In Indien gibt es Fortschritte, aber …

Fischer Mandal an seinem größten Teich. Ganz sauber bekommt er das Wasser nicht mehr. Foto: Gilbert Kolonko

Aktive Menschen und die Gerichte Indiens versuchen die Umwelt ihres Landes zu retten. Doch sie bekommen keine Unterstützung, weil der Wachstumswahnsinn Vorrang hat

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Mit dem Fischer Sujut Mandal stehe ich auf einem Pfad zwischen zwei großen Teichen inmitten der östlichen Feuchtgebiete Kolkatas. Der eine ist verdreckt, im nur leicht getrübten Wasser des anderen Teiches sehe ich sogar Fische springen.

Dann laufen wir ein Stück zu einem schwarzgefärbten, stinkenden Kanal und Mandal erklärt: "Hier fließt das ungereinigte Abwasser Kolkatas entlang. Alle 21 Tage lassen wir es zur Vorreinigung in einen Teil unserer Teiche. Das dort schon vorgereinigte Wasser lassen wir in die Fischteiche laufen."

In der vierten Generation sorgt Mandal mit anderen Fischern dafür, dass ein Teil der täglichen 750.000 Millionen Abwässer Kolkatas für die Fischzucht genutzt und dadurch gereinigt wird. Was so einfach klingt, ist jedoch ein sensibler biologischer Prozess, bei dem sich organischer Abfall auf dem Grund absetzt und dann mit Hilfe von Bodenbakterien, Makroalgen, Pflanzenbakterien und Pflanzen zu Fischfutter zersetzt wird.

Schon lange bevor die Wissenschaft das "Wunder" am Rande Kolkatas erklären konnte, hatten die Fischer gelernt, wann sie wie viel Abwasser in die verschieden Teiche leiten müssen und wieviel und welche Pflanzen es braucht.

Der große Gosh

"Vor knapp 30 Jahren nahm Dr. Dhrubajyoti Ghosh unseren damaligen Chef-Minister Jyoti Basu mit in die Feuchtgebiete und zeigte ihm den Einlauf der Abwässer Kolkatas. Dann liefen sie ein Stück bis zu einer Stelle, wo das Wasser wieder herauslief. Dort füllte er ein Glas mit Wasser und reichte es dem Minister, der erschreckt zurückwich. Doch Gosh führte das Glas zum Mund und trank das saubere Wasser", erzählt mir der 78-jährige Dr. Meher Engineer mit einem Schmunzeln im Gesicht.

Dann berichtet er voller Bewunderung vom in diesem Jahr verstorbenen Dr. Dhrubajyoti Ghosh: "Er war der erste Wissenschaftler, der die wichtige Funktion der Feuchtgebiete als natürliche Kläranlage erkannte."

Die sogenannten East-Kolkata-Wetlands sind eines von zwei großen Feuchtgebieten der Erde mit der Fähigkeit Abwässer zu reinigen - dazu schützen sie Kolkata vor Überschwemmungen. Es ist Ghosh zu verdanken, dass 12.500 Hektar der Feuchtgebiete im Jahr 2002 im Ramsar-Abkommen als international wichtig, unter Schutz gestellt wurden.

Knapp 17 Kilometer östlich vom Zentrum Kolkatas befindet sich der Leder-Komplex-Bantala. Auf Grund eines Urteils des Obersten Gerichtes wurden die Gerbereien Kolkatas im Jahr 2004 aus den Wohnsiedlungen der Stadt aufs Land umgesiedelt.

Wer den Preisdruck der westlichen Einkäufer auf die Ledergerbereien und andere Billigindustrien Asiens kennt, kann sich vor diesem Schritt nur verneigen: In der Regel werden die giftigen Abwasser ungefiltert in die Flüsse geleitet und durch menschliche Siedlungen.

Das Abwasser vieler Gerbereien fließt wegen verstopfter Abflüsse nicht dorthin wo es soll. Foto: Gilbert Kolonko

Der Fortschritt

Doch schon am Eingang des 4,5 Quadratkilometer großen Industriepark mit seinen 272 Gerbereien stinkt etwas am Fortschritt. An einem Teestand vor einem modernen zehnstöckigen Gebäude sage ich zu einer Gruppe Teetrinker, dass sie für Gerberei-Arbeiter ungewöhnlich adrett gekleidet sind.

Nachdem das Lachen der Gruppe abgeklungen ist, antwortet einer von ihnen: "Entschuldigen sie unser Verhalten. Aber wir arbeiten im gegenüberliegenden Gebäude für eine IT-Firma."

Etwas irritiert frage ich, ob das hier nicht der Leder-Komplex ist, worauf der etwa 30-Jährige antwortet: "Doch. Aber die bengalische Regierung hatte den Plan, im vorderen Teil einen IT-Park zu errichten." Dann zeigt er auf zwei große Bauruinen, hält sich die Nase zu und erklärt: "Doch wegen des Gestanks aus den Ledergerbereien, ist der Plan aus gesundheitlichen Gründen abgeblasen worden. Unsere Firma ist die einzige geblieben."

Einen Kilometer geht es an einem Kanal mit stinkenden und blau gefärbten Abwässern entlang, dann tauchen die ersten Gerbereien auf. Die meisten Gebäude sehen jetzt schon aus, als hätten sie 100 Jahre hinter sich.

Aus jedem dritten laufen die bunten Abwässer wegen verstopfter Abläufe in die Umgebung, anstatt in dafür vorgesehene Kanäle. Daneben liegen gegerbte Fälle zum Trocknen aus. In der Mittel des Leder-Komplexes gibt es sogar einen Basar, auf dem Obst, Gemüse und offen hängendes Fleisch verkauft wird - riechen tut alles gleich: süß-sauer mit chemischer Note.

Die Betreiber des Industrieparks werben damit, dass die Abwässer mit den neuesten Technologien gereinigt werden. Doch nachdem ich die stinkende Brühe vom Verlassen der Gerbereien bis zum letzten Kanal begleitet habe, wo sie ins Freie in den pechschwarzen Kuti-Kanal geleitet werden, habe ich meine Zweifel, dass hier überhaupt irgendetwas gereinigt wurde.

Neben einem stinkenden Abwasser Kanal im Leder Komplex Bantal liegt das Leder zum Trocknen aus. Foto: Gilbert Kolonko

An Positivem bleibt: Die giftigen Abwässer machen direkt "nur" die Arbeiter im Gerbereipark krank, nicht auch noch den Rest der Bevölkerung. Dazu fließt der Kuti-Kanal nicht durch große menschliche Siedlungen und sein Wasser entlässt er in den Mangrovenwäldern der Sunderburns, die die Reinigung "übernehmen".

Anschließend gehe ich in der Innenstadt Kolkatas zwei Tage lang Hinweisen auf illegale Gerbereien nach. Doch finde ich nur alte Gerbereigebäude, die jetzt für andere Unternehmungen genutzt werden. Erst in der Gegend Park-Circus treffe ich auf ein offenes Gerbereigebäude, mit dem Firmenschild der Oxfort-Gerberei.

Versteckte Aktivitäten

Doch im Büro werde ich nicht erfreut wie ein potenzieller Kunde empfangen, sondern irritiert. "Ich dachte, die Gerbereien sind alle nach Bantala verlegt worden", sage ich dem Herrn, der sich mir als Manager vorstellt. "So ist es. Hier ist nur noch unser Büro. Sie können sich gerne umschauen", antwortet dieser freundlich und fährt dann fort: "Sie werden hier auch keine anderen Gerbereien mehr finden. Alle Besitzer haben eine Menge Geld für den Umzug nach Bantala investieren müssen. Da würden wir gar nicht zulassen, dass andere Firmen illegal weiter ihr Geschäft betreiben."

Als ich frage, ob das auch für die ehemalige Gerberei Hochburg China Town in Kolkata-Tangra gilt, antwortet der Manager völlig überzeugt: "Dort sind doch jetzt überall chinesische Restaurants!"

Hier könnte jetzt die Geschichte enden und zeigen, dass es doch Fortschritte in Sachen Umweltschutz gibt.

Doch am nächsten Tag schaue ich selbst im ehemaligen Gerbereiviertel China Town nach. Wie der Manager der Oxfort-Gerberei sagte, sind wirklich viele chinesische Restaurants zu sehen. Doch schon auf der New Tangri Road strömt mir ein bekannter Geruch in die Nase - kurz darauf sehe ich auf den Dächern frisch gegerbtes Leder zum Trocknen ausgelegt.

Ein ausgedehnter Spaziergang durch die Seitenstraßen lässt mich Bekanntes sehen: Ströme von blauen, stinkenden Gerbereiabwässern fließen in der offenen Kanalisation - ich zähle mehr als 40 aktive Gerbereien.

Am Rand von China Town laufen die Abwasser auf eine Wiese des ungeschützten Teils der Feuchtgebiete. Foto: Gilbert Kolonko

Am östlichen Ende China Towns laufen die ungereinigten Gerbereiabwasser auf eine Wiese, die mal Teil des Feuchtgebietes war - daneben legen drei ältere Arbeiter Leder zum Trocknen aus. Im Osten, am Rand des geschützten Teils der Feuchtgebiete, ragen fertige und im Bau befindliche Hochhäuser bis über 100 Meter gen Himmel, darunter auch der Trump Tower Kolkatas.

Wie ein Mangelbericht der bengalischen Umweltbehörde zeigt, weiß die Regierung, dass auch der Leder-Komplex-Bantala die Umwelt verschmutzt. Doch vermutlich weiß sie auch, dass sie ihren Gerbereien nicht noch mehr mit Vorschriften kommen darf, weil die westlichen Einkäufer sonst weiter ziehen.

Das ist im Ledergeschäft nichts anders als bei Textilien aus Bangladesch. Dort zeigte Telepolis im April 2018 auf (siehe: Fünf Jahre nach dem Tod von 1129 Textilarbeitern), dass die westlichen Einkäufer anders als versprochen, keine Verantwortung übernehmen, um die Arbeits- und Umweltbedingungen an ihren Produktionsorten zu verbessern.

Im Gegenteil: Der Preisdruck auf die Firmen Bangladeschs ist so gestiegen, dass die westlichen Einkäufer sogar 13 Prozent weniger bezahlen als vor fünf Jahren. In Indien war Deutschland im Jahr 2017/18 übrigens der zweitgrößte Einkäufer von Lederprodukten.

Viele Fischer verkaufen

Auch der Fischer Sujut Mandal hat noch nicht zu Ende gesprochen. Vor einem seiner Teiche, zeigt er in nördliche Richtung, wo ebenfalls Hochhäuser zu sehen sind und sagt: "Von der Gegend Salt Lake drängen die Wohnsiedlungen immer mehr in die Feuchtgebíete. Windige Geschäftsleute bieten den Fischern enorme Geldbeträge für deren Land. Viele Fischer verkaufen. Unsere Arbeit wird immer schwerer, weil die Verschmutzung des Abwassers schlimmer wird, so dass wir das Wasser nicht mehr ganz sauber bekommen. Doch die Regierung weigert sich, uns mit Zahlungen zu unterstützen, oder etwas gegen die Verschmutzung zu tun".

Inmitten des beißenden Gestanks des Leder Komplexes Bantal gibt es einen Basar, mit Obst, Gemüse und Fleisch. Foto: Gilbert Kolonko

Als ich Mandal frage, ob man ihm auch schon Geld für seine 30 Teiche geboten hat, antwortet er entschlossen: "Ja, sehr viel Geld, aber ich habe abgelehnt." Dann fügt Mandal hinzu, dass er die Fischerei hier liebe, denn wer kann schon Geldverdienen und dabei Nützliches tun.

"Doch ich betreibe die 30 Teiche mit 20 anderen Mitgliedern meiner Familie (inklusive Brüder und Onkels). Wenn unsere Arbeitsbedingungen noch schlechter werden, gehen mir bald die Argumente aus" - worauf er in westliche Richtung zeigt, wo Qualm den 12 Hektar großen Müllberg von Dhapa erahnen lässt (vgl.: "In Indien ist alles vergiftet")

Dort nutzen Bauern die Feuchtgebiete und die Abwässer für die Landwirtschaft. Doch weil auf der Müllkippe der Elektromüll immer mehr wird, vergiftet das Schwitzwasser, das auf die Felder läuft und in die Gräben, das Wasser so stark, dass die Natur das Wasser nicht mehr selbst Reinigen kann.

Fischer Sujut Mandal

Zurück im Zentrum Kolkatas blickt der 78-jährige Doktor Engineer aus dem Fenster seiner Einzimmerwohnung auf die Lenin Sarani Road, auf der sich eine hupende Blechlawine im Schritttempo voranschiebt - auch er hat noch nicht zu Ende gesprochen:

Als ich ein junger Mann war, haben die Menschen zwei Kilometer östlich von hier noch Enten gejagt. Weder die aktuelle noch die Vorgänger-Regierung kann sich herausreden: 30 Jahre hat Dr. Ghosh ihnen versucht klarzumachen, dass die Feuchtgebiete Kolkatas der Regierung jedes Jahr Millionen von Dollar sparen, weil die Feuchtgebiete die Aufgabe des Staates übernehmen und die Abwässer reinigen. Im Jahr 2004 hat auch Ghosh die Geduld verloren und seine Regierungsstelle als oberster Umweltbeamter von Bengalen gekündigt, weil er so eine bessere Chance sah, die Grüne-Lunge Kolkatas zu retten. Denn auch diese Aufgabe übernehmen die Feuchtgebiete: sie reinigen die Luft. Dabei haben wir schon jetzt an vielen Tagen schlimmeren Smog als Delhi.

Doktor Engineer, Bewohner Kalkotas

Grüne Lungen

Ghoshs Worte erinnern ein wenig an Berlin, wo den Lobbyisten der Immobilienbranche in Funk und Fernsehen Platz gegeben wird, um zu versprechen: Gebt uns die Gärten der Stadt, ein Teil der Grünen Lunge Berlins, wir geben euch bezahlbare Wohnungen und Wachstum. Dabei sollte doch mittlerweile bekannt sein, dass Immobilien in den Hauptstädten dieser Welt zum Spielball der Finanzwelt geworden sind.

Letztendlich dürfte es nicht überraschen, dass auch die Abwässer des Leder-Komplexes-Bantala von den Magrovenwäldern der Sunderburns nicht mehr verarbeitet werden können. Selbst Aufforstungsversuche der indischen Regierung halfen nicht, da die gepflanzten Mangroven keinen Halt finden - die Verschmutzung der Sunderburns in Indien hat eine Stufe erreicht, sodass auch diese Grüne Lunge vor dem Kollabieren steht,