In San Marino einmarschieren. Sofort
Trash und Tränen - Das war der Eurovision-Songcontest 2017
Die Verräter haben uns nämlich nicht nur nicht ihre prestigereichen 12 Punkte gegeben. Sondern überhaupt keine. Null Punkte aus San Marino für Italien. So sieht er also aus, der Feind im Inneren.
Es war ein emotionaler Abend für Italiens Eurovisions-Fans. Francesco Gabbani, Top-Favorit in allen Wettbüros, Sieger von San Remo, wird für sein "Occidentali's Karma" von den Experten-Jurys ebenso abgestraft wie vom Publikumsvoting. Der sechste Platz hinter Moldawien, Schweden und Belgien wird als Demütigung wahrgenommen. Man hat uns nicht verstanden. Dabei war Gabbani nicht müde geworden, in jedem Interview die gesellschaftskritische Komponente seines Beitrages zu betonen. Dass der tanzende Affe eine Anspielung auf das Standardwerk "The Naked Ape" von Desmond Morris sei.
Tatsächlich ist für jene, die des Italienischen mächtig sind, der satirisch-reflektierende Ansatz der Darbietung glasklar: Der geschniegelte Büromensch in seiner käfigartigen Arbeitskoje erlaubt sich täglich ein Stündchen fernöstlicher "Spiritualität" für die Seelenhygiene, macht auf Lifestyle-Yogi und Achtsamkeitsfetischist, ehe er in seine aseptische, digitalisierte Welt zurückkehrt. Kaum gerät aber etwas aus den Fugen, weicht der scheinbar durchgeistigte Astralkörper dem Affen, der noch immer tief in uns steckt.
Gabbanis Weigerung, seinen Text auf Englisch zu übersetzen, führte nun aber dazu, dass die einen eine augenzwinkernde Inszenierung mit Charme und Witz sahen - die anderen ein absurdes Herumgehüpfe samt Mensch im Gorillakostüm. Selbst BBC Eurovision twitterte noch am Abend des großen Finales: "Italy go home, yo're drunk. (Oh god, we hope you're drunk.)" Dabei hätten es die britischen Kollegen besser wissen müssen.
Aber das sind die Regeln des ESC: Im Zweifelsfall macht man sich lustig darüber. Immerhin hat man schon alles gesehen. Männer in Hamsterrädern. Freaks mit Aluhüten. Guildo Horn. Ein tanzender Gorilla ist da nur ein weiterer Klamauk-Beitrag, fröhlicher Trash, irgendwie peinlich, aber unverzichtbar bei der größten Musikshow des Planeten, die viele vorgeben nur mit ironisch gehobener Braue anzuschauen.
Wir kämen nie auf die Idee, unseren Nachbarländern was Gutes zu tun
Für Italien-Fans liegt der Fall freilich klar. Man hat uns wieder einmal nicht liebgehabt. Albanien und Malta, die letzten Getreuen, haben Gabbanis Genialität verstanden. Alle anderen sind böse, neidisch, geschmacksverirrt und korrupt. Man gönnt uns den Erfolg nicht. Man hat sich gegen uns verschworen. Wieso machen wir da überhaupt noch mit. Belassen wir es doch bei San Remo, da ist das Niveau sowieso tausendmal höher und wir sind unter uns.
Mit ihrer beleidigten Opferhaltung stehen die italienischen Fans nicht alleine da. Sie wiederholt sich nahezu wortgetreu bei den Schweizer Fans. Den deutschen Fans. Den britischen Fans. Den armenischen Fans. Den georgischen Fans. Kurz, bei all denen, die sich missverstanden und gedemütigt fühlen. Immer ziehen wir den Kürzeren. Keiner mag uns. Das lassen wir uns nicht mehr bieten. Sollen die Skandinavier den Scheiß doch alleine aufziehen, wenn sie sich sowieso nur gegenseitig die Punkte zuschanzen. Wir Österreicher/Schweizer/Deutschen/Italiener/usw. machen es richtig. Wir kämen nie auf die Idee, unseren Nachbarländern was Gutes zu tun.
Tatsächlich haben sich zum wiederholten Mal die sogenannten Experten-Jurys als unberechenbare Willkür-Gremien erwiesen, deren Bewertungskriterien offensichtlich zwischen "da hab ich mal Urlaub gemacht, war geil" und "keine Ahnung, wie die Performance war, da war ich grade auf dem Klo, aber ich hab gehört, das Lied soll gut sein" liegen. Das kann das Nicht-Experten-Publikum genauso gut. Die Abschaffung der Experten-Jurys bleibt daher ein vordringlicher Wunsch vieler ESC-Fans an die Verantwortlichen bei der EBU. Überlasst uns das Voting. Wenn wir schon Mist bauen, dann wenigstens demokratisch. Beim Brexit und bei Trump haben wir es doch auch alleine hingekriegt.
Nach jeder Ausgabe des ESC herrscht das Gefühl vor, es werde keine nächste Ausgabe mehr geben. Jedenfalls nicht mit uns. Das tun wir uns nicht mehr an. Die Wahrheit ist jedoch, dass sich kaum je ein Teilnehmer ernsthaft auf Dauer zurückziehen will (von der Türkei einmal abgesehen). Auch die Russen, denen in den vergangenen zwei Jahren tatsächlich übel mitgespielt wurde, werden 2018 hoffentlich wieder dabei sein. Auch wenn es Euan Ferguson vom britischen "Guardian" anders sieht.
Ukraines Selbstdarstellung überzeugte nicht
Russland wurde sehr wohl vermisst, auch wenn der Moskowiter Kristian Kostov als Hoffnungsträger für Bulgarien angetreten ist und tatsächlich den zweiten Platz und damit die historisch beste Platzierung für das Land erringen konnte.
Und man durfte sich die Frage stellen, warum es dem russischen Kandidaten 2016 so offensichtlich gesteuert verunmöglicht wurde, den Songcontest in sein Land zu bringen. Es ist davon auszugehen, dass es die russischen Veranstalter nicht schlechter gemacht hätten als ihre ukrainischen Kollegen, die sich mit viel Folklore, Klamauk und müden Witzchen durch die Abende hangelten. Die bemühte Darstellung der Ukraine als offenes, tolerantes Land, das Vielfalt und Andersartigkeit feiert, vermochte letztlich nicht ganz zu überzeugen. Vielleicht auch deswegen, weil das Einzige, was an den drei (weißen, männlichen, jung-dynamischen) Moderatoren nicht glatt und geschmeidig war, ihre englische Aussprache war.
Musik ist Gefühl!?
Aber es gibt auch gute Nachrichten. Der Sieg von Salvador Sobral für Portugal hat nicht nur ein Land ins Rampenlicht gerückt, das seit 54 Jahren auf diesen Moment warten musste. "Salvadorable" repräsentiert überdies all das, was sich viele Kritiker der Veranstaltung schon seit Jahren herbeisehnten. Seine zurückgenommene, hingebungsvolle Performance, die ganz ohne Klimbim und Effekte auskam, schlug Jury und Publikum gleichermaßen in ihren Bann und verwies die geschniegelten Hightech-Inszenierungen der Konkurrenz auf die Plätze. Nach seiner Botschaft ans Publikum befragt, antwortete Sobral, in einer Zeit von Fast-Food-Musik ohne Inhalt könne sein Sieg ein Sieg für die Musik sein, die tatsächlich Tiefgang habe: "Music is not fireworks. Music is feeling."
Man sollte aber nicht den Fehler machen und glauben, Sobrals Triumph markiere nun einen Paradigmenwechsel zu vergeistigten, seelenvollen Beiträgen in kommenden Ausgaben. Im Gegenteil, gerade weil Sobrals Ansatz ein einzigartiger war, konnte er überhaupt herausstechen und überzeugen. Das Erfolgsrezept beim Songcontest ist nicht "mehr vom Gleichen". Die Portugiesen werden sich für ihre nächstjährige Mammutaufgabe als Gastgeber des Events einiges einfallen lassen müssen, um eine bunte Show auf die Beine zu stellen, die mehr bietet als ein paar touristische Schnappschüsse ihres Landes.
Bei der italienischen Rai unterdessen dürfte eine gewisse Erleichterung vorherrschen, dass dieser Kelch einmal mehr vorübergegangen ist. Francesco Gabbanis Occidentali's Karma ist auch ohne Eurovisions-Sieg der erfolgreichste Eurovisions-Beitrag aller Zeiten. Bereits vor dem Finale hatte er auf Youtube über 110 Millionen Views. Überdies konnte das Lied den Marcel-Bezençon-Preis der beim Eurovision-Songcontest akkreditierten Journalisten für sich entscheiden. Und Gabbanis CD "Magellano" ist in Italien ein Bestseller. Kein schlechtes Trostpflaster.
Und auch für all die Künstler, deren Beiträge nicht die verdienten Platzierungen erreicht haben, gibt es einen Trost: Die Wahrscheinlichkeit, dass sie unter den über 200 Millionen Zuschauern des Songcontests neue Fans gewinnen konnten, ist gar nicht so klein. Schon manche Pop-Karriere hat von hinteren Rängen ihren Ausgang genommen - wie man am Beispiel der kleinen dänischen Band Mabel mit dem Sänger Michael Trempenau erkennen kann.
Auch die deutschsprachigen Länder sollten nicht verzagen. Um die Außenseiterrolle abzustreifen, genügt ein charismatischer, authentischer, stimmiger, außergewöhnlicher Beitrag. Dann fliegen einem alle Herzen zu. Es könnte so einfach sein. Francesco Gabbani kann ein Lied davon singen. Eurovision's Karma.