Invasion zur Weltverbesserung
Tony Blairs originelles Konzept, die Souveränität fremder Nationen zur militärischen Knetmasse zu machen
Angriff ist die beste Verteidigung. Anders jedenfalls ist die neueste Selbstverteidigungsstrategie des angeschossenen britischen Premierministers Tony Blair kaum mehr zu verstehen (Alles ehrenwerte Männer), die er auf dem Progressive Governance Summit, einem Treffen von 14 Staats- und Regierungschefs in der Nähe von London, zum Besten gab. Wenn es schon nicht gelingt, Massenvernichtungswaffen in den Kellern ehemaliger Saddam-Getreuer zu finden und selbst jeder durchwühlte irakische Komposthaufen die Antwort auf quälende Fragen an die Bush- und Blair-Regierungen schuldig bleibt (Endlich gefunden: Die Wahrheitsvernichtungswaffen im hochmobilen Lügenlabor), muss eine andere Lösung gefunden werden. Eine Lösung, die Blair das politische Überleben sichert.
Tony Blair, der smarte Premier, der nicht nur im Fadenkreuz seiner politischen Gegner steht, sondern inzwischen auch von Mitgliedern seiner eigenen Partei zum Rücktritt aufgefordert wird, glaubt die geniale Antwort gefunden zu haben. Heureka: Es gibt noch ganz andere Gründe, sich über die Souveränität fremder Staaten hinwegzusetzen als lediglich der Besitz von völkerbedrohenden Massenvernichtungsmitteln. Was sind schon Massenvernichtungsmittel, wenn es um die allgemeine Glückseligkeit von Menschen in schlecht regierten Staaten geht?
Militärisches Rettungsprogramm bei Staatsversagen
Nach Blair muss daher auch ein Recht bestehen, ein Volk vor dem Versagen seiner eigenen Regierung zu schützen. Wer fremde Souveränität bestreitet, bestreitet allerdings zugleich seine eigene. Oberflächlicher Betrachtung nach wäre Blairs Doktrin auch dann anwendbar, wenn Bundeskanzler Schröder in Großbritannien nach dem Rechten sehen lässt, weil die britische Regierung in kriegentscheidenden Fragen versagt hat. Aber so hat das Tony Blair sicher nicht gemeint. Zusammengefasst lautet die neue Blair-Doktrin, die er den anderen Regierungschefs schmackhaft machen will:
Where a population is suffering serious harm, as a result of internal war, insurgency, repression or state failure, and the state in question is unwilling or unable to halt or avert it, the principle of non-intervention yields to the international responsibility to protect.
In diesem Bonus-Pack von Selbstermächtigungen, das die restriktiven Fallkonstellationen des Völkerrechts für Angriffskriege nun vollends liquidieren würde, sticht vor allem der Begriff "state failure", also Staatsversagen, hervor.
Wann versagt eigentlich ein Staat in Blairs Neuer Weltordnung so sehr, dass ihm mit Gewehrläufen der richtige Weg gezeigt werden muss? Wer setzt die Kriterien fest, wann ein Staat versagt hat und wann er selbst nicht mehr willens oder aber unfähig ist, das zu ändern?
Nach Blairs bisherigen politischen Vorgaben kann das sicher nicht vorrangig die UNO sein, sondern eine international verantwortliche Staatengruppe, vermutlich eben jene, die den Irak-Krieg geführt hat. Mit Blairs Doktrin wird nicht die Weltgemeinschaft, sondern werden die stärksten Militärmachthaber der Erde ermächtigt, über das zukünftige Wohl und Wehe des politischen Globus zu entscheiden. Das Völkerrecht, ohnehin ein zartes Pflänzchen mit schwachen Knospen, könnte also demnächst endgültig so zertrampelt werden wie eben jene Regierungen respektive Staaten, die in den Augen der Mächtigen versagen. Gibt es demnächst etwa analog zu den Maastricht-Kriterien die Regel, dass bei Unterschreitung bestimmter Marken des Bruttosozialprodukts und entsprechenden Armutstendenzen in ökonomisch schwachen Gesellschaften der casus belli ausgelöst wird?
Blairs Neue Weltordnung
Blair marschiert weiterhin in den für ihn erheblich zu großen Fußstapfen von George Bush II., der mit seiner Parole des amerikanischen Internationalismus eine weit reichende Hegemonialpolitik freizeichnen wollte. Das völkerrechtliche Prinzip der Nichtintervention wäre nach dieser neuesten Blankettermächtigung kein Prinzip mehr, sondern in kritischen Fällen allenfalls der Ausnahmefall. So reicht Blairs Neue Weltordnung der Missachtung fremder Souveränität noch erheblich weiter als die ohnehin bereits umstrittene humanitäre Ermächtigung der Völkergemeinschaft, die seinerzeit im Kosovo-Konflikt erfunden wurde, um auch ohne UNO-Mandat einen Krieg zu legitimieren.
Blairs Rettungsprogramm für "failing states" mag zwar unerhört im doppelten Wortsinne bleiben, weil etwa Bundeskanzler Schröder dem angeblich eine sofortige Absage erteilte. Aber jenseits der Konsensfähigkeit der neuesten Blankettformel liegt hier ein weiteres Indiz vor, dass die Tage souveräner Nationalstaaten gezählt sein könnten. Wie soll sich eine echte Souveränität erhalten, wenn der innere Zustand einer Gesellschaft zum Kriterium von Nothilfeaktionen fremder Staaten wird? Souveränität, bisher eine heilige Kuh des Völkerrechts, soll nun also endgültig notgeschlachtet werden.
Der blinde Fleck des Blair-Projekts ist der implizite Glaube, das politische System sei für die gesellschaftlichen Zustände im Guten wie im Bösen verantwortlich. Wird nämlich "Staatsversagen" mit gesellschaftlichem Wohlergehen übersetzt, kann bereits eine marode Wirtschaft in Verbindung mit Armut zum Kriegsgrund werden. Blairs Konzept ist - paradox genug - ein Begriff von Staatlichkeit eingeschrieben, der einem modernen soziologischen Begriff von gesellschaftlichen Konstitutionen und Reproduktionen fremd ist. Gerade in Ländern der Dritten Welt ist das Chaos gesellschaftlicher Zustände nicht lediglich eine Funktion unfähiger Regierungen - die es freilich zuhauf gibt -, sondern ein augenscheinlich perennierender Zustand, der die Wachablösungen von Regierungen bequem überdauert.
Blairs Demontage des Prinzips souveräner Staaten ist verdächtig, jene den vormaligen Kolonialstaaten überantwortete fragile Freiheit nun wieder zurückzufordern. Blair mausert sich zum neokolonialistischen Geschichtsrevisionisten mit gefährlich guten Absichten, wenn man für einen Moment den banaleren Grund, seinen eigenen unrettbaren Erklärungsnotstand in Sachen angloamerikanischer "Selbstverteidigungskrieg" gegen den Papiertiger von Bagdad, vergisst.
Erosion der Nationalstaatlichkeit
Alle Demokratien sind gleich, aber einige Demokratien sind ab heute gleicher (Politische Pädagogik oder der Befehl zur Freiheit). Alle Staaten sind souverän, aber einige Staaten sind souveräner. Für alle Staaten gäbe es danach eine innere und eine äußere Legitimation. Erst wenn auch auf der zweiten Stufe internationaler Anerkennung - d.h. gegenwärtig der Anerkennung durch die angloamerikanischen Globalregulatoren - nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Tauglichkeit eines Staatsapparats bejaht würde, hätte eine Regierung echte Überlebenschancen. Mit dieser neuen Allzuständigkeit der Alliierten auch ohne UNO-Mandat würde in Zukunft auf militärisch starken Nationen ein permanenter Zugzwang lasten, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen.
Asien, Afrika, Südamerika böten zahlreiche neue Anwendungsfälle dieser Doktrin. Ganze Gesellschaften und ihre Staaten müssten umgekrempelt bzw. runderneuert werden. Das alles wäre zudem mit dem unauflöslichen Risiko behaftet, das sich jetzt in Afghanistan und im Irak zeigt, dauerhaft instabile Krisenregionen zu zementieren. Für diese Schwäche der humanitären Aufrüstung fremder Gesellschaften hat die Blair-Doktrin freilich noch keine Lösung gefunden. Paul Kennedys Aussagen zum Aufstieg und Fall der großen Mächte durch immer größere, volkswirtschaftlich nicht mehr zu bewältigende Militärausgaben könnten sich in diesem Selbstverständnis erneut bestätigen, wenn schließlich die selbst ernannten Weltkommissare an eigener Entkräftung untergehen.
So unannehmbar die neueste "carte blanche" erscheint, versteckt sich zumindest aber auch dahinter der Glaube, die Probleme von Gesellschaften aus der Partikularität nationalstaatlicher Perspektiven lösen zu müssen. Auch in Blairs Präskript einer militärisch "befriedeten" Welt nistet ähnlich wie im Antiterror-Kampf die Dialektik, dass die Nationalstaatlichkeit in einer mannigfaltig konnektierten Welt auf beiden Seiten der Front ein antiquiertes Format für gesellschaftliches Handeln ist.
Das macht Blairs Vorschlag gegenwärtig allerdings nicht besser. Völlig überflüssig zu sagen, dass der neu entdeckte britische Internationalismus jetzt nur noch von den Vertretern der Freien Welt gegenzuzeichnen wäre und der wider besseres Wissen vom Zaun gebrochene Irak-Krieg wäre legitim. Tony Blair aber darf weiter regieren. Vielleicht erleben wir indes nur noch die letzten Stoßseufzer des ehedem so relativ geschickt sich selbst inszenierenden Premiers, der den texanischen Tiger reiten wollte und dabei vergessen hat, dass er in Europa lebt. In Alteuropa!