Im Panoptikum des Datenkapitalismus
Seite 2: "Psychogramme von allen erwachsenen US- Bürgern"
Wie Catriona McLaughlin in einem Artikel für "Die Zeit" berichtet, ließe sich bei Acxiom so zum Beispiel für die USA eine "Liste aller Latinos kaufen, die Linkshänder sind und über 40.000 Dollar im Jahr verdienen". Während in Deutschland bereits 44 Millionen Bürger in den Datenbanken von Acxiom gespeichert sind, ist es in den USA fast jeder - mit über 1500 Merkmalen wie Alter, Wohnsitz, Geschlecht, Hautfarbe, politische Einstellungen, Urlaubsträume, Tiere, Kaufverhalten, Ausbildung, Einkommen, Krankheiten, Finanzen, Familienstand, Zeitschriftenabonnements.
Anhand dieser Profile lassen sich dann nicht nur die Werbung, sondern auch die Preise, das Design einer Website, Nachrichten, Facebook-Posts oder Suchergebnisse abhängig vom jeweiligen Nutzer individuell gestalten. Ohne dass man es merkt, wird der mediale Blick auf die Welt für einen präkonfiguriert. Es entsteht die mittlerweile viel zitierte "Filter Bubble".
Auch politischen Akteuren eröffnen sich dadurch ganz neue Möglichkeiten der Beeinflussung von Verhalten, Meinungen und Überzeugungen. Größere Aufmerksamkeit erregten jüngst Berichte über die Tätigkeiten des Unternehmens Cambridge Analytica im Rahmen des Wahlkampfs von Donald Trump. Da Cambridge Analytica laut seines Chefs Christopher Nix über "Psychogramme von allen erwachsenen US- Bürgern" verfügt, konnten Wähler mit so genanntem "Microtargeting" passgenau angesprochen werden.
Nix veranschaulichte dies bei einer Präsentation am Beispiel des Waffengesetzes: "Ängstlichen Menschen mit hohen Neurotizismus-Werten" könne man mit einem Bild, auf dem die Hand eines Einbrechers, der eine Scheibe einschlägt, zu sehen ist, die Waffe als "Versicherung" verkaufen, während man mit einem Bild, das einen Mann und ein Kind mit Flinten in einem Feld bei der Entenjagd zeigt, "konservative Typen mit hoher Extraversion" anspreche.3
Ein strategisches Hauptziel der Trump-Kampagne war, potenzielle Clinton-Wähler von der Wahl abzuhalten. So erhielten Einwohner in Miamis Stadtteil Little Haiti Nachrichten über das Versagen der Clinton-Stiftung nach dem Erdbeben in Haiti, während Afroamerikanern Videos zugespielt wurden, in denen Hillary Clinton schwarze Männer als Raubtiere bezeichnet.
Solche Möglichkeiten der Manipulation beschränken sich mittlerweile wiederum nicht nur auf das Internet. In Geschäften oder Einkaufszentren können mit Kameras auch "analoge Passanten" einer Kaufkraft- und Kaufwilligkeitsanalyse unterzogen werden. Gesichtserkennungssoftware analysiert die Filmaufnahmen und erkennt nicht nur, dass jemand ein Produkt betrachtet, sondern anhand der Mimik auch, wie er es betrachtet. Festgestellt wird, welche Emotionen die Person zeigt, auf welchem "Happiness Level" sie sich gerade befindet.
So gibt es bereits Schaufensterpuppen, die tatsächlich sehen und hören können. In den Augen des EyeSee Mannequins der Firma Almax ist eine Kamera mit Gesichtserkennungssoftware von IBM installiert, die Auskunft über das ungefähre Alter, Geschlecht sowie die Ethnie der Passanten geben kann. Das EyeSee Mannequin hört außerdem, über was sich diese unterhalten, so dass mit einer Schlagwortsuche analysiert werden kann, was einem Kunden warum gefällt oder nicht. Auch an der Kasse können solche Techniken zum Einsatz kommen. "Wenn Sie ein verärgerter Mann um die 30 sind und es ist Freitagabend, kann man Ihnen eine Flasche Whiskey anbieten", erklärt die Marketingchefin der Firma Synquera, die eine Software für Kassengeräte entwickelt hat, welche die Gesichter der Kunden beim Bezahlen liest.4
Ob für Manager oder Personalchefs, die in Geschäftsverhandlungen oder Vorstellungsgesprächen wissen wollen, was ihr Gegenüber "eigentlich" sagt oder denkt, ob für Parteien oder Filmproduzenten, die wissen wollen, wie ihr Werbespot oder Trailer ankommt, bis hin zu Polizei und Geheimdiensten ergeben sich dabei für sämtliche Gesellschaftsbereiche noch kaum auszudenkende Konsequenzen, die unsere Kommunikationsstrukturen fundamental verändern könnten - von den Implikationen für das Privatleben ganz zu schweigen.
Glaubt man Rana el Kaliouby, der Gründerin und wissenschaftlichen Leiterin des Marktführers für "affective computing" Affectiva, dann werden in zehn bis fünfzehn Jahren alle "smart devices" einen "Emotionschip haben, der kontinuierlich unsere Stimmung liest".
Warum man etwas fühlt oder sagt, kann ein "Wearable emotion detection and feedback system", wie es Microsoft für seine HoloLens patentiert hat, zwar noch nicht erkennen, doch die neueste Generation "smarter Fernseher" registriert, wie das Zuhause möbliert ist, was für Bilder an den Wänden hängen, ob Haustiere und wie viele Personen anwesend sind und kann deren Alter, Geschlecht, Gewicht, Körpergröße, Hautfarbe und Haarlänge bestimmen. Die Software in den Geräten erfasst außerdem, welche Sprache man spricht und was man gerade tut - ob man isst, lacht, redet, bügelt, schläft, liest, putzt, kuschelt oder sich streitet. Worauf die Fernsehwerbung an das anpasst werden kann, woran die Anwesenden möglicherweise gerade besonders interessiert sind.
Und auch das einstige Freiheitssymbol Auto wird in seiner smarten Version zum mobilen Daten- und Überwachungscenter für die Insassen und die Umwelt. Durch Kameras, Laserscanner, Ultraschall- und Radarsensoren wird ein vollständiges Abbild der Umgebung erstellt, und ab 2018 müssen Neuwagen in der Europäischen Union zwangsweise mit dem so genannten eCall-System ausgestattet sein, das bei einem Unfall automatisch über das Mobilfunknetz eine Notfallmeldung mit Positionsdaten sendet - was nichts anderes bedeutet, als dass ein Abhör- und Ortungssystem im Auto installiert ist.
Mit einer kleinen Box, die an das Elektroniksystem des Autos angeschlossen wird, lassen sich zudem Daten über das Fahrverhalten an die Kfz-Versicherung weiterleiten, so dass der Versicherungstarif (ein so genannter "Telematik-Tarif") individuell an selbiges angepasst werden kann. Smarte "Warnsysteme" können aus Fahrzeit und Lenkbewegungen auch errechnen, ob der Fahrer eventuell müde ist. Dann erscheint im Display eine Kaffeetasse mit der Frage "Pause"?
Markus Morgenroth, Ex-Mitarbeiter der Datenanalysefirma Cataphora und Autor des Buches "Sie kennen Dich! Sie haben Dich! Sie steuern Dich!" (2014), in dem er zahlreiche solcher Beispiele zusammengetragen hat, stellt hierzu die Frage: "Würde man den Hinweis ignorieren und kurz darauf einen Unfall verursachen, wie würden die belastenden Informationen in einem solchen Fall verwendet werden?"5 In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erzählt er, dass es vor Gericht bereits zu Szenen kommt, in denen Kafkas Alptraumszenarien einer allwissenden und ungreifbaren bürokratischen Macht gespenstische Wirklichkeit werden:
Im Falle von Cataphora standen Menschen vor Gericht und mit ihnen ihr digitales Spiegelbild, also die Summe aus all den vielen Datenfragmenten, die ein Mitarbeiter jeden Tag hinterlässt. Die Betroffenen wussten häufig nicht mehr, was sie wann und mit wem getan hatten, wenn sie vor Gericht befragt wurden. Wir wussten es aber. Vor Gericht wissen heute andere sehr viel besser über Sie Bescheid als Sie selbst. Daraus folgt eine neue Deutungshoheit über Personen. …
Vor Gericht heißt es beispielsweise nicht mehr: "Was haben Sie dann und dann gemacht?" Sondern: "Warum haben Sie damals aufgehört, freitags mit Kollege X essen zu gehen?" Sie wissen im Zweifel gar nicht, was die Frage bedeutet. Sie kommen in eine Situation der Verlegenheit und durchschauen das Spiel nicht mehr, das über Ihr Schicksal entscheidet.