Immer noch kein Gott, kein Staat, kein Kapital
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Die große Schnauze der Revolution: Wo und wie kämpfen gerade die Anarchisten?
Der Anarchismus hat eine altehrwürdige Geschichte, seine glorreichen Niederlagen sind der Basso ostinato der organisierten menschlichen Freiheitsliebe. Von Diogenes bis Durruti, von Zo d’Axa bis zu den Zapatisten hat es viele Spielarten der Bewegung gegeben. Auch aktuelle Kombattanten in Rojava und Griechenland bedienen sich der bekannten Argumente und Aktionsformen.
Erst das Geräusch einer Spraydose, die geschüttelt wird. Dann sieht man den Mann, der sie in der Hand hält, auf eine Mauer zugehen und ein A im Kreis an die Wand sprühen.
Nichts, was Punkvideos oder YouTube-Beiträgen aus der Anarcho-Szene nicht schon hundert Mal gezeigt hätten. Irritierend allerdings: Der vermummte Sprayer hat eine Kalaschnikow umgeschnallt. Schnitt. Zwei maskierte Männer an einem Tisch, umgeben von noch mehr Männern mit verschiedenen Waffen (Maschinengewehren, RPGs, etc.) und von diverser Revolutionsdeko.
Der militärische Aspekt
Einer der Männer am Tisch liest auf Englisch eine Erklärung vor, der die Entstehung einer bewaffneten anarchistischen Formation im Kampf um das Rojava-Projekt verkündet. In die Rede hat man kurze Clips von angeblichen Kämpfern hineingeschnitten, die mit ihrem Kriegsgerät hantieren. Zum Schluss explodiert irgendwas vor irgendeiner Mauer, an der wiederum Flaggen hängen. Willkommen bei den International Revolutionary People's Guerrilla Forces (IRPGF).
Um den Eindruck zu zerstreuen, hier seien die Enkel der Monty Python-Komiker am Werk gewesen - das Veröffentlichungsdatum des Videos lag nahe am 1. April - hat einer der Aktivisten dem linksradikalen Blog "Insurrection News" Anfang Mai ein langes Interview gegeben.
Einige Punkte werden darin abgehakt. Befreiung habe immer einen militärischen und einen sozialen Aspekt; die IRPGF seien nun mal Teil des militärischen. Der Kampf ist, wie es sich für Anarchisten gehört, international, und er dient auch der ganzen Menschheit. Bisher hätten anarchistische Standpunkte bei den ausländischen Unterstützern des Rojava-Projekts bitter gefehlt; man sei dabei, das zu ändern.
"Die Revolution ist kein Wunschkonzert"
Im Moment ist man noch Teil des International Freedom Battalion (IFB), das maßgeblich von kommunistisch inspirierten Gruppen geprägt wird; es gibt aber in dem "Battalion" mindestens eine weitere anarchistisch bestimmte Gruppe, nämlich die Revolutionary Union for Internationalist Solidarity (RUIS), hauptsächlich aus griechischen Mitgliedern bestehend. Was die Bündnispolitik angehe, sei eine Revolution nun mal kein Wunschkonzert; ideologische Reinheit könne man sich leisten, wenn man in Europa auf dem Sessel sitze und nur am Herumdebattieren interessiert sei. An der Front gehe es auch um Pragmatismus.
Ein ums andere Mal betont der Interviewte, wie ernst ihm und seinen Genossen die Sache ist. Sie seien keine der üblichen Kriegstouristen, von denen es leider derzeit in Syrien einige gebe; man müsse schon bereit sein, sein Leben zu riskieren, um als ernsthafter Revolutionär durchgehen zu können. Der Respekt für die Kurden, die Rojava maßgeblich aufbauen, bestimmen und verteidigen, sei der allergrößte. Zu den Fragen, wovon die IRPFG-Revolutionäre leben, wo ihre Waffen herkommen und wie viele es von ihnen überhaupt gibt, hört man nichts.
Sind das reine Politclowns mit einem Waffenfetisch? Man kann den Kopf schütteln über Leute, die anscheinend glauben, dass der spanische Bürgerkrieg 1939 nicht geendet hat. Aber dass das Rojava-Projekt bewaffnet verteidigt werden muss, ist für jeden offensichtlich, der es auch nur in Maßen für sinnvoll hält.
Westliche Unterstützung für Rojava sinnvoll
Die türkische Armee macht das immer wieder klar und die Albtraumgestalten von ISIS mögen derzeit massiv unter Druck stehen, aber besiegt sind sie noch nicht. Es ist keine drei Jahre her, da hätten sie beinahe Kobane erobert.
Wenn man sich anschaut, wie der Westen pausenlos und zu Recht die rückständigen Verhältnisse "im arabischen Raum" beklagt, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass die westliche Unterstützung für Rojava sinnvoll war und ist. Außer Israel und Rojava gibt es da in der Gegend nicht viel, was unterstützt werden sollte
Dass die Präsenz einer dezidiert anarchistischen Kraft in einem revolutionären Projekt Sinn macht, das überraschenderweise die Ideen von Murray Bookchin verwirklichen will ist nicht von der Hand zu weisen; man müsste sich bei den ganzen "libertären" Bekenntnissen sogar umgekehrt fragen, warum das International Freedom Battalion immer noch so massiv kommunistisch dominiert ist.
Und neben all dem fragwürdigen Gerede gibt es in dem Interview auch ziemlich trockene und korrekte Analysen, so zum Beispiel zu Donald Trumps Tomahawk-Getue in Syrien.
Unauflösbare Widersprüche
Dennoch sind die Prognosen schlecht. Wenn diese Leute ihre Revolution überleben, dann werden sie nie loswerden, was sie erlitten und anderen angetan haben. Für die Toten gibt es entweder schöne Reden oder Massengräber, wenn die stalinistischen oder die westlichen Verbündeten eines Tages beschließen sollten, dass es jetzt aber mal gut ist mit dem Freiheitsgelaber.
Wie das halt bei revolutionären Soldaten so ist. Mut haben sie? Sicher. Aber auch barbarische Schlächter können mutig sein. Man kann auch zu einem unsinnigen Kampf hinrennen, weil man das Leben langweilig findet oder fürchtet, und das kann auch wie Schneid aussehen.
Viele deutsche Künstler haben das im Ersten Weltkrieg so gemacht, und bei vielen Jihadis hat man heute den gleichen Eindruck. Soll das schöne Leben, für das die Anarchisten immer kämpfen, im immerwährenden Krieg stattfinden? Da kann man noch so sehr betonen, dass es bei dem Kampf nicht primär um das Opfer als Selbstzweck geht - es bleibt ein unauflösbarer Widerspruch.