In Netzen leben und denken
Über Capras "Lebensnetz" und ökologische Heilslehren
Das neue Buch des Taophysikers und Tiefenökologen Fritjof Capra leistet eine überzeugende und verständliche Synthese des wissenschaftlichen Paradigmenwechsels von der Physik zur Biologie. Doch dort, wo es um die Moral von der Geschichte geht, offenbaren sich Untiefen, die zeigen, wie schwierig es ist, die Einsichten aus den Theorien des Netzes, der Evolution und der Komplexität in Handlungsanweisungen und Weltbilder umzusetzen, die nicht hinter den erreichten Wissensstand zurückfallen.
Der Physiker Fritjof Capra ist einer der prominentesten Vertreter des New Age, einer mehr oder minder seltsamen Mischung aus Wissenschaft und Heilslehre, aus Kybernetik und Ökologie, deren zentraler Begriff der Ganzheitlichkeit die wildesten Spekulationen und Mystizismen zuläßt. Capra ging es nicht nur immer ums Ganze, er war auch stets ein Prophet der nötigen Umkehr und der Moralisierung der Wissenschaft. Für den Autor von "Wendezeit", dem "Neuen Denken"" und dem "Tao der Physik" gab es stets eine wesentliche Instanz des Bösen: die wissenschaftliche Rationalität und ihren Heros oder Teufel Descartes. Das macht die Schuldfrage trotz der stets im Munde geführten Komplexität überaus einfach und die daraus entstehenden Lösungen, also die spirituelle Wende vor allem, zu einer Glaubensangelegenheit.
Das Muster des Lebens ist ein Netzwerkmuster, das zur Selbstorganisation fähig ist.
Fritjof Capra
Vermutlich mußte das Bewußtsein über die ökologischen Gefährdungen und deren Hintergrund in der Lebensweise der Menschen erst drastisch und mit prophetischem Eifer propagiert werden, um Aufmerksamkeit zu finden. Jetzt aber ist diese Problematik bekannt und geht es um konkrete Umsetzungen, wegen mir um ein "Ökomanagement", wie sich Capra ausdrückt, das die in Anspruch genommene Komplexität auch im eigenen Denken berücksichtigt und sich vor vermeintlich einfachen Problemlösungs- und Schuldzuweisungsstrategien hütet. Capra gelingt es in seinem neuen Buch, die Komplexität des Lebendigen in seinem vielen Schichten und Aspekten deutlich und verständlich zu machen und in das Bild des Lebensnetzes viele der neuen wissenschaftlichen Ansätze zu integrieren, aber in seinem Drang, eine richtige Weltanschauung mit Handlungsanweisungen zu formulieren, fällt er doch wieder in die alten Schemata zurück. Leider, denn sein Buch macht in großen Strecken tatsächlich die Ansätze des neuen, nicht mehr auf der Physik, sondern der Biologie beruhenden Denkens anschaulich, stellt die geschichtlichen Zusammenhänge her und leistet mit der Metapher des selbstorganisierenden Netzes eine einleuchtende Synthese der vielen wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnisse. Bei diesen spielt allerdings, was Capra geflissentlich vergißt, der Computer, also eine durch und durch cartesianische Maschine, eine wesentlich Rolle.
Ein Netz von Netzen
Leitender Gedanke der biologischen Netztheorie ist, daß lebendige Systeme nicht nur stets Bestandteile von komplexen ökologischen Gemeinschaften oder Netzwerken sind, sondern selbst als Netzwerke begriffen werden müssen, die wiederum viele kleinere, relativ autonome, mehr oder weniger abhängige Organismen integrieren. Im Web des Lebens gibt es keine Autonomie. Netzwerke sind komplexe, dynamische, sich verändernde und offene Systeme, deren wesentliche Eigenschaften aus den Wechselwirkungen ihrer vernetzten Teile oder Subnetze entstehen. Man kann zwar Netze auf verschiedenen Ebenen unterscheiden, doch ist Leben dadurch gekennzeichnet, daß es aus Netzen von Netzen besteht, die sich intern verändern können, weil sie operationell geschlossen sind. Leben ist nur aus der Vernetzung von Molekülen, Mikroorganismen, Zellen und vielzelligen Organismen entstanden, die in der Lage waren, sich selbst zu erhalten, sich zu replizieren und sich durch genetische Mutationen Veränderungen der Außenwelt anzupassen, sondern es hat auch den ganzen Planeten umgewandelt und zu einem Netzwerk gemacht, das durch die vielen Aktivitäten geschaffen, erhalten und verändert wird.
Das Netz des Lebens besteht aus Netzwerken innerhalb von Netzwerken. In jedem Maßstab erweisen sich bei genauerer Untersuchung die Knoten des Netzwerks ihrerseits als kleine Netzwerke.
Fritjof Capra
Ob man die Erde im Sinne der Gaia-Metapher als Organismus begreift, ist weniger entscheidend als die Erkenntnis der ungeheurlichen Komplexität und Vernetztheit der Organismen und Ökosysteme, deren "Zellen" wiederum aus selbstorganisierenden und daher autopoetischen Netzen bestehen, die sich und damit das gesamte Ökosystem evolutionär verändern.
Während der Neodarwinismus, der Evolution vor allem auf zufällige genetische Mutationen und Selektion durch die Umwelt zurückführt, die Konkurrenz in den Vordergrund stellt, legt die Metapher des Netzes für Capra es nahe, die Entwicklung des Lebens stärker auf Vielheit, Kooperation, Koordination, Symbiose und Ko-Evolution zurückzuführen. Dadurch ist man schnell bei einem harmonischen Ganzen, bei dem Erhaltung und Kreativität den Vorrang vor Konkurrenz und Zerstörung haben. Es ist genau diese Zuordnung von Werten, die das Denken in Netzen zu einer verklärenden Ideologie machen.
Obgleich Capra selbst auf die vielen Massensterben aufmerksam macht, die von "außen" oder selbstgemacht - beispielsweise durch die Produktion von Sauerstoff - die Evolution vorangetrieben haben, dominiert in seinem Denken, angelegt als Strategie der Bewahrung, die Erhaltung des Gleichgewichts. Doch widerspricht in der Natur Kooperation nicht dem "genetischen Egoismus", vernetzte Ökogemeinschaften nicht einem Wettrüsten und Kreativität nicht der gleichzeitigen Vernichtung von bestimmten Bestandteilen. Im Laufe der Evolution sind 99 % der Arten ausgestorben und keine der Ökogemeinschaften bleibt über längere Zeit stabil. Weder die Erhaltung einzelner Arten noch die von bestimmten Ökosystemen ist von der Natur her vorgesehen. Und auch wenn die Menschen Harakiri begehen und damit einen Großteil der jetzt existierenden Gattungen mit vernichten, ist das Netz des Lebens nicht an Ende gekommen. Hier scheint Capra zu sehr auf die einzelnen Organismen und deren Stabilität zu sehen, letztlich eben jenem Anthropozentrismus verfallen zu sein, den er ansonsten als cartesianische Erbschaft geißelt.
Kooperation und Partnerschaft
Der Gedanke des Netzes läßt uns die verwickelten Beziehungen verständlicher werden, vielleicht gibt er uns auch einige Instrumente in die Hand, um Netze gezielt beeinflussen oder technisch realisieren zu können, aber in ihm ist weder eine Zielrichtung noch ein Wertmaßstab vorhanden. Möglicherweise können wir, wenn wir all die verästelten Wechselwirkungen des Ökosystems begreifen, obgleich es ja selbst wiederum aus sehr unterschiedlichen Ökosystemen besteht und vermutlich eine unvorhersehbare Dynamik besitzt, unsere Lebensweise und unsere Ökonomie so einrichten, daß sie weniger zerstörerisch ist und das gegenwärtige Artensterben verlangsamt. Aber das wird die Menschheit und das Leben auf der Erde nicht vor Katastrophen und Veränderungen schützen.
Das Leben ist nicht so sehr ein Konkurrenzkampf ums Dasein als vielmehr ein Triumph der Kooperation und Kreativität.
Fritjof Capra
Das Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit kann nicht aus der Natur abgelesen werden, es ist eher ein Prinzip zur mittelfristigen Sicherung der menschlichen Gattung. Das würde ja auch bereits als Begründung genügen, um eine andere Art der Ökonomie, der Produktion und des Konsums zu begründen. Capra weist während des ganzen Buches darauf hin, wie kreativ die Natur ist, und kommt am Schluß doch seltsamerweise wieder darauf zurück, daß sie zyklisch sei, um eine nachhaltige Wirtschaftsform zu legitimieren. Alle Lebewesen, also auch der Mensch, sind nicht nur ein Teil des Lebensnetzes, sondern wirken auch auf es zurück. Lassen sich beispielsweise aus der Idee des Netzes Kriterien dafür entwickeln, wie die Menschen auf die Natur einwirken dürfen? Seitdem Menschen begonnen haben, sich als Gattung auszubreiten, haben sie die Natur massiv beeinflußt. Schon vor Descartes und dem Kapitalismus waren große Teile der Erde nicht mehr nur natürlich, sondern bereits vom Menschen gezeichnet. Welche Naturnetze wollen wir also erhalten? Darauf erhält man von Capra keine Antwort.
"Sich wieder ins Lebensnetz einzubinden", wie Capras pauschale Formel heißt, trägt nicht weit, denn nur schwerlich ist eine Lebensform denkbar, die nicht in es eingebunden ist. Möglicherweise entsteht in den Netzen und auf einer anderen Hardware ein künstliches Leben für unsere Mind Children (Hans Moravec), die nicht mehr auf die biologischen Grundlagen angewiesen sind, noch aber ist das bestenfalls ein Traum oder Alptraum, obgleich in den Forschungsrichtungen Künstliches Leben und Robotik heute viele Aspekte des Netzparadigmas, der Evolution und der Kooperation integriert wurden.
Lebensnetz und Politik
Mag die Idee des biologischen Netzes von Netzen eine nachhaltige Wirtschaft nahelegen, die man etwa durch Ökosteuern beeinflussen könnte, so ist sie doch nur schwer als politisches Programm umzusetzen. Die Idee des Netzes läßt viele unterschiedliche Formen der Kooperation und Wechselwirkung zu. Harmonisch gestimmt neigt Capra dazu, das politische Programm auf die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts und den Aufruf zur Brüderlichkeit oder "Partnerschaft" zu reduzieren. Netzwerke bestehen nicht nur aus kooperierenden Elementen, die friedlich, wie Capra suggeriert, einen zyklischen Austausch von Energie- und Ressourcen vornehmen, auch wenn nicht alles in Fressen und Gefressenwerden aufgeht, wie uns der Darwinismus in seiner populären Form weismachen wollte. Eines der herausragenden Kennzeichen von Leben sei, so Capra, Partnerschaft: "die Neigung, sich zu assoziieren, Verbindungen zu errichten, ineinander zu leben und zu kooperieren." Kooperieren aber können auch Gruppen, um andere zu unterdrücken oder gar auszulöschen, was die Geschichte der Menschen deutlich gezeigt hat - im Kampf untereinander und gegen die Natur.
In menschlichen Gemeinschaften bedeutet Partnerschaft Demokratie und persönliche Ermächtigung, denn jedes Mitglied der Gemeinschaft spielt eine wichtige Rolle.
Fritjof Capra
Capra setzt aus der bürgerlichen Revolutionstrinität Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit eindeutig auf Brüderlichkeit. Das ist schön. Daß das Paradies auf Erden aber nicht so einfach ist, sollte selbst Capra einleuchten. Das letzte große Experiment ist der real existierende Sozialismus gewesen. Und selbst wenn es eine Partnerschaft zwischen allen Menschen auf der Erde geben sollte, die - völlig unnatürlich - jedes Mitglied der großen Gemeinschaft achtet, dann könnte eben dies allein schon aus quantitativen Gründen zur Zerstörung des jetzt noch existierenden Lebensnetzes führen. Es geht nicht nur um den Konflikt zwischen Ökologie und Wirtschaft oder zwischen Ökologie und rationalistischer Wissenschaft, sondern auch um den zwischen Ökologie und Politik. Das ist ein blinder Fleck der Ökopropheten, eine Schwäche übrigens, die sie mit den Technikenthusiasten teilen, die heute, gemäß der "kalifornischen Ideologie", ebenfalls glauben, daß die Computernetze Demokratie und Freiheit fördern und der Kapitalismus - der freie, unregulierte Markt - die beste, weil natürlichste Wirtschaftsform sei. Das "neue Verständnis der lebendigen Welt" muß erst noch über sich selbst aufgeklärt werden.
Fritjof Capra Lebensnetz. Das neue Verständnis der lebendigen Welt, Scherz Verlag 1996. 384 Seiten. DM 44.-