"In der DDR konnte Gemeindeexistenz 'biblischer' sein"
Die Theologen Constanze und Dieter Kraft im Gespräch über Religion, Christentum und Peter Hacks
Von Constanze und Dieter Kraft erschien in diesem Jahr das Buch "Einsichten und Widersprüche". Der Untertitel verdeutlicht den Inhalt: "Texte aus drei überwältigten Jahrzehnten". Immer wieder geht es in dem Sammelband auch um Marx und Co., obwohl Constanze und Dieter Kraft doch evangelische Theologen sind. Dieter Kraft lehrte Dogmatik an der Humboldt-Universität zu Berlin bis zum Ende der DDR 1990. Constanze Kraft war Pfarrerin in verschiedenen Kirchengemeinden in der nach 1990 erweiterten Bundesrepublik. Da kommen nicht nur spannungsreiche historische, sondern auch spannungsreiche ideologische Erkenntnisse zusammen.
Für Karl Marx war die Religion gewissermaßen die Urform des Ideologischen und die Religionskritik die Voraussetzung aller Kritik. Würden Sie Marx hier zustimmen?
Constanze Kraft: Als Theologen können wir auf die so gestellte Frage gar nicht angemessen antworten. Religionskritik ist natürlich nicht die Voraussetzung "aller" Kritik. Und ob die Religion die Urform des Ideologischen ist, das hängt ja davon ab, was man unter Religion und was man unter Ideologie verstehen will. Wir verstehen schon, dass Ideologie hier auf "falsches Bewusstsein" abzielt. Aber damit können wir nicht viel anfangen. Bewusstsein ist nie richtig oder falsch, es ist immer gesellschaftlich und also auf ein "Für oder Gegen" ausgelegt. Und so auch alles Ideologische.
Dieter Kraft: Mit der Religion ist das so eine Sache. Für Niklas Luhmann ist sie ein geradezu überlebensnotwendiges Element menschlicher Evolution. Mit der sogenannten Religion tritt der werdende Homo sapiens aus dem Naturzusammenhang heraus und bekämpft Blitze und Donner mit Göttern und Gebeten. Das ist ein wirklich unglaublicher Evolutionssprung, ohne den es uns heute womöglich gar nicht geben würde. Wie wehrt man sich denn gegen Blitze und Donner, wenn man ihnen völlig ausgeliefert ist? Durch werdendes Selbstbewusstsein! Eine grandiose Evolutionsleistung. Im übrigen stimmen wir Marx fast immer zu. Aber er hätte die Frage wahrscheinlich auch etwas anders gestellt.
"Parteilichkeit für den Menschen"
In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich auch mit der Bibel. Was macht die Lektüre der Bibel für Sie auch heutzutage noch interessant?
Constanze Kraft: Sie werden es kaum glauben, aber die Bibel ist für uns ein durch und durch religionskritisches Buch, gewachsen über Jahrhunderte. Da werden die Götter entthront, die einst gegen Blitze und Donner ins Feld geführt wurden. Sie werden zu "Vogelscheuchen", zu menschengemachten "Götzen". Die Bibel hat zudem und vor allem ein ganz anderes Thema, nämlich "Recht und Gerechtigkeit", "Für oder Gegen", "Reich oder Arm", "Zukunft oder Untergang". Nicht zufällig antwortete Brecht auf die Frage nach seinem Lieblingsbuch: "Sie werden lachen: die Bibel." Natürlich - hier haben wir Menschheitsgeschichte in nuce. Und wir finden eine Parteilichkeit für den Menschen, die einfach prägend ist.
Nicht für jeden ist und war die Bibel interessant. Im Mittelalter wurde die Lektüre der Bibel durch die Kirche reglementiert, und noch im 20. Jahrhundert haben lateinamerikanische Latifundistas Bibeln in der Kirche anketten oder gar wegschließen lassen, damit sie nicht in den Dorfgemeinschaften öffentlich vorgelesen werden konnten.
"Antifaschismus ist geradezu eine Bekenntnisfrage"
Sie haben beide in der DDR Theologie studiert und kirchliche Erfahrungen gemacht. Wie haben sich die christlichen Glaubensrichtungen in Ost und West unterschieden?
Constanze Kraft: Das lässt sich nicht geographisch ein- oder abgrenzen. Etwas dogmatisch formuliert: Es gibt und gab immer das, was als "wahre" und "falsche" Kirche bezeichnet werden könnte - und dann auch so bezeichnet werden muss. Denken Sie an die sogenannte Kirche der sogenannten "Deutschen Christen", die ihre Altäre mit Hakenkreuzfahnen schmückten - und im Gegensatz dazu an die Bekennende Kirche, die in Karl Barth einen Kirchenvater gefunden hatte, dem der Antifaschismus geradezu eine Bekenntnisfrage gewesen ist. Und Barth stand nicht nur gegen den Faschismus, sondern gegen eine Kirche und eine Kirchengeschichte, die sich weit früher von der biblischen Botschaft entfernt hatte. Das war eine Zeit, in der die Fronten unübersehbar waren.
Dieter Kraft: Nach 1945 sieht alles etwas anders aus. Wir wollen sagen: nicht so eindeutig, sondern eher zweideutig, oft auch mehrdeutig. Das lässt sich nicht auf Ost und West verteilen. Dennoch: In der DDR konnte Gemeindeexistenz "echter" und "biblischer" sein, da die Kirche zwar immer noch privilegiert war, doch längst nicht über die Privilegien verfügte wie die Kirchen in der BRD. Wenn wir zu einem pauschalen Urteil genötigt wären, würden wir sehr moderat sagen: Die evangelischen Kirchen in der BRD hatten mit dem Kapitalismus weit weniger ideologische Schwierigkeiten als die evangelischen mit dem Sozialismus in der DDR. 1990 läuteten dann auch die Glocken hüben wie drüben.
"Das imperiale Rom ist untergegangen"
In Ihrem Buch beschäftigen Sie sich unter anderem mit dem Verhältnis zwischen Stoa, Gnosis und Christentum: Welche ideologischen Funktionen kommen diesen Denksystemen zu?
Dieter Kraft: Ich wollte keinen akademischen Text über Stoa und Gnosis verfassen, sondern einen über Opportunismus und Widerstand. Aber eben so, dass deutlich werden konnte: Was wir damals in der eingeheimsten DDR erleben mussten, das gab es in der Geschichte schon immer. Die einen passen sich allmählich an, andere zeigen Widerständigkeit. Meistens sind das Minderheiten. Eigentlich ein ganz langweiliges Thema. Für mich so langweilig, dass ich es etwas griechisch verschmücken wollte. Die Pointe habe ich allerdings weggelassen. Und die ist heute noch erfreulich sichtbar: das imperiale Rom ist untergegangen. Heute haben wir neuen Imperialismus. Mal sehen, wie die Gnosis sich organisiert. Das Verhalten der Stoa ist bekannt.
Meine Hoffnung ist gering. Die ersten Christen waren übrigens eher gnostisch und also antirömisch gestimmt. In der späteren "Großkirche" galten Gnostiker dann als Ketzer.
"Die Strenge des Begriffs wird in der Schönheit der Sprache gespiegelt"
Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch auch eingehend mit dem Dichter Peter Hacks, der nicht nur die Bibel mit Hegel interpretiert hat, sondern überhaupt ein großer Anhänger des Philosophen war. Warum war Hegel für Hacks so wichtig?
Dieter Kraft: Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass Hacks die Bibel mit Hegel interpretiert habe. Aber ganz gewiss ist Hacks ein begeisterter Hegelianer, denn er ist ein genuiner Dialektiker. Er nennt Hegel gelegentlich gar einen "Gott der Dramatik - nicht nur der Dramatik". Natürlich ist es Hegels Ästhetik, die ihn in diesem Zusammenhang fasziniert. Aber es ist bei Hegel zugleich immer auch die Strenge des Begriffs. Die teilt Hacks bedingungslos und auf seine Weise, so dass die Strenge des Begriffs in der Schönheit der Sprache gespiegelt wird.
"Gesellschaftliche Konfliktlinien und geschichtliche Gesetzmäßigkeiten"
Constanze Kraft: Der Zusammenhang "Bibel, Hegel, Hacks" gehört zu den Schlüsseln, mit denen man sich meines Erachtens dem Gesamtwerk von Peter Hacks nähern sollte. Die erste Sitzung der "Berlinischen Dramaturgie", die er im Jahr 1972 ins Leben rief, fand unter dem Titel "Zur Kritik der Hegelschen Dramentheorie" statt. Hacks eröffnet sie mit der Feststellung, wie gut es sei, dass man wieder einmal Hegel gelesen habe, und man solle doch mindestens einmal im Jahr Hegel lesen. Zudem hält er die Reihenfolge, die Hegel für die Theorie und Methodik des Dramas herausgearbeitet hatte - erst das Genre, dann die Gesellschaft - für absolut zutreffend.
Damit sind wir bei Hacks‘ Technik des Dramas und seiner Wahl auch biblischer Stoffe dafür. Mehrere biblische Figuren gehören zur Grundlage für seine Dramen. Das hat mit seiner Erkenntnis zu tun, dass der mythologische Stoff dem Genre" Drama" in besonderer Weise förderlich ist. Man hat gesagt, Hacks‘ Rückgriff auf die Antike, der in seinem Schaffen seit den sechziger Jahren erfolgte, sei eine Art Flucht aus der literarischen Realität der DDR gewesen.
Das hält der Analyse nicht stand. Der mythologische Stoff, im Drama verarbeitet, kann gesellschaftliche Konfliktlinien und geschichtliche Gesetzmäßigkeiten als schon immer menschheitlich vorhanden groß und klar zum Ausdruck bringen. Das wusste Hacks, und gerade darauf verstand er sich auf hervorragende Weise. Die biblische Jona-Gestalt zum Beispiel gestaltete er zu einem Drama, in dem es um nichts weniger als um die Menschheit geht, die sich an Kapitalismus oder Sozialismus scheidet.
Nicht zufällig ist es das Genre "Drama" - als Tragödie und Komödie - der klassischen antiken Dichter, das zu einem unvergänglichen Erbe der Menschheit geworden ist. Hacks knüpfte bewusst daran an. Mit seiner Bearbeitung der Komödie "Der Frieden" von Aristophanes setzte er als Dichter, der der Auffassung war, dass zu einem sozialistischen Drama ein tragischer Schluss nicht passe, dem scharfsinnigen dialektischen Humor des Aristophanes nicht etwa nur ein unsterbliches Denkmal, sondern eine Wegmarke für dauerhafte gesellschaftliche Geltung. Hegel hätte sie bejaht.
Gibt es abgesehen von der vorgeblichen hegelschen Selbstbewegung der Geschichte ein Erbe dieser Philosophie, das sich für die Gegenwart produktiv anwenden ließe?
Dieter Kraft: Hegel kennt keine "Selbstbewegung der Geschichte". Er kennt nur die Bewegung des Prozesses, weil wirklich alles "nur" Prozess ist. Neben Cusanus ist Hegel der wichtigste deutsche Philosoph. Und nur Dialektiker sind wirklich Philosophen. Und alles ist "nur" dialektisch. Wäre ich Quantenmechaniker oder Kosmologe, dann würde ich das naturwissenschaftlich unterlegen können. Aber eigentlich ist das alles ganz einsichtig: Ohne "links" gibt es kein "rechts", und das ganze Universum lebt in und von Wechselwirkung, auch unsere Gesellschaft.
Friedrich Engels bewundern wir nicht weniger als Karl Marx. Aber Engels "Grundfrage der Philosophie" kann ich nur im Kontext des damaligen Idealismus-Diskurses verstehen. Wer hat das Primat: das Sein oder das Bewusstsein? Natürlich das Sein. Die wirkliche Grundfrage der Philosophie lernt man bei Hegel kennen. Es ist die Frage nach dem Verhältnis von Prozess und System. Und diese Frage stellt sich auch heute noch und in jeder Beziehung - in der Naturwissenschaft ebenso wie in der Gesellschaftswissenschaft.