Impfnationalismus im Aufwind
In Europa scheinen angesichts stotternder Impfkampagnen die alten nationalen Reflexe die Überhand zu gewinnen
Pandemien scheinen auch bei Staaten Regressionen zu befördern. Beim Ausbruch der ersten Covid-Welle im vergangenen Jahr schienen die Länder Europas in ein simples, altes Verhaltensmuster zurückzufallen, das die Geschichte Europas in den vergangenen Jahrhunderten prägte: alle gegen alle, und jeder für sich allein. Damals bildeten Atemschutzmasten das Objekt staatlicher Begierde, dem alle europäische Solidaritätsrhetorik schnell geopfert wurde.
Masken, die für das von der Pandemie besonders hart getroffene Italien bestimmt waren, wurde in Polen und Tschechien von staatlichen Stellen beschlagnahmt. Und auch in Deutschland "verschwanden" plötzlich Hunderttausende von Masken im Transit, die italienische Firmen in China gekauft haben.
Bei den aktuellen zwischenstaatlichen Auseinandersetzungen um Impfstoffe und Grenzschließungen scheinen solche nationalistischen Reflexe abermals die Oberhand zu gewinnen. Die WHO warnte Ende Januar vor dem aufkommenden Impfstoff-Nationalismus, der die Kluft zwischen armen und wohlhabenden Regionen vergrößern werde. Der WHO-Vorsitzende Tedros Adhanom Ghebreyesus sprach von einem "katastrophalen moralischen Scheitern", falls der globale Kampf um eine größere Impfgerechtigkeit verloren gehen sollte.
Der Impfnationalismus könnte die Weltwirtschaft bis zu 9,5 Billionen US-Dollar kosten, wobei rund die Hälfte dieser Verluste auf die reichen Industrienationen entfiele. Das Horten von Impfstoffen durch reiche Staaten, die Millionen an überschüssigen Impfdosen bestellt haben, führe laut Ghebreyesus vor allem dazu, dass die "Pandemie weiter brennen" werde.
Mit dem Impfnationalismus mögen zwar "kurzfristige politische Ziele" verfolgt werden, doch sei diese Strategie letztendlich zum Scheitern verurteilt. "Wir werden die Pandemie nirgends besiegen, solange sich nicht überall besiegt wurde", warnte der WHO-Chef.
Die Warnungen der WHO stellen eine Reaktion auf die Exportbeschränkungen der EU dar, die angesichts der schleppenden Produktion und Distribution von Impfstoffen dazu überging, Vakzin-Exporte zu überwachen und gegebenenfalls zu verbieten. Laut Experten können gerade diese europäischen Exportkontrollen zu einem "Kollaps der globalen Versorgung" führen, wie Suerie Moon, Kodirektorin des Schweizer Global Health Centre Graduate Institute, ausführte.
Demnach wachse die Gefahr, dass diese Entscheidung der EU eine "Kaskade" auslöse, bei der andere Staaten und Wirtschaftsräume ebenfalls Exportverbote für Impfstoffe einführten. Die Situation könnte dem Zusammenbruch ähneln, als vor "einem Jahr Staaten, inklusive der EU, Nahrung und sogar Masken und andere essenzielle medizinische Vorräte" mit Exportverboten belegt hätten. Dies wäre "desaströs auf internationaler Ebene".
Ausgelöst wurden die europäischen Abschottungsreflexe durch die schleppende Produktion und Distribution der Impfstoffe in der Eurozone. Ursprünglich sollte deren Verteilung auf europäischer Ebene geregelt werden, wobei die EU-Kommission die Koordination der nationalen Impfstrategien übernahm. Die EU-Staaten gaben in Brüssel an, wie viele Dosen welcher Impfstoffe sie bestellen wollen, während die EU-Kommission in die entsprechenden Konzerne Subventionen pumpte, um die Forschung und Herstellung der Impfstoffe zu beschleunigen.
Die europäische Impfstrategie bestand darin, dass die EU-Staaten gemeinsam bei der Pharmabranche bestellen sollten, um dann die Impfstoffe nach einem in Relation zur Einwohnerzahl festgelegten Schlüssel europaweit zu verteilen. Die schleppende Produktion und Distribution der Impfstoffe in der EU, die sich nun zu einem regelrechten Desaster um die Vereinbarungen mit dem britisch-schwedischen Konzern AstraZeneca zuspitzt, ließ aber die europäische Solidarität früh aufbrechen.
Ausgerechnet Berlin scherte dabei aus. Die Bundesrepublik hat schon zum Jahreswechsel im Alleingang rund 30 Millionen Impfdosen bestellt, was die innereuropäische Solidarität aushöhlte und vor allem in Italien für großen Unmut sorgte.
Der zum Impfnationalismus führende Druck, möglichst schnell - und zur Not auf Kosten der vielbeschworenen europäischen Solidarität - Impfstoffe zu horten, resultiert aus der Wirtschaftskrise, die mit der Pandemie einhergeht.
Die kapitalistischen Gesellschaften sind nicht in der Lage, die notwendigen "Lockdowns" über längere Zeiträume durchzuhalten, da dies zu Wirtschaftseinbrüchen und der korrespondierenden Schuldenexplosion führt. Jede Woche im Lockdown koste die EU rund 12 Milliarden Euro, rechnete etwa die Nachrichtenagentur Bloomberg vor.
Britisch-europäischer "Impfkrieg"
Da Europa gegenüber den USA und Großbritannien bei den Impfungen zurückfällt, bedeutet dies auch einen zunehmenden ökonomischen Rückstand in der globalen Konkurrenz der Wirtschaftsräume. In der EU sind gerade mal drei Prozent der Einwohner geimpft worden, während es in den USA neun, in Großbritannien gar 13 Prozent sind.
Sollte die EU nicht noch Boden gutmachen können bei ihrer Impfkampagne, dann wäre der europäische Wirtschafts- und Währungsraum genötigt, die kostspieligen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung aufrechtzuerhalten, selbst wenn "andere große Ökonomien wieder voll zur Arbeit zurückkehren" würden, so Bloomberg. Eine solche Verzögerung von einem bis zwei Monaten würde die EU "50 bis 100 Milliarden Euro" kosten.
Dieser auf allen Staatssubjekten lastende ökonomische Druck, möglichst bald "zur Arbeit", also zur unbeschränkten Kapitalakkumulation zurückzukehren, erklärt auch die harten Bandagen, mit denen um Impfstoffe gekämpft wird. Die Regierungschefin Nordirlands, Arlene Foster, bezeichnete etwa das Vorgehen der EU gegenüber Nordirland, das zu einer regelrechten diplomatischen Krise zwischen Brüssel und London führte, als einen "unglaublichen Akt der Feindschaft".
Auslöser dieses "Impfkrieges" (so die New York Times), in dessen Zentrum sich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wiederfand, war die besagte Ankündigung Brüssels, Exportkontrollen für Impfstoffe einzuführen, die in der EU hergestellt wurden.
Von der Leyens EU-Kommission reagierte damit auf Lieferkürzungen des britisch-schwedischen Herstellers AstraZeneca. Laut der New York Times "sickerte es durch" bis nach Brüssel, dass AstraZeneca seine Lieferverpflichtungen gegenüber Großbritannien erfüllte, während der Konzern zugleich erklärte, "75 Prozent seines Liefervolumens für das erste Quartal" an die EU nicht einhalten zu können, was die Immunisierungspläne in der Union massiv verzögerte.
Mit Grenzkontrollen an der irisch-nordirischen Grenzen sollten "geheime Impfstofflieferungen an Großbritannien" verhindert werden, so Spiegel-Online. Hiermit würde aber eine harte Grenze auf der irischen Insel geschafften, wie sie eigentlich das Nordirland-Protokoll verhindern sollte. Dieser protektionistische Vorstoß aus Brüssel sorgte sowohl in Irland wie auch Großbritannien für heftige Empörung, so dass die EU-Kommission umgehend zurückrudern musste.
Die Verhinderung einer harten Grenze in Irland bildete einen der wichtigsten Punkte der Brexit-Verhandlungen. Die irische Regierung erklärte, sie sei von dem protektionistischen Vorhaben der EU-Kommission nicht vorher informiert worden. Es wisse trotz etlicher Telefonate zwischen dem irischen Premier Micheál Martin und Ursula von der Leyen noch immer nicht, wie dieser "Fehler" der EU-Kommission unterlaufen konnte, erklärte der irische Außenminister Simon Coveney.
Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte wiederum, dass sie keine Schuld an diesem diplomatischen Desaster trage, da die Verordnung in den Zuständigkeitsbereich von Kommissionsvizepräsident Valdis Dombrovskis falle, der für den Außenhandel verantwortlich sei.