Im Meer des Nicht-Kriegs
Wenn Krieg und Frieden verschwimmen
Lange Zeit herrschte Unklarheit darüber, ob die deutsche Bundeswehr Aufklärungsflugzeuge nach Afghanistan entsendet. Fraglich war, ob das bestehende Bundestagsmandat für die Bundeswehr-Beteiligung an der ISAF-Mission den Einsatz deutscher Tornados, der das gesamte Afghanistan betreffen wird, deckt. Fraglich ist nach wie vor, ob die Tornados nicht doch für mehr als nur Aufklärung genutzt werden oder, falls nicht, ob Aufklärung nicht ein operativer Teil eines Kampfeinsatzes wäre. Ein neues Mandat wurde beantragt, die Entsendung vom Bundestag beschlossen, im April sollen 6 bis 8 Flugzeuge und weitere Soldaten nach Afghanistan geschickt werden. Allerdings haben Gauweiler (CDU) und Wimmer (CSU) vorm BVG geklagt: Sie halten den Tornadoeinsatz für eine Verletzung des Völkerrechts, da er eine Beteiligung am „Krieg der USA“ darstelle. Ihnen wurde nicht Recht gegeben. So werden auch weiterhin deutsche Soldaten nicht in den Krieg ziehen – denn jede Anwendung von Gewalt über die Grenzen eines souveränen Staates hinweg, die „Krieg“ im Schilde führt, wäre völkerrechtswidrig. Wo liegt der Unterschied?
Zwischen Krieg und Frieden
Egal, ob in Afghanistan, Irak, Nahost – es finden „militärische Interventionen im Kampf gegen Terroristen“ und „Schurkenregime“ statt, „bewaffnete Auseinandersetzungen“, „Konflikte“, „Krisen“, „Antworten auf Gewaltaktionen“ „Einsätze zur Friedenssicherung“, aber kein Krieg. Angesichts der Vielzahl von Todesopfern, die tagtäglich von den Medien gemeldet werden, kann jedoch von Frieden erst recht keine Rede sein.
Diese begriffliche Unentschiedenheit, die sowohl den massenmedialen Diskurs als auch den politischen kennzeichnet, scheint mehr zu sein als ein Euphemismus. Vielmehr kann sie als Indiz für eine weltgesellschaftliche Lage der Indifferenz verstanden werden, eine Lage zwischen Krieg und Frieden, für einen Zustand des Nicht-Krieges. So lautete auch die Ausgangsthese der Tagung Nicht-Krieg. Zwischen Krieg und Frieden, die die Bauhaus Universität Weimar zusammen mit dem Kolleg Friedrich Nietzsche Mitte Februar in Weimar veranstaltete. Im Gegensatz zur Diskussion um die Thematik der „Neuen Kriege“, „asymmetrischen Kriege“ oder „irregulären Kämpfer“, wie sie bereits unter Politologen, Historikern, Völkerrechtlern oder in war studies stattgefunden hat, ging man in Weimar nicht einfach von einer Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln aus. Vielmehr fasste man das Problem des Nicht-Kriegs laut Niels Werber (Weimar) „als transdisziplinäre Herausforderung für die Beschreibung unserer Gesellschaft und nicht nur ihrer militärischen Konflikte“ auf.
Für die klassischen Theoretiker der Politologie oder der Kriegsführung war die Welt noch geordnet: entweder es herrschte Krieg oder Frieden. Sowohl in Thomas Hobbes Leviathan als auch in Carl von Clausewitz’ Vom Kriege schließen sich Krieg und Frieden gegenseitig aus und gehen einen scharfen Dualismus ein, der kein Dazwischen zulässt.
Doch diese binäre Ordnung hat ausgedient. Die heutigen Kämpfe folgen keinem klaren Frontverlauf mehr und werden allenfalls durch Waffenruhen unterbrochen; sie involvieren Soldaten wie Zivilisten gleichermaßen und verwischen die Grenze zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten. Krieg und Frieden sind ineinandergeflossen und lassen sich weder nach räumlichen oder zeitlichen Kriterien noch hinsichtlich der Beteiligten trennen: es herrscht Nicht-Krieg.
Doch was bedeutet diese „Enthegung des Krieges“ für die Gesellschaft? Welche Auswirkungen hat der Verlust begrifflicher, politischer, rechtlicher, kultureller Bestimmtheit, die mit dem Gegensatzpaar Krieg und Frieden einherging?
Die Vorhersehbarkeit der Normabweichung
Mit Michel Foucault lässt sich die Gesellschaft im Nicht-Kriegszustand als diejenige postsouveräner Gouvernementalität beschreiben, welche durch polizeiliche Maßnahmen, Prävention, Kontrolle und von einem Sicherheitsdiskurs gekennzeichnet ist. Sie rechnet damit, dass überall und zu jederzeit Kämpfe, Angriffe, gewaltsame Konflikte auftreten können – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Alles ist erwartbar geworden, kann mithilfe von Statistiken und Durchschnittswerten in seiner Wahrscheinlichkeit berechnet und somit vorhergesehen werden. Gefahren sind zu Risiken geschrumpft, gegen die man sich versichern kann, die aber ebenso zur Rechtfertigung dienen, dass der Einzelne Kontroll- und Sicherheitsmechanismen unterliegt.
Das Individuum wird zur statistischen Größe, individuelles Verhalten zur Normerfüllung oder -abweichung degradiert und so ins normalistische System integriert, was dieses wiederum in jedem Fall bestätigt. Letzteres lasse sich, so Niels Werber, auch für den Folterskandal von Abu Ghraib konstatieren, in dem das Verhalten der Soldaten schließlich als abnormal beurteilt wurde, nicht die Lage an sich. Hierdurch läge die Verantwortung für die Misshandlung von Gefangenen nicht mehr auf Seiten der US-Regierung. Entscheidend sei jedoch, dass die in Abu Ghraib ausgeübten folterartigen Praktiken als „im Ausnahmefall erwartbar“ eingestuft wurden. Denn die normalistische Diskursivierung, genauer: die Feststellung der Normalität von Normbrüchen, die mit völkerrechtlicher Norm nicht mehr zu messen sei, mache Abu Ghraib zu einem Nicht-Kriegsfall.
Allerdings wäre es äußerst kurzsichtig, die neuartigen Kämpfe und Konflikte nur als Ursache für den Nichtkriegs-Zustand der Gesellschaft zu sehen. Vielmehr lässt sich eine gegenseitige Wechselwirkung erkennen. Ein Blick auf das geänderte Strategische Konzept der NATO, seit 1999 in Kraft, genügt um sich vor Augen zu führen, dass eben jene Logik des Vorhersehbaren und der Wahrscheinlichkeit zu militärischen Interventionen, die nicht mehr als Krieg begriffen werden können, führt. Außer dem „Bündnisfall“ nennt das „Strategische Konzept“ seit der Änderung auch „Konfliktverhütung“ und „Krisenbewältigung“ als Möglichkeiten militärischer Gewaltanwendung; Sicherheitsgefahren für das Bündnis könnten „aus vielen Richtungen“ auftreten und seien „schwer“ – aber eben dennoch – „vorherzusagen“. Dieses neue Selbstverständnis der NATO als Weltpolizei legitimierte und legitimiert die sogenannten „preemptive strikes“ der USA, wie auch die kürzlich begonnene Frühjahrsoffensive der ISAF-Truppen im Süden Afghanistans.
Jeder ist ein potenzieller Feind
Trotz oder gerade wegen der Allgegenwart des Sicherheitsdiskurses und der mit ihm verbundenen Maßnahmen belegt dieser doch im Grunde eine tiefe Unsicherheit. Nicht nur Krieg und Frieden sind ungewiss, in postsouveränen Nicht-Kriegszeiten sind auch Freund und Feind zu verwirrten und verwirrenden Kategorien geworden. Mit der Dissolution souveräner Macht, bei Carl Schmitt der sichere Garant für die Unterscheidung von Freund und Feind, scheint sich die Distinktion selbst aufgelöst zu haben. Das heißt allerdings nicht, dass der Nicht-Krieg Feindbilder abgeschafft hat, im Gegenteil – er zeitigt deren inflationären Gebrauch, da der Feind als solcher nicht mehr erkennbar ist. War der Feind früher als politische Größe, als eindeutige Bedrohung von außen gefasst, lässt ihn der Zerfall der politischen Freund-Feind-Dichotomie, d.h. die Entpolitisierung des Feindbegriffs, ins Innere der Gesellschaft wandern: Jeder kann zum Feind werden, ist potentieller Schläfer, Amokläufer, Terrorist.
Insbesondere an der Figur des Terroristen wird, das stellte Eva Horn (Basel) in ihrem Vortrag heraus, deutlich, wie sich die Konzeptionalisierung des Feindes gewandelt hat. Schlagwörter im Diskurs des „War on terror“ wie „Terrornetzwerk“ oder „Netwars“ zeigen eine veränderte Rede vom Feind an, die nicht seine Zielsetzung beschreibt, sondern wie er agiert: Die neuen Bilder des Feindes sind die der „shadowy and shady networks“ oder des „Schwarms“. Indem der Focus aber auf die Operationsweise verschoben wird, finde, so Horn, eine Entpolitisierung des Feindes statt, die den Terrorismus auf das Individuum reduziert.
Diese Neufassung des Feindes, allen voran das Problem, ihn zu (er)kennen, hat bereits zu gravierenden Veränderungen des US-Militärs geführt, die Stefan Kaufmann (Freiburg) aus soziologischer Perspektive und Thomas Rid (Paris) aus der praxisorientierten Sicht des Militärberaters darlegten. Angesichts der neuen Anforderungen haben sich sowohl Ausbildung als auch Selbstverständnis der Soldaten gewandelt; Disziplinierungsmaßnahmen, welche den Soldaten auf eine bestimmte Funktion festlegten und ihn zur Identifikation mit dieser brachten, seien nicht mehr angemessen.
Anstelle des klassischen Soldaten wird nun der wandlungsfähige „multi skilled warrior“ ausgebildet und ein Kämpfer-Ethos für das ganze Militär etabliert, was die Homepage der US-Marines unmissverständlich proklamiert. Der neue „warrior“ vermag sich jeder Situation immer wieder neu anzupassen. Er muss, so Thomas Rid, einerseits mit dem freundlich gesinnten Iraker umgehen können, die kulturellen Gegebenheiten respektieren, „Herzen und Köpfe erobern“; andererseits aber sofort reagieren können, wenn sich sein Gegenüber als Terrorist entpuppt. Er ist Polizist, Entwicklungshelfer, Kämpfer, Ethnologe, Techniker, Berater in einer Person – und diese Indifferenz lässt darauf schließen, dass die Gesellschaft nicht genau weiß, worin seine Mission besteht. So spiegeln die neuen Anforderungen an die „Soldaten“ – für die dieser Begriff schon nicht mehr zutrifft – die Situation eines Gefährdungskontinuums, die mit der Auflösung von vertrauten Differenzen verknüpft ist: die des Nicht-Kriegs.
Am Anfang war das Meer
Die Aktionsform war auch für die Kategorisierung des Feindes leitend, die 2002 der damalige Leiter der Darpa-Abteilung Information Awareness Office John Poindexter vornahm, als er davon sprach, dass sich Terroristen mit ihrer Organisation im Internet „in der Welt des Rauschens verstecken“. Damit bemühte er, zwar in indirekter, dafür doppelter Weise, nicht nur einmal mehr die Netzwerkmetapher. Dexter machte, so Bernhard Siegert (Weimar), durch die Metonymie „Rauschen“ von einem weiteren Metaphernfeld Gebrauch: dem des Meeres. Und mehr noch; Dexters Aussage rufe ein maritimes Geschichtsbild auf, was den Terrorismus auf eine historische Linie mit dem U-Boot- sowie dem Seekrieg bringe und deren Fluchtpunkt die Figur des Piraten markiere.
Der auf diese Weise aufgespannte Vergleich von Pirat und Terrorist sei zwar einer, der hinkt; schließlich handelt ersterer aus rein ökonomischen Gründen. Dennoch entbehrt diese Analogiebildung nicht einer dezidiert juridischen Logik, die ihren Anfang mit der Entstehung des Völkerrechts nimmt. Für diese war das Meer insofern entscheidend, als sich das Völkerrecht über die Ausgrenzung des Meeres herausbildete: Das Meer als nicht okkupierter, unmarkierter, weil unmarkierbarer Raum wurde zur rechtsfreien Zone sowie zum Sinnbild von Un-Ordnung, des gesellschaftlich Äußeren, des A-Sozialen.
Keine Figur ist daher wohl so grundlegend mit der Negation des Völkerrechts verbunden, wie die des Piraten, der ab Anfang des 17.Jahrhunderts unter die juridische Kategorie des hostis humanis generis fiel. Denn wer unter niemandes Flagge auf Beutezug ging im rechtsfreien Raum internationaler Gewässer, wo einerseits existenzielle Freiheit herrschte, andererseits Verbrechen besonders schwer wogen, wurde zum Feind der gesamten Menschheit. Zugleich aber machte er sich die gesamte Menschheit zum Feind und stellte sich außerhalb des Gesetzes, weshalb er auch nicht mehr dem Schutz des Völkerrechtes unterstand: er machte sich zum outlaw, dem jeder überall habhaft werden konnte.
Diese Figur des hostis humanis generis und die daran geknüpften Argumentationslogik sind auf zweierlei Weise aktuell. Zum einen dient sie im Rahmen von Kriegsverbrecherprozessen dazu, die Nichtanerkennung des Gerichtes von Seiten der Angeklagten auszuhebeln. Insofern wären Prozesse gegen Terroristen und Kriegsverbrecher ohne die Figur des Piraten nicht denkbar. Zum anderen sei, so Bernhard Siegert, gerade seit dem offiziellen Ende der Piraterie durch die Pariser Konvention von 1850 ein Diskurs des "Piratischen" äußerst virulent, als seien seitdem das Adjektiv und Zuschreibungen frei und auf andere Kontexte übertragbar geworden. Der Terrorismus ist hierfür das beste Beispiel, was nicht nur die Aussage Dexters belegt. Auch wenn die US-Regierung Staaten als "Outlaw-States" bezeichnet, bringt sie eben jenes maritime Geschichtsbild in Anschlag. So fungiert, wie Bernhard Siegert schlussfolgerte, die Figur des Piraten als Legitimation aller nicht-kriegerischen Militärinterventionen und aller Kontroversen darum.
Für eine Genealogie des Nicht-Krieges erweist sich der Topos des Meeres als fundamental – in seinen historisch-juridischen wie politischen Implikationen. Aber auch als Metapher scheint er den Nicht-Krieg in seiner Unbestimmtheit, Orts- und Ordnungslosigkeit umfassend zu beschreiben. Es bleibt nur zu hoffen, dass Sturm und Wellengang nicht zu stark werden. Denn einen sicheren Hafen scheint es für die Gesellschaft im Nicht-Kriegszustand nicht mehr zu geben.