Impfdebatte, Solidarität und Klassenkampf
Weder der harte Kern der Impfgegner noch diejenigen, die am lautesten Ungeimpfte verurteilen, sind mehrheitlich arm. Bildungsbürgerliche Klischees dominieren
Jetzt wird es wohl als großer Sieg in der Öffentlichkeitsarbeit für die Impfkampagne dargestellt, dass sich der Fußballspieler Joshua Kimmich nach einer Corona-Infektion doch noch impfen lässt. Die Frage bleibt da natürlich, ob sich Kimmich der Logik guter Argumente, der eigenen Erfahrung mit dem Virus oder dem Druck von Teilen der Öffentlichkeit und des Vereins gebeugt hat.
Doch gäbe es auch so viel Lob, wenn nicht ein bekannter Fußballspieler, sondern ein unbekannter Erwerbsloser sich nach langem Widerstand zur Impfung entschlossen hätte? Nachdem das Ungeimpftsein schon durch die vorübergehende Abschaffung kostenloser Tests verteuert worden war, bis die Inzidenzen immer deutlicher stiegen?
Denn auch die Debatte über das Impfen findet natürlich in einer Klassengesellschaft statt, auch wenn das bei aller volksgemeinschaftlichen Rhetorik, die in der Pandemie besonderes Konjunktur hat, gerne vergessen wird. Denn da wird ja besonders vor der Spaltung der Gesellschaft gewarnt.
So soll vergessen gemacht werden, dass die kapitalistische Gesellschaft schon strukturell gespalten ist – mindestens in die vielen Menschen, die ihre Arbeitskraft zu einem oft immer schlechteren Preis verkaufen müssen und denen, die diese Arbeitskraft kaufen.
Daran ändert sich durch Corona nichts, es wird in dieser Zeit nur besonders deutlich. Daran erinnerte gerade der Publizist Christian Baron in der Wochenzeitung Freitag:
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war die Verachtung der Armen so salonfähig wie in der aktuellen Pandemie. Fast alle Debatten um Impfpflicht, 2G oder Lockdown kommen ohne die Perspektive derer aus, die unter den Maßnahmen am meisten leiden: Erwerbslose, Niedriglöhnerinnen, Wohnungslose, Scheinselbstständige, Geflüchtete, Armutsrentner – Menschen eben, die auf engem Raum und mit wenig Gesundheitsschutz leben.
Für sie sind die Einschränkungen, auf deren Ertragen sich die sogenannte bürgerliche Mitte so viel einbildet, schon immer die Normalität. Reisefreiheit gibt es für ökonomisch Schwache auch ohne Corona nicht, ebenso wie Restaurant-, Theater-, Club- oder Kinobesuche.
Christian Baron
Man kann Baron, der sich mit dem Roman "Ein Mann seiner Klasse" eine zentrale Rolle in der Debatte um eine neue Klassenpolitik erspielt und sich zuvor in dem Buch "Proleten, Pöbel, Parasiten mit der Verachtung der Armen befasste, sicher vorwerfen, dass er mit seiner Diagnose über die Verachtung der Armen in der Pandemie etwas überzeichnet. So ist die Aussage, dass sich ökonomisch Schwache auch ohne Corona keine Restaurant-, Club- oder Kinobesuche leisten können, wohl zugespitzt.
Wer braucht die soziale Infrastruktur?
Allerdings ist richtig, dass sie sich solche Besuche nur sehr begrenzt erlauben können. Dass die Plätze vor den Spätkaufläden oft voll sind, liegt auch daran, dass es eben um eine preisgünstigere Alternative zu einem Kneipenbesuch handelt. Baron hat recht mit der Feststellung, dass Menschen mit wenig Geld auf die soziale Infrastruktur, sei es Schwimmbad oder Bibliothek, viel stärker als Menschen mit viel Geld angewiesen sind – und daher mehr darunter leiden, wenn diese Einrichtungen geschlossen sind.
Schließlich sind die Reichen auch nicht auf öffentlichen Nahverkehr angewiesen, sie rufen eben ein Taxi, was Menschen mit geringen Einkommen nicht möglich ist. Auch die Kolumnistin bei der Tageszeitung Neues Deutschland, Jeja Klein, hat in einem Beitrag unter der Überschrift "Pandemie der Gebildeten" auf die klassenpolitischen Aspekte der Corona-Debatten aufmerksam gemacht.
Dort kritisiert sie vor allem, dass das aufgeklärte und selbstverständlich schon geboosterte liberale Bürgertum lieber verbal auf die Impfgegner eindrischt, als nach den gesellschaftlichen Zuständen zu fragen, die verhindern, dass das Gesundheitssystem besser ausgestattet wird.
Es gibt also keine "Pandemie der Ungeimpften". Was es gibt, ist eine Pandemie der Gebildeten. Sie haben ihre Bildung vor den Karren der zum Prinzip erhobenen Rücksichtslosigkeit des Marktes gespannt und wissen sich in der selbst herbeigeführten Katastrophe nicht besser zu helfen, als zu gewohnten Reflexen zu greifen: nach unten treten.
Jeja Klein, Neues Deutschland
Klein hat sich auch bemüht, in den angeblichen Impfgegnern oder Impfverweigern nicht nur potentielle Gefahren für die Gesundheit zu sehen. Sie weiß, dass es nicht wenige Menschen gibt, die eben keine Zeitung lesen, den Staat vorwiegend als strafende Autorität in Uniform, als Sachbearbeiter im Jobcenter oder in Asylverfahren kennen und darum allen Grund haben, niemandem zu trauen, außer der eigenen, überschaubaren Welt.
Hier wird tatsächlich mal versucht, die Impffrage aus den unterschiedlichen Lebensrealitäten von Menschen zu erklären. Klein wurde dafür kritisiert, dass sie unterstellt, dass Impfgegner oder Impfverweigerer vornehmlich in einkommensschwachen Kreisen zu finden sind. Dabei gäbe es doch Impfverweigerer auch unter Wohlhabenden. Das ist sicher richtig – gerade Waldorfschulen, die ja Schulgeld kosten, sind sogar bei generellen Impfgegnern beliebt und müssen häufiger Masern-Ausbrüche melden als andere Einrichtungen.
Allerdings stimmt das Bild, dass die Staatsapparate in der Corona-Pandemie das Bild von prekären, unverantwortlichen Impfverweigern zeichnen.
Selektiver Solidaritätsbegriff
Ihnen wird vorgeworfen, sie seien unsolidarisch mit ihren Mitmenschen, wenn sie sich nicht impfen ließen. Das zeugt von einem sehr selektiven und beliebigen Umgang mit dem Begriff der Solidarität, der seit Beginn der Pandemie zu beobachten ist: Jeder Einzelne soll jetzt solidarisch sein, indem er sich streng an das Corona-Regime hält.
Wie Baron kritisiert, klagt heute der gutturalisierte Mittelstand über die Entsolidarisierung der Gesellschaft – und meint damit nicht das kaputtgesparte Gesundheitssystem, sondern die Impfverweigerer. Mit diesen unterschiedlichen Begriffen von Solidarität in der Pandemie befasst sich auch das Buch "Corona und Gesellschaft", das kürzlich im Mandelbaum-Verlag erschienen ist und sich mit sozialen Kämpfen in Corona-Zeiten befasst.
Gleich im ersten Kapitel befassen sich die Herausgeber, linke Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihren Arbeitskreis "Corona-Monitor" nennen und die Pandemie-Politik seit März 2020 beobachten, mit einer exklusiven Solidarität, die nur einer bestimmten, eng begrenzten Gruppe zugutekomme. Demnach ist der Appell "Stay at Home" ein Beispiel für diese exklusive Solidarität, weil sie Menschen, die gar kein Zuhause haben, in dem sie bleiben können, damit ausgrenzt – und Menschen, die in beengten Verhältnissen leben, die Wohnung aber teilweise zumindest zur Arbeit verlassen müssen, nur sehr bedingt schützt.
Der Leipziger Sozialwissenschaftler Leon Roser Reichle befasst sich in seinem Beitrag mit verschiedenen Aktionen von nachbarschaftlicher Solidarität, die vor allem in den ersten Wochen der Pandemie boomte. Dabei unterscheidet er drei Arten von Solidarität: die gefühlte moralische Verpflichtung, die jede gesellschaftskritische Komponente ausblendet, Solidarität als politische Praxis, oft in enger Kooperation mit der Politik oder Solidarität als Kampfprozess, der die Gesellschaft verändern soll.
Vor allem linke Stadtgruppen setzten natürlich auf die dritte Form. Aber auch in linken Initiativen finden sich die unterschiedlichen Formen von Solidarität oft unvermittelt nebeneinander.
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