Im Herzen des Landes

Daniel Liebeskinds Hochhaus neben dem Kulturpalast. Bild: J. Pehrke

Warschaus Mitte zwischen Investoren-Architektur, Kunst und realsozialistischem Klassizismus

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Auch 25 Jahre nach dem Umbruch hat Polens Hauptstadt kaum zu einer neuen Identität gefunden. Noch immer dominiert der 234 Meter hohe Kulturpalast, ein "Geschenk" Stalins aus dem Jahr 1955, das Zentrum Warschaus. Lediglich ein paar neue Hochhäuser haben sich dem Monumentalbau zur Seite gestellt, um ihm die Stirn zu bieten. Aber Projekte wie Daniel Libeskinds Wolkenkratzer "Złota" tun sich mit ihrer auftrumpfenden Exklusivität schwer, freiheitlich-demokratischen Geist zu verkörpern. Darum erhebt seit einiger Zeit die Kunst Anspruch auf das "Herz des Landes" und reklamiert den Defilier-Platz vor dem Kulturpalast als Standort für ein Museum der modernen Kunst. Und nach mehreren ermüdenden Anläufen hat die Stadtverwaltung die Pläne vor einiger Zeit auch bewilligt und einem US-amerikanischen Architektur-Büro den Auftrag für die Realisierung erteilt.

Kulturpalast in Warschau. Bild: J. Pehrke

Seit 1955 beherrscht der Kulturpalast das Zentrum Warschaus. Errichtet auf der Brache, welche die Zerstörungen der deutschen Truppen hinterlassen haben, ragt der Sandstein-Bau 234 Meter hoch in den Himmel. Mit seinen Ausläufern, die zwei Theater, ein Schwimmbad, ein Kongress-Saal und ein Technik-Museum beherbergen, breitet er sich auch in der Fläche weit aus. Oberster Bauherr war Stalin, er machte der Stadt den "Josef-Stalin-Palast für Kultur und Wissenschaft" zum Geschenk.

Darum sah sich das Architekten-Kollektiv unter Leitung des Russen Lew W. Rudnew auch dem sozialistischen Klassizismus verpflichtet und stattete den Kulturpalast mit einem Säulen-Portal und antikisierenden Figuren aus. Das Team nahm jedoch auch Traditionen des Nachbarstaats auf, wovon etwa der Rückgriff auf die "polnische Attika" als Gestaltungselement bei den Turm-Abschlüssen zeugt. Nicht nur deshalb handelte es sich bei dem Präsent keinesfalls bloß um eine kulturimperialistische Macht-Demonstration, wenn die Warschauer den "Pałac Stalina" auch bald in "Palec Stalina", den "Finger Stalins", umtauften. Der Wolkenkratzer symbolisierte nicht zuletzt den neuen Glanz der Stadt nach den entbehrungsreichen Jahren des Wiederaufbaus, dessen Kosten die Sowjetunion zur Hälfte getragen hatte. Natürlich nicht nur aus uneigennützigen Gründen. Die durch die "Bruderhilfe" mit ermöglichten großflächigen Arbeiten nach 1945 halfen kräftig dabei mit, die nicht eben russophilen Polen wenigstens so halbwegs mit dem "Mutterland der Weltrevolution" auszusöhnen.

Nichtsdestotrotz bleiben nach Stalins Tod im Jahr 1953 die Pläne für die Rand-Bebauung des Areals in der Mitte der Hauptstadt unvollendet. An der östlichen Seite des Gebäudes, das jetzt nur noch "Palast für Kultur und Wissenschaft" (PKiN) heißt, entsteht stattdessen ein lang hingestreckter Riegel mit Kaufhäusern, immer wieder unterbrochen von Hochhäusern, die dem Kulturpalast etwas von seiner alles überstrahlenden Wirkung nehmen sollten.

Dieser Strategie folgen Ende der 60er Jahre auch die Architekten, die sich der Westseite widmen. Mit fünf hohen Türmen wollen sie die Skyline Warschaus variabler gestalten, sie können jedoch nur zwei von ihnen hochziehen: die neue Heimstadt für die Handelsbank und das Haus, das sich die Fluggesellschaft Lot und das Hotel Marriott teilen. Die anderen drei Bauwerke kann sich der Staat, der sich während der 80er Jahre in veritablen Wirtschaftsnöten befindet, nicht mehr leisten.

Wolkenkratzer vs. Kulturpalast

Nach 1989 erhoben sich sofort Stimmen, die forderten, den PKiN abzureißen. Diese Option sah die Ausschreibung für den 1991 initiierten Architektur-Wettbewerb zur Neugestaltung des Platzes rund um den Monumentalbau allerdings nicht vor. Die von der Jury ausgewählten Entwürfe schlugen stattdessen vor, sich wieder am Stadtplan der Vorkriegszeit zu orientieren und das Areal mit Straßen zu durchziehen.

Die Stadtverwaltung mochte sich mit den Projekten jedoch nicht anfreunden. Und auch die Hervorbringungen der später veranstalteten Wettbewerbe überzeugten sie nicht. So umschloss weder eine Ringstraße den Palast, noch rückten ihm Hotels, Büro-Häuser und Wohneinheiten auf die Pelle oder hegte ihn ein Halbkreis von gleich hohen Wolkenkratzern ein.

Auf dem Defilier-Platz, auf dem vor der Ehrentribüne einst die großen Mai-Paraden stattfanden und in der Spätzeit des Sozialismus Johannes Paul II den in Dachau von den Nazis getöteten Bischof Michał Kozal seligsprach, richteten sich unterdessen Flohmärkte und provisorische Supermärkte ein. Parkplätze nahmen das Gelände zusätzlich in Beschlag, Autofirmen nutzen es zur Präsentation ihr neuesten Modelle, und während der Fußball-Europameisterschaft 2012 warben dort alberne Antiken-Skulpturen mit Bällen in der Hand für den Event.

Hochhäuser, die dem "Palast für Kultur und Wissenschaft" die Lufthoheit streitig machen, entstanden dennoch. Der Fim-Tower von 1992 und der Illmet-Tower von 1995 wagten sich noch nicht allzu weit empor, aber am Ende des Jahrzehnts geht es so richtig los. Der Büro-Bedarf steigt, und die Investoren müssen bei ihren Projekten nicht mehr auf eigene Mittel zurückgreifen, weil inzwischen ein Immobilienmarkt existiert, der diverse Finanzierungsmöglichkeiten offeriert. Polens Hauptstadt steigt sogar in den Club der "Global Cities" auf und weckt das Interesse der Global Player in diesem Geschäft mit ihren Star-Architekten im Schlepptau.

Die Oberbürgermeisterin Hanna Gronkiewicz-Waltz formulierte ihre Erwartungen 2008 in einem Gespräch mit der irakischen Baumeisterin Zaha Hadid: "Ich will, dass neue Türme den Kulturpalast dominieren und unser Manhattan entstehen lassen." Und ihr Wille sollte geschehen. War es für das ungeliebte Geschenk schon zu Anfang des Jahrtausendwechsels durch das Hotel Intercontinental und das Warschauer Finanzzentrum schräg gegenüber auf der Emilia-Plater-Straße enger geworden, so kam ihm ab 2007 noch ein weiterer Wolkenkratzer ins Gehege.

Daniel Libeskind, 1946 in Łódź geboren und bis 1957 in Polen lebend, schickte sich an, ihm mit dem nach seiner Adresse "Złota 44" benannten Bauwerk den "höchsten, exklusiv dem Wohnen vorbehaltenen Turm in der ganzen Europäischen Union" vor die Nase zu setzen. 192 Meter misst er und bietet auf 54 Geschossen 251 Luxus-Appartements Platz.

Ausdrücklich als Symbol des neuen Polen möchte Libeskind sein Hochhaus verstanden wissen: "Früher lastete der Schatten des Palastes - wie der Schatten des Kommunismus - auf der Stadt. Aber Warschau ist nicht mehr in Schatten versunken. Jetzt klettert es nach oben, zum Licht und zur Freiheit." Dabei möchte er auch mit der Form seines Werkes die Wunden der Vergangenheit schließen. "Als die Kommunisten an der Macht waren, wurde der Adler aus der polnischen Flagge getilgt, und so ließ ich ihn in der emporschwingenden Gestalt des Gebäudes, das fast wie ein Flügel wirkt, wieder aufleben", sagte der Architekt.

So recht zum Höhenflug konnte das Gebäude allerdings nie ansetzen. Mochte Polen sich auch zum Transformationsmusterschüler entwickeln, so viele Millionäre für Wohnungen zum ursprünglich angesetzten Quadratmeter-Preis von 8.400 Euro hatte das Land nun doch noch nicht parat. Nur 50 Appartements fanden bis jetzt einen Abnehmer. Zusätzlich noch von der Finanzkrise gebeutelt, musste der Investor ORCO deshalb im Jahr 2009 die Bauarbeiten vorerst einstellen. Und als es wieder losgehen sollte, war die Baugenehmigung verfallen. Zudem lagen inzwischen Klagen von Anwohnern vor. Ihnen warf der Turm, der den Schatten des Kommunismus abschütteln wollte, selbst zu viele Schatten auf ihre Häuser. Lokalpolitiker gerieten in Panik und sahen schon das Schlimmste kommen: "Das Alte siegt über das Neue."

Aber schließlich durften die Kräne doch wieder anrücken. Aus den roten Zahlen kamen die Bauherren indes nicht. Banken forderten Kredite in Höhe von 83 Millionen Dollar zurück und die tschechische Firma mit Sitz in Luxemburg war gezwungen, sich von dem Złota zu trennen. Für den Schnäppchen-Preis von 63 Millionen Euro ging er Ende August an die US-amerikanische Fonds-Gesellschaft Amstar. Auf über 100 Millionen Euro bezifferte ORCO den Wertverlust der immer noch unvollendeten Immobilie, die der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" noch im Oktober mit als ein Symbol für die Properität des Landes galt. "Boomtown Warschau: Kaum ein europäisches Land wächst so schnell wie Polen", stand unter der Aufnahme von den Wolkenkratzern an der Emilia-Plater-Straße. Aber in den Himmel eben auch nicht, das musste nicht nur Daniel Libeskind erfahren.

Zaha Hadid mit ihrem "Lilium Tower" traf es noch ärger. Ursprünglich sollte ihr Projekt endgültig den Bann des Kulturpalastes brechen und mit 257 Metern deutlich über ihn hinauswachsen. Der Baubeginn des Wohnturms in Form einer den Namen des Investors in Glas und Beton verewigenden Lilie verzögerte sich jedoch immer wieder. Offenbar lässt sich so viel Fläche für so viel Geld nach der Finanzkrise kaum noch vermarkten. Der Entwurf von Hadid landete wegen zu hoher Baukosten einstweilen im Papierkorb. Lilium bastelt jetzt an anderen Nutzungskonzepten mit anderen Architekten und will sich höhenmäßig mit einem Meter Vorsprung vor dem PKiN begnügen. Ob das Ding wirklich einmal in den Sternen stehen wird, steht allerdings noch in den Sternen.

Ausschnitt einer Arbeit von Dan Perjovschi. Bild: J. Pehrke

Kunst "im Herzen des Landes"

Aber nicht nur wegen ihrer ökonomischen Probleme taugen die Wolkenkratzer nicht als Insignien der neuen Zeit. Auch die Hermetik und Exklusivität, mit der sie sich nach außen abschotten, lässt sie dafür ungeeignet erscheinen. Der auftrumpfende Gestus, mit dem sie sich dem Wettbewerb um ein paar Höhenmeter stellen und einen kalten Luftkrieg inszenieren, kommt dann noch erschwerend dazu. Und wenn die Bauten ihre Formen-Sprache nicht gleich platt dem Investor anschmiegen wie in Zaha Hadids Fall, so vermag man in den höheren Weihen, mit denen beispielsweise Daniel Libeskind seinen Tower ausgestattet hat, auch nicht mehr als eine platte Metaphorik zu erkennen. Demokratie sieht irgendwie anders aus.

Darum hat noch ein anderer Akteur seinen Anspruch auf Warschaus Mitte angemeldet: die Kunst. Sie reklamiert den Defilier-Platz vor dem Kulturpalast als Standort für ein Museum der modernen Kunst. Schon 2005 startete dazu ein Architektur-Wettbewerb, aber es wurde mal wieder eine unendliche Geschichte. Wegen zu strenger Auflagen warfen die Juroren die Brocken hin und im folgenden Jahr erfolgte eine neue Ausschreibung.

Als Sieger ging daraus der Schweizer Christian Kerez hervor. Er machte sich auch gleich frisch ans Werk, musste nun aber in realiter mit immer neuen Interventionen von Seiten der Stadtverwaltung umgehen und erwies sich dabei als zu wenig umgänglich - 2012 kündigte die Kommune seinen Vertrag. Das Museum in Progress hatte unterdessen bereits 2008 provisorisch in einem ehemaligen Möbelhaus auf der Emilia-Plater-Straße gegenüber des Palastes Quartier bezogen und beharrte auf seinen Forderungen. "Im Herzen des Landes" nannte es 2013 eine Ausstellung programmatisch. Und nicht nur topografisch wollte es dorthin vorstoßen, sondern auch ideell. "Seine Sammlung hat eine Mission, die Leere im Herzen" zu füllen, proklamiert der Begleittext zur Schau.

Ganz konkret will die Kunst an der Definition dessen, was Transformation für Polen bedeutet, mitwirken. Eine Baustelle hat sie auch schon ausgemacht: die Rückwärtsgewandtheit des Staates, seine Geschichtsbesessenheit. Diese ist zwar ob der leidvollen Geschichte Polens nur allzu verständlich, gilt jedoch vor allem Jüngeren mehr und mehr als bloßer Reflex mit eben so leeren wie eingespielten Ritualen. "Wir schlagen vor, 'die Zukunft näher zu bringen als die Vergangenheit'", schreiben die Kuratoren deshalb. Ihrer Ansicht nach hat die Kunst die Möglichkeit, "komplexere Narrative" zu entwickeln und ein neues "symbolisches Reich" zu erschließen, das dem Land dabei helfen kann, den Anforderungen der Gegenwart gerecht zu werden.

Ansicht des geplanten Museums. Bild mit freundlicher Genehmigung des Museums für moderne Kunst in Warschau und des TR Warschau-Theaters.

Der - allerdings nicht ganz ernst gemeinte - Slogan "Today’s Art Make Tomorrow’s Poland" von Cesary Bodzianowski empfing die Besucher von "Im Herzen des Landes" schon draußen. Er prangte auf einer großen Banderole, die fast das ganze Haus umgab. Drinnen thematisierten dann Künstler wie Dan Perjovschi ganz explizit die Stadtentwicklung in Warschau und die prekäre Lage der Kunst darin. Cartoon-artig resümierte er in kleinen Zeichnungen die ganze Architekturgeschichte der Stadt von der durchmischten Silhouette der Vorkriegszeit über den geraden "Tabula Rasa"-Strich von 1944 und dem wieder leidlich aufgelockerten Nachkriegsgruppenbild mit Kulturpalast bis hin zu dem nicht eben einladenden Ausblick auf eine homogenisierte Hochhaus-Kulisse.

Andere Arbeiten widmeten sich den Leerstellen der neueren Geschichte wie etwa den in Polens gegenwärtiger Politik kaum noch eine Rolle spielenden Frauen der Solidarność oder den jüngeren Kulturkämpfen um moderne Kunst. Aber die Schau ging auch in die Vergangenheit zurück; sie zeigte etwa Plastiken der 1973 verstorbenen Alina Szapocznikow. Und sie blickte zur Horizont-Erweiterung weit über die Landesgrenzen hinaus. Neben dem Rumänen Perjovschi bot sie auch Künstlern wie Jack Smith, Omer Fast, Ken Jacobs, Sarah Lucas und Teresa Margolles ein Forum.

Schließlich zahlte sich die Beharrlichkeit der Museumsleute aus. Ende Juli kam ein neuerlicher Architektur-Wettbewerb zum Abschluss und erteilte dem US-Amerikaner Thomas Phifer den Zuschlag. Er wird auf dem Defilier-Platz nicht nur das Museum für moderne Kunst, sondern auch noch ein Theater errichten und beide Gebäude, deren Außenwände komplett aus Glas bestehen, durch einen großen, überdachten Eingangsbereich verbinden. Das ist geeignet, "das unwirtliche und unfreundliche Areal im Herzen des Landes in einen lebendigen Platz, pulsierend vor Kultur" zu verwandeln, frohlocken die späteren Bewohner schon. Hellauf begeistert zeigen sie sich von der Offenheit, Transparenz und Einfachheit der beiden Bauten, die "im starken Kontrast zum monumentalen Charakter und zu der architektonischen Eitelkeit des benachbarten Kulturpalastes stehen". Ein "Symbol des zeitgenössischen Warschaus" erkennt die Museumscrew in den beiden Glaskörpern.

Im Jahr 2019 soll die "neue Mitte" rund um den PKiN fertig sein, mit dem die Warschauer inzwischen ihren Frieden gemacht haben - 2007 stellten sie ihn unter Denkmalschutz. Dann wird sich zeigen, ob die Kultur mit der ihr zugewiesenen repräsentativen Rolle in einem repräsentativen Gebäude nicht überfordert ist. Vielleicht war der provisorische Unterschlupf in dem ehemaligen Möbelhaus doch der ihr angemessenere Platz. Ihr künftiges Heim besitzt, soweit die Entwurfsbilder eine Beurteilung schon zulassen, zwar eine ansprechende Gestalt, könnte aber eigentlich überall auf der Welt seinen Platz finden.

Nach den ganzen Auseinandersetzungen um die Relikte der Vergangenheit und den rechten Weg in die Zukunft wäre es schön gewesen, gerade an diesem Ort einen Bau zu haben, der neben Offenheit und Transparenz als den typischen symbolischen Architektur-Formen für Demokratie noch ein Element besäße, das die spezifischen osteuropäischen Erfahrungen zum Ausdruck brächte. Aber diese Erfahrungen finden 25 Jahre nach dem Mauerfall in dem nun ubiquitären kapitalistischen Einerlei ja auch sonst kaum Berücksichtigung.