"In Krisenzeiten haben die Grundrechte keinen Ausschalter"
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über die Beschneidung der Grundrechte aufgrund der Coronakrise
"Bedenklich halte ich, dass das Gesundheitsministerium per Rechtsverordnung von allen Vorschriften des Infektionsschutz- und anderer Gesetze abweichen kann", sagt Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Telepolis-Interview. "Gesetze", so die ehemalige Bundesjustizministerin, "sollen nur vom Parlament und nicht von der Exekutive quasi mit Blankoermächtigung geändert werden." Ein Interview über die Maßnahmen der Bundesregierung in Sachen Coronavirus und die Freiheitsrechte der Bürger.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie sind bekannt dafür, dass Sie sich für Freiheitsrechte und Datenschutz einsetzen. Wie schauen Sie auf die gegenwärtige Situation in Deutschland?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Deutschland ist in einer Pandemie - einer Krisensituation, die zu drastischen Freiheitsbeschränkungen führt. Wir können uns nicht frei bewegen, wir können uns nicht öffentlich versammeln, wir können nicht reisen und unseren Beruf teilweise nicht ausüben.
Lassen Sie uns die Situation der Reihe nach besprechen. Unter der Prämisse, dass vom Coronavirus tatsächlich eine schwere Gefahr für unsere Bevölkerung ausgeht: Ist für Sie nachvollziehbar, dass die Bundesregierung auch zu drastischen Maßnahmen greift?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich halte es für nachvollziehbar, dass die Bundesregierung als Krisenmanager effizient und zügig handelt. Da es um eine unsichtbare Gefahr, ein infektiöses Virus geht, sind Ausgangsbeschränkungen ein drastisches Mittel, das von vielen Experten empfohlen wird.
Nun bringt es an dieser Stelle wenig darüber zu diskutieren, wie belastbar die den Annahmen der Experten zugrunde liegenden Daten sind, und ob die Prognosen gerechtfertigt sind oder nicht. Die Realität ist, dass wir nunmehr schon eine Weile im Ausnahmezustand leben und ein Ende noch nicht abzusehen ist. Für wie rechtlich tragfähig halten Sie die Entscheidungen der Bundesregierung?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Das seit 2000 bestehende Infektionsschutzgesetz auf Bundesebene erlaubt Meldepflichten, Beschlagnahmen und Aufenthaltsbeschränkungen. Jetzt wurde es umfassend verschärft und die Maßnahmen ausgedehnt. Nach meiner Einschätzung wäre ein totales Ausgangsverbot aber unverhältnismäßig und wohl nicht gedeckt.
"Angst essen Freiheit auf"
Unsere Verfassung umfasst auch Notstandsgesetze. Würden Sie uns bitte sagen: Was sind die Notstandsgesetze und wie kamen diese zustande?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die Notstandsgesetze wurden 1968 im Grundgesetz verankert und sollten einen handlungsfähigen Staat in Krisensituationen gewährleisten. Die Gesetze ermöglichen es der Regierung, im Katastrophenfall Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis oder die Freizügigkeit einzuschränken. Der Protest unter dem Motto "Keine NS-Gesetze" von Gewerkschaften, Studentenbewegungen und der FDP war intensiv. Die Notstandsverfassung musste nie eingesetzt werden: Seit 1949 hat die Bundesrepublik keinen Krieg im eigenen Land, keine gewaltsamen Aufstände und keine Naturkatastrophe erlebt, die eine Anwendung legitimiert hätten.
Damals gab es also massive Proteste, Widerstand?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es gab sehr kontroverse öffentliche Auseinandersetzungen und Demonstrationen. Als Kompensation wurde deshalb auch das allgemeine Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz aufgenommen.
Auch wenn die Situation heute sicherlich eine andere ist: Proteste gibt es aktuell keine - zumindest keine sichtbaren. Und auch in den Medien scheinen Stimmen, die sich kritisch mit den Einschränkungen der Freiheitsrechte auseinandersetzen, eher die Ausnahme zu sein. Was denken Sie, wenn Sie sehen, dass Bürger, aber auch Medienvertreter die aktuellen Maßnahmen so hinnehmen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich kann verstehen, dass die Menschen jetzt zuerst auf Sicherheit für sich setzen. Aber genau so wichtig ist, dass alle einschränkenden Maßnahmen immer wieder auf ihre Berechtigung überprüft werden. In Krisenzeiten haben die Grundrechte keinen Ausschalter. Angst essen Freiheit auf, habe ich es in meinem Buch genannt. Dem will ich eine andere Sichtweise entgegensetzen.
Bisher wurde erstaunlich wenig über die Dauer der Maßnahmen gesagt. Wie lange ist es aus rechtlicher Sicht zu vertreten, die Eingriffe in die Grundrechte aufrechtzuhalten?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die massiven Ausgangsbeschränkungen sind größtenteils auf 2 Wochen befristet und werden dann jeweils verlängert. Das ist nicht beliebig fortzusetzen. Entscheidend ist immer, ob die Eingriffe noch verhältnismäßig sind. Hat sich die Infektion sehr verlangsamt und ist das Gesundheitssystem handlungsfähig, einen Anstieg zu verkraften, dann müsste es nach den Begründungen der Bundesregierung erste Lockerungen geben.
Was wäre, wenn die Maßnahmen weiter verschärft würden, zum Beispiel so wie in Frankreich, wo die Bürger mittlerweile nur noch für eine Stunde nach draußen gehen und sich nur in einem Radius von 1 Kilometer um ihren Wohnsitz bewegen dürfen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich sehe nicht, dass die derzeitigen Einschränkungen in Deutschland nicht eingehalten würden. Die Berichte der Polizei sind insoweit positiv. Es gibt aus meiner Sicht deshalb keine Notwendigkeit zu Verschärfungen.
Wo sollte auch das Problem im Sinne eines Infektionsrisikos liegen, wenn beispielsweise ein Bürger mit seinem Auto von Hamburg nach München und wieder zurückfahren möchte?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Wenn ein Autofahrer sein Auto nicht verlässt, gibt es kein Problem. Wenn er aussteigt und alle hygienischen Vorgaben beachtet, ist das Risiko minimiert. Und geschäftliche Kontakte sind ja unter diesen Bedingungen erlaubt.
"Auch in Krisensituationen gelten die Gewaltenteilung und die Grundrechte"
Zum Vollzug der Ausgangsbeschränkungen bzw. Ausgangssperren: Nach verschiedenen Verordnungen braucht es einen triftigen Grund, um die Wohnung zu verlassen. Halten Sie die Ausbildung der Sicherheitsbehörden für ausreichend, um wirklich über das Vorliegen eines triftigen Grundes entscheiden zu können?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Diese Regelung muss von der Praxis pragmatisch ausgelegt werden. Das kann nicht abschließend im Gesetz aufgezählt werden. Und dann wird es Unsicherheiten geben. Darf ich zur Erledigung von wichtigen Nachlassangelegenheiten an einen anderen Ort fahren? Da muss Erfahrung gesammelt werden.
Das Bundesgesundheitsministerium soll mit Minister Spahn weitreichende Kompetenzen bekommen. Wie sehen Sie das Vorhaben?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Dass Minister Spahn zur Verbesserung der gesundheitlichen Infrastruktur mehr Befugnisse bekommt, erscheint richtig. Aber die Ermächtigungen zum Regieren durch Rechtsverordnungen sind meines Erachtens sehr weitgehend. Da hätte es schon mehr Rücksicht auf die Länder geben müssen und auch die Zustimmung des Bundestages stärker verankert werden müssen.
Welche Möglichkeiten hat Minister Spahn dann?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Anforderungen an Einreisende - Gesundheitsattest, ärztliche Untersuchung, umfassende Personalien - anzuordnen, Verpflichtungen von Transportunternehmen, Reiseveranstaltern u.a. zur Verhinderung von Infektionen auszusprechen, Rechtsverordnungen zur Sicherstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten jeglicher Art zu erlassen wie auch Rechtsverordnungen zur Aufrechterhaltung der medizinischen, pflegerischen, gesundheitlichen Versorgung. Bedenklich halte ich, dass das Gesundheitsministerium per Rechtsverordnung von allen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und anderer Gesetze abweichen kann. Gesetze sollen nur vom Parlament und nicht von der Exekutive quasi als Blankoermächtigung geändert werden.
Gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte Rechtsprofessor Florian Meinel, das Vorhaben sei gefährlich, da dürfe man kein Auge zudrücken, sondern müsste beide öffnen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Genau so ist es. Auch in Krisensituationen gelten die Gewaltenteilung und die Grundrechte.
Derzeit wird als Ausweg aus der Situation immer wieder der Blick hin zu einem Impfstoff gelenkt. In dem neuen Gesetzespaket finden sich dann auch die Möglichkeiten für Melde- und Untersuchungspflichten. Würde das Gesetzespaket auch die Zwangsimpfung von Bürgern ermöglichen? Oder anders gefragt: Wäre eine Zwangsimpfung in Sachen Corona überhaupt verfassungsrechtlich zulässig?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich sehe keine ausdrückliche Ermächtigung zu einer Impfpflicht aller Menschen in Deutschland. Das ist höchst problematisch und kann ich mir schwer vorstellen.
Auch aus datenschutzrechtlicher Sicht passiert hier gerade Bedenkliches. Stichwort: Weitergabe von Handydaten an das Robert Koch Institut. Was ist hier passiert?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Minister Spahn möchte alle GPS-Ortungsdaten und Daten für umfassende Bewegungsprofile aller möglichen Kontaktpersonen von Infizierten erheben und verarbeiten. Das ist im ersten Anlauf aus Datenschutzgründen zu Recht gescheitert.
War die Weitergabe denn überhaupt rechtlich zulässig?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die Weitergabe anonymer Telekommunikationsdaten von den Diensteanbietern wie der Telekom und anderen an das Robert Koch Institut ist in Absprache mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten erfolgt.
"Ich sehe keinen Anwendungsbereich für einen Widerstand nach Grundgesetz"
Wo liegen hier die Gefahren?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Da geht es dann darum, dass die Daten nicht reanonymisiert werden und die gespeicherten Daten wirklich vor Missbrauch geschützt werden. In Österreich sind sie gehackt worden.
Derzeit ist es noch schwer zu sagen, wie die Zukunft aussehen wird, welche Schäden die Coronakrise bzw. die Entscheidungen der Bundesregierung nach sich ziehen wird. Derzeit ist vieles denkbar. Sehen Sie die Gefahr, dass die aktuellen Maßnahmen in der Zukunft missbraucht werden können?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist wirklich nicht möglich, jetzt Prognosen abzugeben. Um Missbrauch zu vermeiden, ist die Befristung der Maßnahmen wichtig, sie laufen dann einfach aus. Ich bin auch der Meinung, dass zahlreiche Sonderregelungen im Infektionsschutzgesetz des Bundes wieder aufgehoben werden sollten.
Ab welchem Punkt würden Sie Protest nach Grundgesetz Artikel 20 Absatz 4 für gerechtfertigt halten?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich sehe keinen Anwendungsbereich für einen Widerstand nach Art. 20 Absatz 4., denn die verfassungsmäßige Ordnung wird nicht gefährdet oder gar beseitigt.
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