Impfpflicht-Debatte im Bundestag zwingt zu "komplexen Abwägungen"
Ab 18 Jahren, erst ab 50 oder gar nicht? Im Parlament wird kontrovers über das Ob und Wie einer Impfpflicht diskutiert
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) war merklich darum bemüht, ein schlichtes Gut-Böse-Schema in der öffentlichen Wahrnehmung zu vermeiden, als sie die Orientierungsdebatte zu einer Impfpflicht gegen das Coronavirus einleitete. Es gehe hier um "fachlich schwierige und rechtlich wie ethisch kontroverse Fragen", die zu "komplexen Abwägungen" zwängen, sagte Bas an diesem Mittwochnachmittag im Parlament.
Ihre Parteifreundin Dagmar Schmidt plädierte im Anschluss für die Impfpflicht, gab aber zu, es sei "kein kleiner Schritt, wenn lange Zeit eine Impfpflicht ausgeschlossen wurde und dann doch eingeführt wird". Tatsächlich hatten dies im vergangenen Jahr Politiker mehrerer Bundestagsparteien getan, auch der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).
Eine Impfpflicht sei auf jeden Fall ein milderes Mittel als die Durchseuchung, so die SPD-Politikerin Schmidt. "Es laufen zu lassen", das führe zwar irgendwann zu einer Grundimmunität in der Bevölkerung, aber vorher würden viele Infizierte sterben – die Alternative wären weitere Kontaktbeschränkungen und Lockdowns, so Schmidt.
Der Unionspolitiker Tino Sorge sprach anschließend über Versäumnisse, die eine Umsetzung der Impfpflicht erschweren könnten, sagte Sätze wie "Wir brauchen eine ordentliche Datengrundlage" und warf die Frage auf, ob "beispielsweise ein Impfregister der richtige Weg" wäre. Das entbehrte nicht einer gewissen Komik, da seine Partei in der vergangenen Wahlperiode auf der Regierungsbank saß.
Sorge betonte einerseits, Impfen sei der Weg aus der Pandemie, brachte aber keine eigenen Argumente für oder gegen eine Impfpflicht vor und kritisierte, dass Bundeskanzler Olaf Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach (beide SPD) kein Konzept vorlegen würden. Beide sind allerdings Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren. Sorge hob hervor, viele fachliche und auch verfassungsrechtliche Fragen dazu seien unbeantwortet.
Ohne Fraktionszwang
Über die Impfpflicht und deren Ausgestaltung soll im Bundestag ohne Fraktionszwang abgestimmt werden. So warben beispielsweise auch Abgeordnete der Grünen – beide ausgebildete Ärztinnen, aber keine Virologinnen – für zwei unterschiedliche Konzepte: Dr. Kirsten Kappert-Gonther sprach sich dafür aus, alle Volljährigen zur Impfung gegen das Coronavirus zu verpflichten, ihre Parteifreundin Dr. Paula Piechotta plädierte für den "Mittelweg", eine Impfpflicht nur für Menschen ab 50 Jahren einzuführen.
Piechotta, die Fachärztin für Radiologie ist, begründete dies mit Zweifeln an der Umsetzbarkeit und Vermittelbarkeit einer allgemeinen Impfpflicht in ihrem Bundesland Sachsen, das bisher eine der schlechtesten Impfquoten hat. Sie mache sich Sorgen um die "Befriedung", wenn zu viele Menschen gegen ihren Willen verpflichtet würden.
Kappert-Gonther, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, sprach von Einsamkeit und zunehmenden seelischen Belastungen durch Kontaktbeschränkungen, die sie aber als einzige Alternative zur allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren sieht. Sie betonte allerdings, dass eine Impfpflicht vielleicht gar nicht notwendig geworden wäre, wenn die Impfdebatte insgesamt "motivierender und aufmunternder" gewesen wäre – wie etwa im "rot-grün-rot" regierten Bundesland Bremen, wo inzwischen praktisch alle Erwachsenen geimpft sind.
"Mittelweg" sieht Pflichtberatung für Jüngere vor
Den "Mittelweg" hatte zuvor Gruppe um den FDP-Abgeordneten Andrew Ullmann vorgeschlagen und konkretisiert: Wenn nach einem verpflichtenden, professionellen und persönlichen Beratungsgespräch für alle volljährigen Ungeimpften und nach einer gewissen Zeit die nötige Impfquote nicht erreicht wird, soll es eine Pflicht zum Nachweis einer Impfung ab 50 Jahren geben.
Justizminister Marco Buschmann (FDP) erklärte dazu, die "mildere Alternative einer altersbezogenen, einer gestuften Impfpflicht" sei sehr ernst zu nehmen. Der Corona-Expertenrat habe festgestellt, dass vor allem durch über 50-jährige Ungeimpfte eine Überlastung der Intensivstationen drohe.
Die Abgeordnete Kathrin Vogler (Die Linke) betonte in ihrer Stellungnahme, dass die Krankenhausbeschäftigten in Deutschland schon vor der Pandemie "am Limit" gewesen seien und kritisierte die Politik der vergangenen "schwarz-roten" Bundesregierung vor und während der Pandemie. "Eine vorausschauende Politik war das nie", sagte Vogler und verwies auf fehlende Luftfilteranlagen in den Schulen sowie den Mangel an Testkapazitäten.
All das habe zur allgemeinen Verunsicherung und somit auch zu Vorbehalten gegen die "sehr sicheren" Impfstoffe beigetragen. Vogler konnte auf die erfolgreiche Überzeugungsarbeit ihrer Parteifreundin Claudia Bernhard verweisen, die Gesundheitssenatorin in Bremen, dem Land mit der besten Impfquote ist. Eine Impfpflicht könne als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit zwar nur die "Ultima Ratio", aber unter Umständen sogar zwingend geboten sein, um Leben und Gesundheit gefährdeter Menschen zu schützen, sagte Vogler. Sie denke nicht, "dass wir da am Ende der Diskussion sind".
AfD-Fraktionschef Tino Chrupalla bekräftige dagegen, seine Fraktion lehne eine Impfpflicht vollständig ab, argumentierte aber zu einem großen Teil gerade mit den wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns zur Eindämmung der Pandemie, die Befürworter der Impfpflicht mit deren Hilfe vermeiden wollen. Die AfD-Ko-Fraktionschefin Alice Weidel warnte im Zusammenhang mit der Impfpflicht vor einem "Zivilisationsbruch", obwohl bereits eine Masern-Impfpflicht besteht, gegen die es aber weit weniger Vorbehalte gibt. Jeder müsse frei entscheiden können, ob er sich durch eine Impfung oder auf eine andere Art und Weise schützen will, so Weidel.
Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) sprach sich gegen eine allgemeine Impfpflicht aus, betonte aber, dass es "gute Gründe für eine Impfung" gebe. Er selbst habe sich bewusst für das Impfen und "Boostern" entschieden. "Es war für mich persönlich ein enorm befreiendes Gefühl." Nur die Argumente für eine Impfpflicht würden ihn nicht überzeugen.
Eigenschutz mit solidarischem Effekt
Tatsächlich dient die Covid-19-Impfung in erster Linie als Eigenschutz, da sie in der Regel schwere Krankheitsverläufe, aber eher selten die Infektion und auch nicht zuverlässig die Weitergabe des Virus verhindert. Einen solidarischen Effekt hat die Impfung aber dennoch, weil eine Überlastung der Krankenhäuser und Intensivstationen durch hohe Impfquoten unwahrscheinlicher wird.
Das ist vor allem von Belang für Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können und daher keine Möglichkeit haben, auf ihr persönliches Hospitalisierungs- und Sterberisiko Einfluss zu nehmen. Befürworter der Impfpflicht betonen daher, dass es nicht nur um ein "Recht auf Selbstschädigung" in der Gruppe der freiwillig Ungeimpften gehe. Wer nicht die Wahl habe, müsse darauf vertrauen können, im Ernstfall adäquat medizinisch behandelt zu werden.
Statistisch sind unter 50-Jährige weniger durch die Krankheit gefährdet, Kritiker des "Mittelwegs" befürchten aber, dass Jüngere das auch für sie vorhandene Risiko im Fall einer solchen Lösung unterschätzen könnten und deren freiwillig Impfbereitschaft sinken würde.
"Die Debatte um die Impfpflicht unterscheidet sich sehr von anderen bioethischen Debatten, weil es ums Überwinden einer akuten Gesellschafts- und Gesundheitskrise geht", schrieb dazu Baden-Württembergs Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) auf Twitter. Kubicki irre sich, wenn er meine, die Impfpflicht sei eine Frage mit ähnlicher Qualität wie die der Sterbehilfe.