Im Medienzirkus: Die Handlungsreisende der Wahrheit vs. Mister X

Seite 2: Blick in die Gosse

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Einen Höhepunkt seiner Laufbahn erlebt Giuseppe Sotgiu, Mutos Verteidiger. Sotgiu ist Kommunist und der Schrecken der katholischen Kirche, seit er zum Präsidenten der Provinzialverwaltung von Rom gewählt wurde. Der Prozess bietet ihm die Bühne für das ganz große Polittheater. Gegeben wird das Stück von der Korruptheit der bürgerlichen Klasse, der Regierung und der Kirche (ausgenommen die Jesuiten, weil man mit ihnen auch die Hauptbelastungszeugin schwächen würde), mit Sotgiu als Italiens "Moralist Nummer 1", wie ihn Ingeborg Bachmann in ihren Römischen Reportagen nennt. Sekundiert wird ihm vom kommunistisch orientierten (und finanzierten) Teil der Presse. Italiens KP hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie die Skandalisierung als legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung betrachtet. Wenn die Christdemokraten und ihre Verbündeten zu beschädigen sind, indem man das unmoralische Verhalten der vermeintlichen Hüter der Moral entlarvt, ist das den Kommunisten recht.

Nur Adriana Bisaccia, die zweite "Tochter des Jahrhunderts", ist eine Fehlbesetzung. Sie wirkt eingeschüchtert, wirr, dem Ansturm der Medien nicht gewachsen, macht Erinnerungslücken geltend, behauptet entgegen früheren Aussagen, Wilma nie begegnet zu sein. Das ruft die bunten Blätter auf den Plan, die bemüht sind, diese dramaturgische Schwäche auszugleichen, indem sie das Ganze von der individuellen auf die generelle Ebene heben. Die Zeitschrift Oggi zitiert La Bisaccia mit der Bemerkung, dass sie Wilma zwar nie traf, es aber trotzdem eine Verbindung zwischen ihr, La Montesi und La Caglio gibt, weil sie alle drei moderne junge Mädchen sind (bzw. waren) und nicht mehr bereit, so zu leben, wie es die Tradition von ihnen verlangt.

Adriana Bisaccia

Halten wir kurz fest, dass man von der echten Wilma Montesi bis heute mit einiger Sicherheit nur weiß, dass sie ertrank, dass sie keinen Beruf erlernt hatte, weil das in einer konservativen Mittelstandsfamilie wie der ihren nicht erwünscht war und dass sie mit einem kleinen, in der Provinzstadt Potenza stationierten Polizisten verlobt war. Bei Wilma Montesi der Medienfigur ist das anders. Der Spiegel macht sie im September 1954 zur "Halbweltdame", im Magazin Master Detective (Oktober 1954) wird sie zum Model, und bei wikipedia.de ist sie immer noch ein "Mode-Modell", während ich das schreibe. Öfter ist zu lesen, sie habe in Filmen mitgewirkt. Das ist das Resultat einer Verwechslung. Bruna Montesi, mit Wilma nicht verwandt und nicht verschwägert, spielt eine Mini-Rolle ohne Dialog in Roman Holiday. Am Ende, bei Audrey Hepburns Pressekonferenz, steht sie seitlich versetzt hinter Gregory Peck.

Nach dem enttäuschenden Auftritt von Tochter des Jahrhunderts Nummer 2 gelingt dem Muto-Team ein Coup. Duilio Francimei - Maler, Morphinist und bis vor kurzem der Liebhaber von Adriana Bisaccia - wurde von der Polizei in eine Anstalt für geisteskranke Straftäter gebracht, dort kahl geschoren und in eine Zwangsjacke gesteckt, ohne dass man je herausfinden wird, wer das angeordnet hat. Als die Verteidigung davon erfährt, lässt sie ihn vorladen. Der Maler erzählt von Adrianas Telefonaten mit vermeintlich hochrangigen Persönlichkeiten, weiß aber nichts Konkretes und kann keine Namen nennen. Anwalt Sotgiu, dessen Verteidigungsstrategie darin besteht, dass er zum Angriff auf Regierung und Establishment bläst, punktet trotzdem. Am Abend vor Francimeis Aussage werden bei einer Razzia in den Bars rund um die Via Margutta etwa 200 Personen festgenommen. Die Ausländer unter den Aufgegriffenen werden des Landes verwiesen, die nicht in Rom geborenen Italiener in ihre Heimatorte abgeschoben. Schließlich hat man noch dieses Gesetz aus der Mussolini-Zeit zur Verfügung, das auch der Marchese bei seinen Geschäften für sich nützt. Eine solche Polizeiaktion hat es seit dem Krieg nicht mehr gegeben. Sie wird allgemein als Versuch der Behörden gewertet, die Leute aus dem Künstlerviertel einzuschüchtern, weil etwas verborgen werden soll.

Anna Maria Caglio sagt insgesamt drei Tage lang aus, mit Unterbrechungen. Obwohl es eine große Bereitschaft gibt, der Handlungsreisenden der Wahrheit zu glauben, sind viele doch überfordert, als sie berichtet, dass sie, während einer ihrer Trennungen von Montagna in Florenz im Kloster Zuflucht suchend, mit dem dortigen Bürgermeister gesprochen und den Rat erhalten hat, dem damaligen Ministerpräsidenten De Gasperi alles zu enthüllen. Danach, sagt sie, hat sie zwei Briefe geschrieben, einen an den Papst und einen an die Regierung, worauf sie von Innenminister Fanfani nach Rom gerufen und von einem Offizier der Carabinieri namens Pompei verhört wurde. Fanfani habe Oberst Pompei mit Ermittlungen beauftragt. Im Gerichtssaal bricht ein Tumult aus. Einige Kommentatoren werden später fordern, Anna Maria Caglio zur Überprüfung ihrer Aussagen zur Bocca della Verità zu bringen. Die Stimmung ist inzwischen so hysterisch, dass offen bleiben muss, ob das ernst gemeint ist oder nicht.

Roman Holiday

Jedenfalls haben die Kommentatoren wohl das Original im Sinn und nicht die vergrößerte Kopie im Cinecittà-Atelier, die Gregory Peck in Roman Holiday Audrey Hepburn zeigt (obwohl es immer schwieriger wird, zwischen Realität und Kino zu unterscheiden, weshalb Karen Pinkus ihr Buch The Montesi Scandal konsequenterweise in Form eines Film-Treatments geschrieben hat). Der "Mund der Wahrheit" ist ein scheibenförmiges Relief in der Kirche Santa Maria in Cosmedin und seit dem Film, mit dem Audrey Hepburn zum Star wurde, eine Touristenattraktion. Der Legende nach wird einem die Hand abgebissen, wenn man sie in die Mundöffnung des Reliefs steckt und lügt. Historikern zufolge war die Scheibe ursprünglich ein Kanaldeckel. In einem Montesi-Film sollte sie enthalten sein. Für einen großen Teil der Öffentlichkeit wurde der Skandal mehr und mehr zum Blick in eine Kloake dicht unter der glamourösen Oberfläche von Rom.

Intrigen

Statt Anna Maria Caglio zur Bocca della Verità zu schicken, lässt das Gericht bei den Carabinieri und im Innenministerium anfragen, ob an ihren Behauptungen etwas dran sein könnte. Es stellt sich heraus, dass es Oberst Pompei und seinen für Fanfani angefertigten Geheimbericht tatsächlich gibt. Der Schwarze Schwan hat nicht gelogen. Hier ist ein Ausflug in die italienische Innenpolitik erforderlich. 1953, nach Alcide De Gasperis Abgang als Regierungschef, war damit zu rechnen, dass er nicht mehr lange Parteivorsitzender sein würde (einer der ihm folgenden Kurzzeit- Ministerpräsidenten, Giuseppe Pella, berief zwar auch Parteipolitiker in sein Kabinett, wird aber trotzdem als Führer der ersten Technokratenregierung Italiens gehandelt, wenn die jetzige Regierung Monti historisch eingeordnet werden soll). Es ging nun um die Frage, wer sein politisches Erbe antreten sollte. Der dadurch ausbrechende Machtkampf innerhalb der Democrazia Cristiana war auch ein Richtungsstreit. Amintore Fanfani, der Vertreter des linken Flügels, wollte die Partei erneuern und für andere Koalitionen öffnen, was die Kalten Krieger in der US-Botschaft extrem beunruhigte. Sein gefährlichster Rivale um den Parteivorsitz war Attilio Piccioni, Außenminister unter De Gasperi und in den meisten der nun häufig wechselnden Regierungen. Piccioni war der Favorit von Staatspräsident Einaudi, sehr konservativ und sehr katholisch, ein Kommunistenhasser und auf einer Linie mit Innenminister Scelba, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden, rechtsstaatlich nicht immer einwandfreien Mitteln gegen die Linken vorging. Und er war der Vater von Piero Piccioni, im Muto-Prozess als Mister Y identifiziert.

Fanfani hatte sich mit Noch-Parteichef De Gasperi arrangiert und Scelba abgelöst, als Anna Maria Caglio ins Innenministerium kam, um von Ugo Montagnas und Piero Piccionis Verwicklung in die Montesi-Affäre zu erzählen. Damit wäre sie selbst dann in den Machtkampf bei der DC geraten, wenn sie alles frei erfunden und keiner der Beteiligten Wilma Montesi je getroffen hätte. Denn für seine Gegner vom rechten Flügel der Partei hing viel davon ab, wie Fanfani reagieren würde. Die Ermittlungen im Fall Montesi oblagen bisher der Staatspolizei, in Rom von Polizeipräsident Saverio Polito geführt, der seinerseits dem italienischen Polizeichef Tommaso Pavone unterstand. Einer der wichtigsten Bausteine der Vertuschungs-Theorie ist Anna Maria Caglios Behauptung, gesehen zu haben, wie Montagna und Piccioni jun. in der Nacht des 29. April 1953 in den Palazzo del Viminale gingen (Amtssitz des nationalen Polizeichefs), um über ein "Problem" (den Tod Wilma Montesis) zu sprechen. Pavone, 1952 vom damaligen Innenminister Scelba von Mailand in die Hauptstadt geholt, war ein Freund Montagnas und diesem zu Dank verpflichtet. 1943, als er von den Nazis verhaftet worden war, hatte der Mann mit den vielen Kontakten seine Freilassung erwirkt und ihm damit vermutlich das Leben gerettet. Der Marchese war dafür bekannt, dass er Freunde gern mal um einen Gefallen bat.

Es erscheint nachvollziehbar, dass Fanfani angesichts dieser Gemengelage einen Mann aus einer anderen Polizeiorganisation, den Carabiniere Umberto Pompei, mit Nachforschungen dazu beauftragte, was im Fall Montesi bislang geschehen war. Trotzdem wurde ihm das später als Tabubruch angelastet. In Italien war (und ist) es nicht anders als bei uns. Zwischen den verschiedenen Polizeiorganisationen gibt es Rivalitäten und Kompetenzüberschneidungen, und man kontrolliert sich lieber selbst. Fanfanis Entschluss war unerhört. Hinterher wurde er verdächtigt, dass er im Hintergrund die Fäden zog, um seinen innerparteilichen Konkurrenten Attilio Piccioni auszuschalten, Schlüsselpositionen bei der Polizei mit eigenen Leuten zu besetzen und die kaltzustellen, die Scelba dort installiert hatte. Dagegen kann man einwenden, dass Fanfani auf seine Weise ebenso gläubig war wie Piccioni. Eine Adriana Bisaccia wäre gar nicht zu ihm vorgedrungen. Aber in dem Moment, in dem in Gestalt von Anna Maria Caglio eine durch die Empfehlung der Jesuiten beglaubigte Zeugin bei ihm erschien waren ernsthafte Ermittlungen unvermeidlich. Waren also doch die Jesuiten die Drahtzieher? Bei Verschwörungstheorien ist es meistens so, dass es, wenn nicht die einen, dann eben die anderen waren - was noch nicht bedeutet, dass es nie eine Verschwörung gab.

Schwer vorstellbar ist jedenfalls, dass das Verhalten der Akteure im Fall Montesi nicht von der politischen Situation beeinflusst wurde. Dafür ging es um zu viel: um den Ruf der Institutionen, um die Macht der Democrazia Cristiana und deren Politik, womöglich um Italiens Westbindung und die europäische Einigung. Als Anna Maria Caglio von Abendessen in der Jagdhütte des Marchese berichtete, bei denen alle nackt am Tisch saßen, wurden in Verhandlungszimmern - in Anzug und Krawatte, nehme ich an - die Grundlagen der Europäischen Union und des Euro gelegt. Das beschreibt die ganze Bandbreite des Skandals. Sollte Fanfani tatsächlich versucht haben, mit Hilfe dieser Affäre an die Macht zu kommen (den Vorwurf wurde er bis an sein Lebensende nicht mehr los), erwiesen sich seine Gegner als die besseren Strippenzieher. Vielleicht war es schlechtes Timing, oder einfach Pech.

Wegen einer Erkrankung des Angeklagten begann der Prozess gegen Muto nicht wie geplant am 6. Januar 1954, sondern erst am 24. Am 28. Januar beschuldigte Muto Montagna und Piccioni jun., Mister X und Mister Y zu sein, doch die Aussage seiner Zeugin, der Handlungsreisenden der Wahrheit, ließ bis März auf sich warten. Am 13. Januar, nach dem Scheitern von Giuseppe Pella (Ministerpräsident seit August 1953), erhielt Fanfani den Auftrag zur Regierungsbildung. Damit war er fast am Ziel. Am 17. Januar entschloss er sich zu einer Minderheitsregierung, weil sich einige der kleinen Zentrumsparteien einer Koalition verweigerten. Der langjährige Außenminister Attilio Piccioni, sein Gegenspieler, war nicht mehr im Kabinett. Am 28. Januar wurde der Muto-Prozess vertagt. Am 30. Januar verlor Fanfani eine Vertrauensabstimmung im Parlament.

Am 9. Februar erhielt Mario Scelba, Fanfanis Vorgänger als Innenminister, den Auftrag zur Regierungsbildung. Ende Februar gewann er die Vertrauensabstimmung, an der Fanfani gescheitert war. Vorher gab es eine von wüsten Beschimpfungen begleitete Debatte, bei der es irgendwie auch um Politik ging, viel mehr aber um ein Photo, das der kommunistische Paese Sera am 18. Februar abgedruckt hatte. Darauf waren Scelba und Montagna als Gäste bei der Hochzeit des Sohnes von Giuseppe Spataro auf Sizilien zu sehen. Giuseppe Spataro? Ich weiß, bei dieser Geschichte muss man sich mehr Namen merken als bei einem russischen Roman, die Hälfte der Protagonisten heißt Giuseppe, und der wichtigste von ihnen kommt erst noch. Darum zur Erinnerung: Spataro, damals Postminister, war der Freund von Montagna, in dessen Vorzimmer Anna Maria Caglio den Marchese kennenlernte. Bei Scelba wurde Piccioni wieder Außenminister. Fanfani, nun ohne Amt, war vorerst geschlagen. Anfang März, als die Regierung Scelba ihre erste Bewährungsprobe überstanden hatte, wurde der Muto-Prozess wieder aufgenommen. All das kann Zufall sein. Ziemlich verwickelt ist es aber schon. Wie Wilma Montesi in dieses Puzzle passt, und ob sie überhaupt etwas mit den anderen Akteuren zu tun hatte, darüber lässt sich bis heute trefflich streiten, weil viel ans Licht kam, ohne wirklich aufgeklärt zu werden.

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