Immer noch kein Gott, kein Staat, kein Kapital

Seite 2: Anarchistische Gruppen in Griechenland

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Anderswo macht die Anarchie auch von sich reden. Die Ausplünderung Griechenlands durch die EU und die griechische Oberschicht hat mittlerweile einen Grad erreicht, dass zum Beispiel in Athen an manchen Orten ein Macht- und Verwaltungsvakuum entstanden sind. Mit den großen Augen der Liberalen berichtet die griechische Journalistin Niki Kitsantonis für die New York Times, dass dieses Macht- und Verwaltungsvakuum teilweise von anarchistischen Gruppen gefüllt wird.

Die Unterbringung von Flüchtlingen, die Aufrechterhaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen, die Abwehr von Drogenhandel und Minderjährigenprostitution in den Parks des Stadt, Kulturarbeit: Staatsfeinde haben teilweise die Aufgaben übernommen, die der griechische Staat nicht mehr übernehmen kann oder will.

Das ist nun nicht so furchtbar überraschend, wenn man sich die Rolle anschaut, die linke Solidaritäts-Kooperativen in Griechenland seit Ausbruch der verschärften Krise gespielt haben. 2015 gab es davon 3391, wie der Autor George Kokkinidis jüngst berichtet hat und sie organisieren eine Vielzahl an Unternehmen, von kleinen Café-Kollektiven bis zu stattlichen Fabriken - was stark an die argentinische Krise 2001/2002 erinnert.

Diese Kooperativen bestehen ganz gewiss nicht ausschließlich aus Anarchistinnen und Anarchisten, aber die Idee der Selbstverwaltung, ein zentraler Bestandteil der anarchistischen Überzeugungen, ist für sie leitend.

Die Verwunderung in Niki Kitsantonis’ Artikel darüber, dass Anarchisten nicht den ganzen Tag mit Molotow-Cocktails herumrennen, die Scheiben von Banken einschlagen oder in Rojava mit Kalaschnikows herumballern, ist ermüdend. Aber es gibt implizite Kritik in Kitsantonis’ Zustandsbeschreibung, die valide ist.

Die politische Ökonomie?

Die jahrhundertealte Schere zwischen dem anarchistischen Idealismus und der anarchistischen Schwäche in Fragen der politischen Ökonomie ist auch hier wieder evident. Selbstverwaltungsideen sind schöne Konzepte; wie aber eine selbstverwaltete Fabrik bestehen soll, wenn der globalisierte Kapitalismus weiterbesteht, ist ein ungelöstes Rätsel.

Der Hühnerstall auf dem Dach eines besetzten Hochhauses in Athen ersetzt keine moderne Landwirtschaft. Die klassischen anarchistischen Lebenslügen sind anscheinend so verführerisch wie eh und je. Die unbelegte Behauptung, anarchistische Organisation müsse und könne prinzipiell von den traditionellen Vorstellungen geordneten menschlichen Zusammenlebens unterschieden sein, und dafür gebe es auch historische wie aktuelle Beispiele, bestimmt anscheinend immer noch das Denken.

Dass politische Organisationen mit mehreren Tausend Mitgliedern Parteien sind, wenn sie ständige Institutionen unterhalten, Kongresse veranstalten, Vertretungsmechanismen und Mandate kennen, oder sogar, wie in der spanischen Revolution, Minister in einer linken Regierung stellten, kann man zwar leugnen, aber es wirkt dann weniger und weniger glaubwürdig.

Dass man eine Gewerkschaft aus "Syndikaten" zusammensetzt und die Fahnen schwarzrot statt nur rot färbt, ändert trotz der historischen und aktuellen Leistungen des Anarchosyndikalismus nichts an der Tatsache, dass man immer noch eine Gewerkschaft mit all ihren Stärken und Schwächen vor Augen hat.

Die zwei aktuellen Beispiele Rojava und Griechenland zeigen: Anarchistische Ideen entfalten nach wie vor Strahlkraft. Sie bringen aber auch historisches Gepäck mit: Militanzfetischisierung, Selbstüberschätzung, politische und ökonomische Naivität, die Gefahren eines Idealismus, der sich so hoch erhebt, dass er früher als später auf die Schnauze fliegen muss - um nur einige zu nennen.

Der Anarchismus lebt, seine Fehler auch. Allein das macht ihn im Jahr 2017 zu einer Sache, über die nachzudenken sich lohnt.