Im Panoptikum des Datenkapitalismus

Seite 3: Kunden und Bürger sind maximal transparent, die Datensammler verstecken sich im Dunklen

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Wer dieses Spiel in Zukunft überhaupt noch durchschauen kann, ist eine offene Frage. Denn während die privaten und staatlichen Datensammler ihre Kunden und Bürger maximal transparent machen, sind diese selbst und ihre Methoden völlig intransparent. Zudem sind - wie jeder Photoshop-Benutzer weiß - digitale Daten problemlos manipulierbar, was im Einzelfall für einen Betroffenen jedoch kaum nachzuweisen sein wird. Es lassen sich zahllose solcher Fälle konstruieren oder bereits dokumentieren, über deren Auswirkungen sich die Gesellschaft noch nicht einmal ansatzweise bewusst ist.

So wird sich nicht nur durch die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie6, sondern auch durch die vermeintliche Allwissenheit der Datensammler unser Verständnis von Schicksal fundamental verändern. Man wird bei einer Zu- oder Absage nach einem Vorstellungsgespräch beispielsweise nicht mehr wissen, warum man genommen wurde oder nicht. Stellt einen der potenzielle Arbeitgeber nicht ein, weil man eine Herzkrankheit hat? Oder hat der Algorithmus nur einen falschen Schluss gezogen, weil man entsprechende Medikamente im Internet gar nicht für sich selbst, sondern für einen Verwandten bestellt hat? 7

Im digitalen Taylorismus von Amazon & Co. entscheiden über Einstellung und Kündigung nämlich nicht mehr die (Personal-)Chefs, sondern die Algorithmen der "People Analytics". Diese wissen dann auch, in welcher körperlichen und geistigen Verfassung sich die Mitarbeiter befinden. Die Firma SOMA Analytics bietet hierzu ein "Frühwarn- und Präventionssystem" für Burn-out und Depressionen an. Während eines Telefonats analysiert die App Tonlage und Schnelligkeit des Sprechers. Je gestresster ein Mensch ist, desto geringer falle laut SOMA die Modulation seiner Stimme aus. Auch häufige Tippfehler werden registriert, sie seien ein eindeutiges Stressindiz, denn sie verweisen auf eine "gestörte Hand-Augen-Koordination des Smartphone-Besitzers".8

Einen menschlichen Arzt müssen die - womöglich genau durch solche Überwachungsmethoden9 - gestressten Mitarbeiter in Zukunft allerdings nicht mehr aufsuchen. Der Supercomputer Watson von IBM soll durch die Auswertung sämtlichen verfügbaren medizinischen Wissens zum "besten Diagnostiker der Welt" werden, und die Diagnostik- und Trackingtools, die man am oder im Körper trägt, schlagen sofort Alarm, wenn eine Körperfunktion nicht dem erwünschten Standard entspricht - ob in Form "intelligenter Kleidung" und anderer "wearables" oder durch implantierte Chips und "intelligente Pillen", die mittels Sensor Signale aus dem Körperinneren zu einer auf der Haut getragenen Elektrode senden, welche zusätzlich Herzfrequenz, Atmung und Körpertemperatur misst und die gesammelten Daten auf das Smartphone oder andere Geräte weiterleitet.

Für den einzelnen Selbstvermesser mag eine dauernde Körperüberwachung sein (masochistisches) Privatvergnügen sein, doch bei Unternehmen und Versicherungen hat dies weitgehende gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. Wenn sich etwa die Krankenversicherung, wie bereits stattfindend, in ein "Spiel" verwandelt, in dem die Versicherten ihre Gesundheitswerte mittels smarter Geräte an die Versicherung weiterleiten und dann ihren "Health Score" auf einer Rangliste vergleichen und dementsprechend (monetär) belohnt und bestraft werden, wird das Prinzip der Solidargemeinschaft unterminiert und die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt.

Wer sich dem Spiel verweigert, wird ab einer kritischen Masse von Teilnehmern durch die sozialen und finanziellen Nachteile gezwungen sein, die Freiheit seines Nichteinverstandenseins aufzugeben und sich anzupassen - in diesem Fall seine Gesundheitswerte von der Versicherung oder seinem Arbeitgeber überwachen und bewerten zu lassen. In einem Artikel zur Bewegung des "Quantified Self" schreibt Juli Zeh:

Die Verknüpfung von Krankheit und Schuld bedeutet nicht weniger als das Ende von persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität - zwei Werte, die das Fundament einer demokratischen Gesellschaft bilden. Wer glaubt, Gesundheit und Wohlbefinden könne man sich erarbeiten, indem man entlang von Normen alles ‚richtig’ macht, der mag bald nicht mehr einsehen, warum er mit seinen Versicherungsbeiträgen für die Raucherlungen, Säuferlebern und verfetteten Herzen irgendwelcher undisziplinierter Hedonisten aufkommen soll.

Juli Zeh

Durch die Verknüpfung von Krankheit und persönlicher Schuld ("Eigenverantwortung") wird nicht nur die Solidarität aufgekündigt, sondern werden zudem soziale und ökologische Faktoren als Krankheitsursache ausgeklammert. "Schuld" an Krankheit ist ausschließlich das Individuum, welches nicht genug Sport treibt und sich nicht gesund genug ernährt, und nicht der Chemiekonzern, der das Wasser vergiftet, der Energiekonzern, der die Luft vergiftet, der Agrarkonzern, der das Essen vergiftet oder das neoliberale Marktregime, das die sozialen Beziehungen vergiftet.