Impfpflicht im Kontext unserer Gesundheitskultur
Seite 3: Überall strategische Kommunikation
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An dieser Stelle muss ich mal den Ball zurückspielen, nämlich an die Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikateure in unseren Reihen: Es ist doch kein Wunder, dass uns immer weniger Menschen glauben, wenn wir selbst immer strategischer kommunizieren und PR-Tricks anwenden (am Beispiel der Genetik haben das Caulfield und Condit hier erklärt; für einen ähnlichen Artikel mit Open Access siehe hier).
Wie sich zeigt, sind es nicht nur die "bösen Journalisten", die Funde übertreiben, um höhere Leser- und Klickzahlen zu erzielen, sondern Wissenschaftler und die Presseagenturen ihrer Institutionen selbst. Wenn ich versuche, dies mit Kollegen zu besprechen, dann ernte ich meistens ein Schulterzucken oder die abfällige Bemerkung, das seien doch nur "soziologische Themen". Sie beschreiben aber die tägliche Realität unserer Kommunikationskultur.
Ein aktuelles wie anschauliches Beispiel ist die Diskussion um die Früherkennung von Eierstockkrebs. Eine Studie des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ergab, dass die heutige Praxis der Früherkennung zu vielen falsch-positiven Befunden führt. So würden im Ergebnis auf jede notwendige Operation zehn überflüssige Eingriffe bei gesunden Frauen kommen.
Das erzürnte den Berufsverband der Frauenärzte, die wohlgemerkt an der Praxis Geld verdienen. Schockierend ist für mich aber nicht so sehr, dass diese staatsexaminierten und in den meisten Fällen wohl promovierten Ärztinnen und Ärzte eine andere Meinung haben - sondern dass sie die Studie des IQWiG nicht einmal richtig verstanden zu haben scheinen.
Das führt so weit, dass man sich nicht einmal darüber verständigen kann, wer welche Studien zitiert. Sauberes wissenschaftliches Arbeiten geht anders. Als jemand, der bereits an der medizinischen Fakultät gelehrt und auch heute noch regelmäßig Medizinstudenten im Seminar sitzen hat, wundere ich mich jedenfalls nicht über Defizite in der wissenschaftlichen Grundausbildung. Dieses Beispiel ist dann aber doch schon recht extrem.
Faktenverdrehung
Ich könnte hier jetzt aus meinem eigenen Forschungsbereich ähnlich drastische Beispiele anführen: Dass man etwa eine Studie, die zeigt, dass rund 90% der Menschen mit oder ohne ADHS-Diagnose keine Unterschiede im Gehirn aufweisen, so umschreibt, dass ADHS als Gehirnstörung erscheint. So kann man sie eben in einer der führenden psychiatrischen Zeitschriften publizieren (im Lancet Psychiatry).
Oder es sei noch einmal an die jüngere Meta-Analyse über Antidepressiva erinnert. Die Daten zeigen, dass selbst dann, wenn man die von den Pharmafirmen finanzierten und wahrscheinlich verzerrten Studien mitberücksichtigt, die Wirkung dieser heute so häufig verschriebenen Medikamente nicht einmal die Schwelle der klinischen Relevanz erreicht ("Bei rund 90% wirken Antidepressiva nicht besser als Placebo"). Was berichten die Wissenschaftler (wieder im Lancet) und die meisten Medien? Endlich sei bewiesen: Antidepressiva wirken!
So geht es eben immer weiter. Und während die Weltgesundheitsorganisation vorhersagt, dass Depressionen in Bälde weltweit die häufigste Erkrankung sein werden (Die Deutschen sind kränker denn je), beschwichtigen die (in der Regel staatlich finanzierten) Wissenschaftler und Ärzte: Es gibt keinen Anstieg dieser Störung, man diagnostiziere nur besser.
Die vielen Millionen unerkannten Depressiven vor noch zehn oder zwanzig Jahren müssen schlicht niemandem aufgefallen sein. Über die psychosozialen Ursachen der Probleme schweigt man indessen (Mehr über Ursachen von Depressionen). Das könnte man ja als gesellschaftskritisch auffassen.
Ich schweife ab. Der springende Punkt ist aber, dass man durch Ausgrenzung, Kontrolle und Strafen das Problem wahrscheinlich nicht behebt, sondern vor allem individualisiert und damit die gesellschaftlichen Ursachen aus den Augen verliert. Leider kann man nicht zu einer anderen Schlussfolgerung kommen, als dass heute durch zu viel strategische Kommunikation, PR und Propaganda immer mehr Misstrauen entsteht. Dieser Befund ist auch nicht neu. Trotzdem geht es immer so weiter.
So schafft sich aber die Politik ihre eigenen Probleme, die dann wieder mit viel Medienecho durch Gesetzesentwürfe "gelöst" werden. Für die an der Kommunikation Beteiligten ist das eine Win-win-Situation. Bloß den Menschen, um die es eigentlich geht, nützt es weniger. Gute Wissenschaft ist aber in keinem Fall, die Fakten an die Meinung anzupassen; und auch gute Politik sollte das besser unterlassen.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.