht ästhetisiert beziehungsweise - in die andere Richtung - akademisch. Direktes, unaufgesetztes Reden, dem es immer wieder gelingt, Neugier an Text zu wecken; und das, obwohl es doch eigentlich keinen Erzählbogen gibt.

Nicht von dieser Welt ...

Man hat den Eindruck, Meinecke habe bei der Wahl dieser Form drei Erkenntnisse im Kopf gehabt. Erstens: die Grenze zwischen wissenschaftlichem Text und Literatur ist fließend, d.h. jeder Text auch eine Erzählung und umgekehrt; zweitens: für das Verständnis von Texten ist es deshalb wesentlich, dass die Subjektivität der Sprechenden kenntlich gemacht wird, und drittens: die klassischen Erzähldramaturgien sind komplett erschöpft.

Das ist alles ziemlich schlüssig, klug und gleichzeitig angenehm unspektakulär gestaltet. Mein einziger Einwand gegen "Musik" wäre, dass das Buch trotz der gesellschaftlichen Fragen (die es immerhin zur Story hat) eigentlich nicht von dieser Welt ist. Letztlich verbleibt alles im Diskurs-Cyberspace. Das ist einerseits nice: eine Welt, in der man einfach immer nur nachdenken kann. Andererseits erinnert diese Künstlichkeit an eine Art bürgerlichen Post-Realismus: Orte, an denen nichts weh tut.

Kann man schon bei Judith Butler, auf die Meinecke immer wieder verweist, kritisieren, dass Unterdrückung mehr ist, als die Definitionsmacht beim Sprechen und Codieren, stellt sich die Frage bei Meinecke noch viel deutlicher. Die handfesten Zwänge, über die er eigentlich schreibt, manifestieren sich nicht. Folgerichtig verliert der Autor denn auch kein Wort über die Arbeitsverhältnisse seines Protagonisten Karol, jenes glücklichen postfordistischen Subjekts: In seinem elenden Scheißjob - ständig wechselnder Tagesrhythmus, ausgetrocknete Kabinenluft, nölende Geschäftsreisende - diskutiert der, natürlich gutaussehende, Steward fröhlich über Musik, Mode, Liebe und Theorie, als gebe es keine Abgestumpftheit durch den Arbeitsalltag.

Meinecke gibt seinen Personen nichts mit auf dem Weg, was sie artifiziell erscheinen ließe, jedes Gespräch könnte so geführt worden sein. Und doch hat man das Gefühl, sich auf einer Ableitungs-Ebene zu bewegen, in einem Computerspiel-Level, in dem der Wagen einfach nicht an die Wand gefahren werden kann. Hat Meinecke das wirklich so gewollt?

Thomas Meinecke: Musik, Suhrkamp 2004, 19,80 Euro, ISBN 3-518-41638-3
Thomas Meinecke: Hellblau, Suhrkamp 2001, 9 Euro, ISBN 3-518-45508-7