Im Jet zum Streckbett

Das Bundesverfassungsgericht zur Auslieferung in Länder, in denen de facto, aber nicht de iure gefoltert wird

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"Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines vanuatuischen, vormals indischen Staatsangehörigen, der sich gegen seine Auslieferung nach Indien zum Zwecke der Strafverfolgung wehrt, nicht zur Entscheidung angenommen," heißt es lapidar in der Presseerklärung des Gerichts. Indien hatte um Auslieferung des Betroffenen ersucht, dem kriminelle Verschwörung und Betrug vorgeworfen werden. Der Rechtsschutz endete beim Oberlandesgericht. Das Bundesverfassungsgericht wollte sich mehrheitlich mit den Befürchtungen des Betroffenen, in Indien gefoltert zu werden, nicht auseinander setzen.

Das "Leid-Motiv" des höchsten deutschen Gerichts war die Frage, welches Folterrisiko, welche Unmenschlichkeit der Behandlung von ausländischen Verdächtigen und Straftätern nicht mehr mit dem rechtsstaatlichen Gewissen der Bundesrepublik Deutschland vereinbar ist. Unstreitig ist, dass ein Verfolgter nicht ausgeliefert werden darf, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen erscheint. Dabei geht das Gericht sogar davon aus, dass Folterungen und Misshandlungen von strafverdächtigen Personen in Indien weit verbreitet sowie Folter eine häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode und ein Erpressungsmittel ist. Doch da es in Indien keine ständige Praxis umfassender oder systematischer Menschenrechtsverletzungen gebe und dem Betroffenen keine konkrete Gefahr von Folter drohe, sei seine Auslieferung rechtmäßig.

Zwei der acht entscheidenden Richter waren anderer Auffassung. Für sie war bis dato unzulänglich aufgeklärt, ob der Betroffene menschenunwürdigen Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte. So steht in einem Lagebericht des Auswärtigen Amts, dass sich fünfzig Häftlinge der "Kategorie C" eine Großraumzelle teilen und im Winter keine Decken haben. "Kategorie C" ist also unweit von George Orwells Raum 101 gelegen. Und das Auswärtige Amt, nicht etwa eine asylfreundliche Organisation, hatte ausdrücklich festgestellt, dass in Indien Folter eine häufig von der Polizei praktizierte Vernehmungsmethode ist.

Die Mehrheitsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht allzu überraschend. "Fragwürdig", meint Amnesty International. Gewiss, aber in diesem Bereich ist doch fast alles fragwürdig, ohne dass irgendwer klare Antworten parat hielte. Auch bei der verwandten Abschiebungsproblematik gibt es eine tendenziell einheitliche Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, Abschiebungen unter bestimmten Voraussetzungen nur dann für rechtswidrig zu erklären, wenn der Ausländer "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt" sein würde. Ein 50-%-Risiko, ermordet zu werden, fällt durch den Rost der Empfindlichkeiten des deutschen Rechtsstaats.

Grundsätzliche Achtung fremder Rechtsordnungen ist nach dem Verfassungsgericht Pflicht

Ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts "abwegig", wie es der Geschäftsführer des Deutschen Anwaltsvereins, Philipp Wendt, zumindest für den Begründungsteil feststellte, in dem sich das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an das Oberlandesgericht auf den deutsch-indischen Auslieferungsvertrag bezog. Bereits die Tatsache des Vertragsschlusses selbst mindere nach höchstrichterlicher Erkenntnis eine etwaige Gefahr für den Beschwerdeführer, weil aus ihm heraus Rechtspflichten für die Republik Indien in Bezug auf die Achtung des menschenrechtlichen Mindeststandards im konkreten Fall der Auslieferung erwachsen. Mit einem Wort: Sollte der Betroffene Prügel beziehen, könnte er seinen Peinigern entgegenhalten, dass das der völkerrechtlichen Übereinkunft widerspricht - so er denn nicht geknebelt sein sollte.

Aber auch die von der Mindermeinung angeforderte Sachverhaltsaufklärung hätte über das wahrscheinliche Schicksal des Ausgelieferten wohl wenig zu Tage befördert. Es liegt in der Natur bzw. besser: der Unnatur der Sache, dass offiziell verbotene, aber heimlich bis unheimlich praktizierte Folter ein kaum je auszulotendes Risiko darstellt.

Mehr Aufmerksamkeit als die gleichermaßen aporetische wie undelikate Folterprognose verdient folgender Passus der Entscheidung:

Das Grundgesetz geht nämlich von der Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft aus (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis 26 GG). Es gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten...auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen.

Warum eigentlich? In Fällen der vorliegenden Art kommt es zunächst nicht auf die fremde Rechtsordnung an, sondern auf die brutale Macht des Faktischen. Auch der real existierende Sozialismus hatte die Folter nicht in Verfassungsrang gehoben, was den unzähligen Opfern den Lageraufenthalt, Gulag oder Bautzen nicht angenehmer gemacht haben dürfte. Väterchen Stalin weiß nichts von alledem, hieß es ehedem. Von wegen, alle Väterchen kannten ihre staatserhaltenden Maßnahmen auf Kosten der Zivilgesellschaft.

Warum sollten fremdstaatliches Unrecht oder ein unmenschliches "laissez faire" des Staates, so verschwiegen hinter schalldichten Türen das alles exekutiert werden mag, überhaupt geachtet werden? Was elementar den hiesigen Auffassungen, nicht nur des Rechts, sondern auch der Ethik, der Moral im Sinne einer "minima moralia" und ihrer konkreten Praxis, zuwiderläuft, verdient keinerlei Achtung.

In moralisch elegante Gründe verpackte Zumutbarkeit von Unerträglichkeiten

Dass auch hier zu Lande die Auffassungen auseinander gehen können, hat der "Jakob von Metzler"-Fall gezeigt (Zurück ins Mittelalter?). Doch selbst diese Diskussion ist immer noch moralische Lichtjahre von der indischen Strafverfolgungspraxis entfernt. Ohnehin sind in diesen Tagen die Maßstäbe, die etwas anderen Methoden "demokratieuntauglicher" Staaten zu beurteilen, in Bewegung geraten. Wir erleben in Bushs amerikanischem Internationalismus und Tony Blairs Ausblicken auf die Demontage fremder Unrechtsregime (Invasion zur Weltverbesserung) doch gerade die Brüchigkeit fremder Souveränität.

Nachdem sich die Massenvernichtungswaffen als immer impotenter erwiesen, wurde im Fall des Führersturzes in Bagdad schließlich auch und gerade die humanitäre Situation, die Folterpraxis des Regimes - von westlichen Medien genüsslich bis voyeuristisch aufbereitet - zur Legitimation herangezogen. Eine Welt, die nolens volens zusammenrückt, wird sich, ob nun mit ehrenwerten oder eigennützigen Motiven, aus vorgeblich fremden Angelegenheiten nicht dauerhaft heraushalten. Achtungswürdig sind fremde Kulturen und Religionen nicht, wenn sie sich in Ungerechtigkeiten, drakonischen Gesetzen und Strafen, wie etwa der Steinigung unschuldiger Frauen, ergehen und erregen.

Insoweit spielt das andere Moment des Faktischen, das in der vorliegenden und vielen anderen Entscheidungen nicht thematisiert, aber vorausgesetzt wird, wohl die entscheidende Rolle: Deutschland ist nicht der Hort für die Geknechteten und Gepeinigten, die Witwen und Waisen, die Verdammten und Verlorenen dieser Erde. Diese Haltung, die immerhin praktische, wenn auch nicht moralisch elegante Gründe aufweisen kann, wird dann in Risikoerwägungen, unüberprüfbaren Gefahrendiskursen und anderer juristischer Software verpackt, um erträglich zu machen, was einem Menschen auf diesem Globus an Unerträglichkeiten so zustoßen kann. Erträglich wird freilich dadurch gar nichts.

Im vorliegenden Fall gab es eine sehr einfache, offensichtlich aber nicht in Betracht gezogene Maßnahme: Die indische Regierung hätte eine Garantieerklärung abgeben müssen, dass dem Mann keine Folter widerfährt und deutschen Behörden eine Kontrollbefugnis einräumen müssen. Doch das schickt sich diplomatisch nicht, ist im Kanon der Rechtsordnung nicht vorgesehen, wäre zudem von Indien nicht akzeptiert worden und schließlich: "Wo kämen wir da hin, da könnte ja jeder kommen."

Wie gut, dass wir keine flüchtigen Inder sind. Und wenn wir Inder wären, hätten wir gewiss eine Greencard. "Kategorie C" - das sind immer die Anderen.