Im schriftlichen Urteil zum NSU-Prozess kommt das Wort "Verfassungsschutz" nicht vor
Nach dem 3000-Seiten-Urteil befragte Telepolis Anwälte und Vertreter der Opfer
"Lückenhaft", "formelhaft", "ahistorisch", "beschämend", "kalt", "nicht prägnant", "an vielen Stellen redundant", "desinteressiert" - so scharf wie im NSU-Prozess haben Prozessbeteiligte wohl selten ein schriftliches Urteil kritisiert. Bemerkenswerterweise attackieren gegensätzliche Parteien das Gericht gleichermaßen scharf. Zu den Kritikern gehören sowohl die Anwälte von Beate Zschäpe als auch die Vertreter der Opfer des NSU.
Das Urteil umfasst 3025 ausgedruckte Din-A-4-Seiten. Seit der mündlichen Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11. Juli 2018 ließ sich das Gericht 93 Wochen Zeit. Erst am letzten Tag der gesetzlichen Frist hatte der Münchner Staatsschutzsenat das Werk fertig. Auch der logistische Aufwand danach ist immens.
Eine Woche nach Fertigstellung sei es immer noch nicht allen Prozessbeteiligten zugestellt, sagt Gerichtssprecher Florian Gliwitzky auf Anfrage. "Es geht ja an mehr als 100 Personen." Zu denen gehören die fünf Angeklagten, deren insgesamt 20 Anwälte sowie über 90 Nebenkläger mit 53 Anwälten.
"Wenn Sie die Zahl der Empfänger mit der Zahl der Seiten des Urteils multiplizieren, verstehen Sie, welchen Umfang das hat." Also insgesamt deutlich über 300.000 ausgedruckte Seiten. Digital habe man es nicht verschicken können. "Das richtet sich nach der Strafprozessordnung, die hier auf die Zivilprozessordnung verweist." Und da sei geregelt: Es müsse Papier sein.
Folglich seien die Drucker der Münchner Justiz tagelang heißgelaufen, und zwar an mehreren Standorten. Wegen der Corona-Krise habe man Doppelteams gebildet, denen der Kontakt untereinander verboten gewesen sei.
Außergewöhnlich auch der Transport der Urteilsstapel an die die Empfänger: Einige Pakete habe das Gericht per Post zustellen können. Einige brachten Justizwachtmeister persönlich vorbei. Gliwitzky sagt, die Wachtmeister hätten die Urteile in Autos geladen, nach seiner Vermutung auch in einen VW-Bus. Mit denen seien sie durchs Land gefahren und hätten die Ausfertigungen persönlich übergeben.
Zschäpe-Anwälte bezweifeln Mittäterschaft
Damit beginnt die Frist für die Parteien für die Revisionsbegründung. Einen Monat ab Zustellung haben sie dafür Zeit. Die Verteidiger von Beate Zschäpe teilen auf Anfrage mit, sie hielten an ihrer Anfechtung des Urteils fest.
Das Urteil enttäusche ihn "in fachlicher Hinsicht" unabhängig vom Schuldspruch und seiner Begründung, sagt Rechtsanwalt Wolfgang Heer. "Die Beweiswürdigung erstreckt sich zwar über mehr als 2000 Seiten, ist aber dennoch lückenhaft."
Die rechtliche Würdigung sei dagegen "auffallend kurz geraten und nicht gerade akribisch". Dass das Gericht Zschäpe für die Mittäterin der Morde und Anschläge der beiden Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt halte, sei nur ein "Konstrukt". Das sei "nach den gefestigten Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht begründbar".
Zum Beleg für die Mittäterschaft behaupte das Gericht, Zschäpe habe Tatorte ausgespäht. Es nenne dafür aber keinen einzigen Beweis, moniert Heer. "Hier bewegt sich das Gericht im Bereich der bloßen Vermutung."
Heers Kollegin Anja Sturm sagt, sie wundere sich, wie wenig Substanz das Gericht produziert habe, trotz der voll ausgeschöpften Frist von 93 Wochen. "Auch unter der Berücksichtigung, dass wir Juristen ja bekanntermaßen nicht immer einer Rechtsauffassung sind, hätte ich von einem Oberlandesgericht gerade in Bezug auf die mittäterschaftliche Zurechnung deutlich differenziertere Ausführungen erwartet."
Zentraler Punkt ihrer und Heers Revision "wird sicherlich die rechtliche Bewertung - der Jurist nennt das Subsumtion - des seitens des Senats festgestellten Verhaltens Frau Zschäpes als mittäterschaftsbegründend sein".
Auch Mathias Grasel, der erst später vom Gericht als zusätzlicher Pflichtverteidiger Zschäpes engagiert wurde, kündigte eine Revisionsbegründung an. Grasel arbeitet mit den anderen Pflichtverteidigern nicht zusammen. Das Gericht hatte ihn auf Wunsch Zschäpes eingesetzt, nachdem sie sich mit ihren ursprünglichen Pflichtverteidigern überworfen hatte.
Grasel sagt, ihn wundere, dass das Münchner OLG sich auf nur 44 der über 3000 Seiten mit der rechtlichen Würdigung der Anklagepunkte gegen Zschäpe beschäftige. Für die Begründung der Mittäterschaft - schon im Prozess eine der zentralen Rechtsfragen - beschränke sich das Gericht "lediglich" zehn Seiten. "Hier hätte ich deutlich mehr erwartet."
"Gerade die Argumentation zur Mittäterschaft überzeugt mich nicht einmal ansatzweise", kritisiert Grasel. Um als Mittäterin zu gelten, bedürfe es "für meine Begriffe deutlich mehr, als zuhause zu sitzen und auf die Rückkehr der Mitbewohner zu warten".
Dass Zschäpe - wie vom Gericht festgestellt - bei der Auswahl der Tatorte und Opfer beteiligt gewesen sei, sei "rein spekulativ und wird nicht durch das Ergebnis der Beweisaufnahme gestützt".
Zentraler Punkt seiner Revisionsbegründung werde die Mittäterschaft sein, sagte Grasel. "Die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Mittäterschaft steht der erfolgten Verurteilung durch das OLG München entgegen."
Grasel steht nach seinen Worten "in regelmäßigem Kontakt" mit Zschäpe, die in der JVA Chemnitz einsitzt. Ihre anderen Verteidiger wollten über das aktuelle Verhältnis zu ihrer Mandantin nichts mitteilen. Der Kontakt zu ihnen war noch während des Prozessverlaufs abgebrochen, woran sich offenbar bis heute nichts geändert hat.
Das Münchner OLG hatte Zschäpe wegen zehnfachen Mordes und dutzenden Fällen versuchten Mordes und Körperverletzung sowie mehreren Raubtaten zu lebenslanger Haft verurteilt. Es sieht sie als voll verantwortliche Mittäterin aller Verbrechen des NSU, auch, wenn sie selber nie selber schoss oder bei Überfällen dabei gewesen sei. Das Gericht stellte außerdem die besondere Schwere der Schuld fest.
Das Wort "Verfassungsschutz" kommt ebenso wenig vor wie Andreas Temme
Bei den Nebenklägern klingt das anders als bei der Verteidigung. Was die Schuld Zschäpes betrifft stellen sie sich annähernd durchgehend auf die Seite von Gericht und Anklage. Sie kritisieren aber teils massiv, dass sich das Gericht mit der Unterstützerszene, möglicherweise weiteren Mittätern und der Rolle des Staates, vor allem der Verfassungsschutzämter, nicht beschäftigte.
Tatsächlich taucht das Wort "Verfassungsschutz" im Urteil kein einziges Mal auf. Der Name Tino Brandt findet sich zwar immerhin 49 Mal, wobei seine Rolle als V-Mann des thüringischen Verfassungsschutzes aber nur schemenhaft gezeigt wird. Das Gericht zitiert aus einer Aussage des im NSU-Prozess Mitangeklagten Holger G., nach dessen Einschätzung es "Gerüchte" gegeben habe, Brandt sei Geheimdienst-Spitzel.
Man habe "gewusst, dass Tino Brandt immer Geld gehabt habe", zitiert das Gericht aus der Aussage des ebenfalls Mitangeklagten Carsten S. über die Herkunft des Geldes verliert das Gericht allerdings kein Wort.
In der Beweisaufnahme war das über Monate hinweg Thema. Demnach war Geheimdienst-Geld der Lebensunterhalt für Brandt und einige Gesinnungsgenossen. Im Ganzen zahlte die Behörde rund 200.000 Euro an ihn aus.
Zugleich organisierte Brandt die militanten Kameradschaften in Thüringen im von ihm gegründeten "Thüringer Heimatschutz". Zu diesem Verband gehörte auch die "Kameradschaft Jena" mit Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.
Brandts "Heimatschutz" hatte seinen Namen offenbar überhaupt erst auf Wunsch der Geheimdienste erhalten. Bei einem Treffen mehrerer Ländergeheimdienste unter Leitung eines Beamten namens Christian M. vom Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz wurde der ursprüngliche Name "Anti-Antifa Ostthüringen" als untauglich bezeichnet und eine Neubenennung nahegelegt, wie aus einem Gesprächsprotokoll hervorgeht, das Telepolis vorliegt. Auch das war im NSU-Prozess thematisiert worden, findet sich im Urteil aber nicht wieder.
Auch der Name Temme wird nirgendwo im Urteil erwähnt. Andreas Temme war V-Mannführer beim hessischen Verfassungsschutz. Um oder während des Zeitpunkts des Mordes an dem 21 Jahre alt gewordenen Halit Yozgat hielt sich Temme in dessen Internetcafé auf. Im NSU-Prozess hatte Temme behauptet, er habe gleichwohl keine Schüsse gehört und die Leiche Yozgats hinter dem Bezahltresen nicht bemerkt.
"Es kam, wie es kommen musste", resümiert der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler. "Der Senat hatte während des Verfahrens immer wieder deutlich gemacht, dass er an einer Aufklärung der Rolle staatlicher Stellen kein Interesse hat". Als einen "der Tiefpunkte des Prozesses" bezeichnet er "den Augenblick, als der Vorsitzende die Aussage von Herrn Temme als glaubwürdig bezeichnete. In diesem Moment ging ein Lachen durch den Saal, aber es war ein bitteres Lachen, zu recht."
Scharfe Worte auch von einer Gruppe von 19 Nebenklageanwälten in einer gemeinsamen Pressemitteilung. "Der Rechtsstaat hat die Opfer des NSU-Terrors im Stich gelassen", schreiben sie. "Auch das schriftliche Urteil des Oberlandesgerichts München trägt nichts zur Wahrheitsfindung im NSU-Komplex bei." Das Urteil sei "formelhaft, ahistorisch und kalt. Der Umfang von 3025 Seiten soll verschleiern, dass der Senat unter Vorsitz von Manfred Götzl seiner Aufgabe der Wahrheitsfindung und der Wiederherstellung des Rechtsfriedens nicht gewachsen war."
Das Urteil sehen die Nebenkläger als unlauteren Versuch, das Kapitel des rechtsextremen NSU-Terrors und des damit verbundenen staatlichen Versagens endgültig zu beenden. "Die Urteilsbegründung stützt sich auf die […] Behauptung von Sicherheitsbehörden und der Bundesanwaltschaft, dass der NSU nur aus drei abgeschotteten Personen bestanden habe." Das aber hätten nicht nur die Nebenkläger als "grundfalsch" erkannt.
Einverstanden sind die meisten Nebenkläger immerhin mit der gerichtlichen Zuschreibung der Mittäterschaft Zschäpes an allen NSU-Verbrechen - neben den zehn Morden auch zwei Sprengstoffanschläge in Köln mit Dutzenden, teils lebensgefährlich verletzten Opfern.
"Sie hat zu Hause gesessen und denen gesagt, ich halte Euch das Nest warm", ist der Kölner Rechtsanwalt Eberhard Reinecke überzeugt. Zschäpe habe ihren beiden Freunden vermittelt, "ich tarne Euch ab". Im rechtlichen Sinn sei das ein Kennzeichen für "Tatherrschaft". Reinecke: "Ich bin der Auffassung, dass das Trio nicht funktioniert hätte ohne Zschäpe."
Anfechten können die Nebenkläger das Urteil nicht. Allerdings können sie dem Bundesgerichtshof ihre Stellungnahmen zu den Revisionen anderer Beteiligter zu Protokoll geben.
Vier der fünf Schuldsprüche könnten in der Revision landen
Revision eingelegt hat neben Zschäpe auch der mutmaßliche Beschaffer der wichtigsten Tatwaffe der NSU-Terroristen, Ralf Wohlleben. An der hält seine Verteidigung auch fest und arbeitet an einer schriftlichen Begründung, die binnen Monatsfrist ab Zustellung beim Bundesgerichtshof eingehen muss.
Das Münchner OLG sieht es als erwiesen an, dass Wohlleben die bei neun der zehn NSU-Morde verwendete Pistole vom Typ Ceska organisiert habe. Dafür erkannten die Richter auf Beihilfe zum Mord und verurteilten ihn zu zehn Jahren Gefängnis. Er befindet sich seit der mündlichen Urteilsbegründung aber auf freiem Fuß, nachdem er vorher jahrelang in Untersuchungshaft saß. Öffentlich wollten sich seine Verteidiger zum schriftlichen Urteil auf Anfrage nicht äußern.
Wohllebens mutmaßlicher Komplize Carsten S., der die Ceska-Pistole an die bereits im Untergrund lebenden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos übergab und das im Prozess auch gestand, hat sein Urteil dagegen akzeptiert. S. ist der einzige, der damit bereits rechtskräftig verurteilt ist. Ihm brummte das Gericht eine Jugendstrafe von drei Jahren auf.
Noch unentschieden ist Holger G., der zugab, den NSU-Terroristen mit Personalpapieren ausgeholfen zu haben. Das Münchner Gericht erkannte gegen ihn auf "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" und verhängte drei Jahre Haft. Seine Verteidiger legten zwar gleich nach dem Urteilsspruch Revision ein, wollen jetzt aber noch prüfen, ob sie daran festhalten und eine Begründung verfassen.
Auch gegen das Urteil gegen André E. steht noch eine Anfechtung im Raum, allerdings von Seiten der Bundesanwaltschaft. Das Münchner Gericht hatte E. in vier von fünf Anklagepunkten freigesprochen und mit zwei Jahren und sechs Monaten eine überraschend milde Strafe verhängt. Dagegen hat die Anklagebehörde Revision eingelegt. An dem hält sie nach Aussage eines Sprechers aktuell auch weiter fest.
Die richterliche Milde für E. gehört zugleich zu den Urteils-Bestandteilen, die die Nebenkläger am meisten aufbringen. "Der weitgehende Freispruch von André E. ist nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern auch lebensfremd und in sich widersprüchlich", schreibt die Gruppe der 19 Anwälte in ihrer Mitteilung.
Der Freispruch sei "noch weniger verständlich", weil das Gericht zuvor schriftlich begründet habe, "warum André E. der Beihilfe zum versuchten Mord" verdächtig sei. Dabei handelt es sich um den NSU-Anschlag auf das Lebensmittelgeschäft einer iranisch-stämmigen Familie in Köln.