In der Mitte der Gesellschaft

Armer Hansi

Was macht der rosarote Panther im Forsthaus Falkenau?

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Seit bekannt wurde, dass das "Zwickauer Terrortrio" für eine Mordserie mit neonazistischem Hintergrund verantwortlich war, ist die Aufregung wieder einmal groß. Hieß es vorher, dass von den Rechtsextremen keine akute Gefahr ausgehe, ist jetzt davon die Rede, dass der Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sei. Aber was bedeutet das eigentlich: "in der Mitte der Gesellschaft"? Versuch einer Annäherung.

Rechtsextreme Überzeugungen, wurde anfangs gewarnt, breiteten sich immer weiter aus. Das müsse jetzt schonungslos aufgearbeitet werden, und lückenlos, und vielleicht sogar brutalstmöglich wie damals bei den "jüdischen Vermächtnissen" der CDU. Nach diesen guten Vorsätzen war man sehr schnell beim Versagen von Polizei und Verfassungsschutz, bei neu anzulegenden Dateien und beim Verbot der NPD angelangt. Darüber diskutiert es sich viel leichter, man hat das Thema wieder in eine Ecke abgedrängt, redet über andere und nicht über sich selbst. Das ist bequem und gut vermittelbar, weil es um Geld geht. Soll die Demokratie Neonazis, die sie abschaffen wollen, per Parteienfinanzierung und Wahlkampfkostenerstattung alimentieren? Wenn man das nicht will, hält die Demokratie außer einem Verbotsverfahren mit dubiosem Ausgang noch ein anderes Mittel bereit. Man kann sich darum bemühen, dass die NPD nicht mehr gewählt wird.

Das müsste logischerweise damit beginnen, dass man versucht, sich darüber klar zu werden, wo man ansetzen sollte, um das zu erreichen. Wie macht man das? Wer mehr darüber erfahren will, warum Gruppierungen, die Parolen von vorgestern schreien, heute noch Unterstützer finden, wird nicht umhin kommen, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und damit, wie sie in die Gegenwart hereinreicht. Als die Bekenner-DVD mit Paulchen Panther auftauchte, habe ich im Fernsehen ein Gespräch mit einem Trickfilm-Experten gesehen, der erklären sollte, ob und wenn ja wie der "Nationalsozialistische Untergrund" vom Animationsfilm der NS-Zeit beeinflusst sei. Das Gespräch blieb leider ergebnislos und musste es wohl auch bleiben, weil die Frage falsch gestellt war. Zumindest nehme ich das an.

Um es gleich zu sagen: Ich werde nie verstehen, warum Leute andere Menschen umbringen, weil sie anders aussehen, einen anderen kulturellen Hintergrund haben oder sonst wie nicht in das dumpfe Weltbild der Mörder passen. Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe interessieren mich hier nur am Rande. Ich kann mir auch schwer vorstellen, dass Neonazis ihre Zeit damit verbringen, sich alte Propagandaschinken aus dem Dritten Reich anzuschauen. Das ist eine Fiktion, der man leicht aufsitzt, weil ein Teil dieser Propagandafilme weiter verboten bleibt und dadurch der Eindruck entsteht, dass sie auch heute noch gefährlich sind. Warum sie das sind, kann kaum einer sagen, weil sie weithin unbekannt sind. Und was man nicht kennt, lässt sich schwer bekämpfen. Ich glaube, das hat zu dem Schlamassel beigetragen, in dem wir jetzt stecken.

Der Führer feiert Weihnachten mit der Micky Maus

Fangen wir also mit den NS-Cartoons an. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die mir halbwegs repräsentativ zu sein scheinen und die sich dadurch auszeichnen, dass sie ausnahmsweise frei zugänglich sind und der Normalbürger somit nicht auf dunkle Kanäle angewiesen ist und keine Nazi-Websites besuchen oder gar mit Neonazis Geschäfte machen muss, wenn er ein legitimes Informationsbedürfnis befriedigen will. Neonazis haben dank ihrer Netzwerke nämlich kein Problem, an verbotene Propagandafilme heranzukommen, was nicht automatisch bedeutet, dass sie erst durch sie zu Neonazis wurden oder aus ihnen ihre braune Inspiration beziehen. Auch Nostalgie spielt da eine Rolle. Aus den mir bekannten Stücken der Bekenner-DVD würde ich schließen, dass Neonazis eher den rosaroten Panther sehen als den armen Hansi. Wer hätte das gedacht? Umgekehrt wird übrigens auch ein Schuh daraus: Wer NS-Propagandafilme sehen will, ist darum noch kein Neonazi. In Deutschland vergisst man das bisweilen. Den Neonazis spielt man damit in die Hände, weil es die Diskussion abwürgt, die nötig wäre, um ihnen wirksam zu begegnen - nicht mit Verboten, sondern mit Bildung, Information, der Kraft der Argumente. Der Fachausdruck dafür ist: Demokratie.

Eingangs ein berühmtes Zitat aus Goebbels’ Tagebuch, vom 20.12.1937:

Ich schenke dem Führer 12 Micky-Maus-Filme zu Weihnachten! Er freut sich sehr darüber. Ist ganz glücklich über diesen Schatz.

Hitler liebte die Micky Maus. Und erst Schneewittchen und die sieben Zwerge! Das wollten die Nazis auch. Allerdings fehlte es am geeigneten Personal, am technischen Know-how und an der Infrastruktur. Animationsfilme wurden in Deutschland häufig von kleinen Firmen und Einzelkämpfern hergestellt. Wer mit Hollywood konkurrieren wollte, brauchte eine Trickfilmindustrie. So etwas wie das Studio von Walt Disney gab es in Deutschland nicht. Die Versuche der großen Produktionsfirmen, den Vorsprung der Amerikaner zu verringern, waren wenig ruhmreich.

Da man auf lange Sicht den internationalen Markt erobern wollte, sollte gleich mal ein Markenzeichen etabliert werden wie es Disney hatte. Die deutsche Micky Maus sollte Tilo Voß heißen. Doch etwas Vorzeigbares brachte nur die Werbeabteilung der Ufa zustande, die im Sommer 1935 eine Kampagne für den Helden der geplanten Trickfilmreihe startete,

einen filmischen Nachkommen überlieferter Schalksfiguren aus der deutschen Volksdichtung. Tilo Voß hat im Walde sein Zuhause, dennoch aber ist ihm als Kind des 20. Jahrhunderts jede technische Errungenschaft untertan. Zwischen Waldesrauschen und Flugmotorengedröhn liegt der weite Spielraum für seine Streiche.

(Pressetext)

Im Herbst wurde das Projekt aus verschiedensten Gründen abgeblasen (technische Probleme, konzeptionelle Differenzen, hohe Kosten). Im Oktober 1940 teilte die Tobis mit, dass man im Auftrag des Propagandaministeriums einen abendfüllenden Zeichentrickfilm in Agfacolor mit dem Titel "Rübezahl" herstellen werde. Im Frühjahr 1941 beschloss der Aufsichtsrat der Tobis, lieber die bisher ausgegebenen 120.000 Reichsmark abzuschreiben als den Film weiter voranzutreiben. Gerüchteweise soll der Projektleiter schuld gewesen sein, der kein Organisationstalent besaß. Die Herstellung von Trickfilmen ist sehr personalintensiv und besteht aus unzähligen kleinen Arbeitsschritten, die man sinnvoll verbinden muss. Wenn man keinen hat, der koordinieren kann, wird das im Chaos enden. Angesichts des vorhandenen Know-hows war es aber auch, gelinde gesagt, sehr ehrgeizig, einen langen Trickfilm produzieren zu wollen, der Disney-Qualität erreichte. Einer ist immer der Sündenbock.

Der arme Hansi schenkt dem Führer ein paar Kinder als Kanonenfutter

Die im August 1941 gegründete Deutsche Zeichenfilm GmbH, eine Zusammenlegung der Trickfilmabteilungen von Ufa und Tobis, sollte es besser machen. Fünf Arbeitsgruppen gingen ans Werk, und zwei Jahre später konnten sie das Resultat ihrer Bemühungen präsentieren: den im November 1943 bei der Reichswoche für den deutschen Kulturfilm in München vorgestellten, 17-minütigen Trickfilm Armer Hansi. Der Zeichner e. o. plauen (Schöpfer der Vater-und-Sohn-Cartoons) hatte ebenso daran mitgewirkt wie Oskar Sala, der Pionier der elektronischen Musik (Hitchcocks The Birds). Der Film wurde mit dem Prädikat "Künstlerisch wertvoll" ausgezeichnet. Dieses Prädikat ging häufig an Filme, die dem Publikum besonders ans Herz gelegt werden sollten, ohne allzu deutlich darauf hinzuweisen, dass es sich um Propaganda handelte.

Der arme Hansi ist ein Kanarienvogel, der in einem Käfig wohnt. Von da muss er mit ansehen, wie eine Taube mit einem Täuberich turtelt. Das ist erlaubt, weil die Nazis nichts dagegen hatten, dass aus zwei Tauben (kein Schwuler mit dabei) ein Paar wurde. Für Hansi ist es schlecht, weil ihm bewusst wird, dass er selbst keine Partnerin hat. Draußen vor dem Käfig stolziert eine sexy Vogelfrau vorbei. Hansi, ganz außer sich, knallt gegen die Gitterstäbe wie ein Irrer gegen die Gummiwand. Ich nehme an, diese Assoziation ist so gewollt. Denn die Vogeline gehört zu einer anderen Art. Das wäre Rassenschande.

Armer Hansi

Plötzlich steht die Tür zum Käfig auf. Hansi fliegt hinaus und erforscht ein Element, das er als Käfigvogel noch nicht kennt: die Luft. Er fliegt, als schwimme er durch Wasser und gleitet dahin wie ein Schlittschuhläufer über das Eis. Das ist gut gemacht und könnte der Auftakt zu einer Geschichte sein, in der die Phantasie Grenzen, Zäune und alle Gegensätze überwindet. Doch leider hat die Propagandamaschinerie einen Papierdrachen zum Himmel aufsteigen lassen. Er hat ein asiatisches Gesicht und würde Hansi am liebsten fressen. Außerdem wird dem armen Hansi von der Tollerei speiübel. Wenn man es sich genau überlegt, ist auch das Schwimmen und Eislaufen in der Luft kein Beweis für die Phantasie der Filmemacher, sondern Ausdruck des Spießbürgertums. Der Raum über den Wolken, wo die Freiheit bekanntlich grenzenlos sein muss, wird domestiziert, indem Hansi Fortbewegungsarten wählt, die uns gedanklich auf die Erde zurückführen. Und, nicht zu vergessen: der Vogel wird vermenschlicht, wenn er als Brust- und Rückenschwimmer oder Schlittschuhläufer unterwegs ist.

Armer Hansi

Hansis anfängliche Begeisterung über die neue Freiheit schlägt nun in Desillusionierung um. Denn die Welt außerhalb des Nazikäfigs ist ein feindseliger Ort. Auf dem Zaun vor einem Müllabladeplatz trifft Hansi die schöne Vogeline wieder. Ihr folgt er in ihr Haus. Da gibt es Zoff, und ein großer starker Vogel wirft ihn hinaus.

Armer Hansi

Überall in dieser bösen Welt stößt man auf fremde Arten. Sie fressen einem die Sonnenblumenkerne weg und vertreiben einen, wenn man Schutz vor Sturm und Regen sucht. Dann ist sogar eine schwarze Katze hinter dem armen Hansi her. Vor ihr rettet er sich auf das Fensterbrett des Zimmers, in dem sein Käfig steht.

Armer Hansi

Im Käfig wohnt jetzt Hansis wahre Traumfrau. Sie ist nicht so mondän und Femme-fatale-mäßig wie diese aufgetakelte Schlampe, der er gefolgt ist, mehr wie ein Vogelmädel. Und sie ist von Hansis Art. Der will unbedingt zurück in den Käfig. Einen Moment ist zu befürchten, dass ihm das nicht gelingen wird. Dann ist er drin bei seiner Liebsten. Und siehe da: Der Käfig ist gar keiner. Das schaut nur so aus. Er ist die sichere und gemütliche Behausung, die einen vor den Feinden und den Fremden schützt. Darum sperrt der Hansi - nun nicht mehr arm, sondern durch Erfahrung klug geworden - ganz schnell die Tür von innen zu. Denn daheim ist es am schönsten. Damit blenden wir uns aus der Geschichte aus. Wie sie wohl weitergehen mag? Ich würde sagen: Der Hansi und sein Mädel schenken dem Führer viele reinrassige Kinder.

Armer Hansi

In Armer Hansi paart sich das Spießertum mit dem Rassenwahn der Nazis. Daraus kann man eine Menge lernen. Das Wichtigste: Das eine lässt sich als Transportmittel für den anderen verwenden. Das wusste Goebbels, und die Neonazis, die in unseren Tagen Grillfeste für die Nachbarschaft veranstalten, mit NPD-Sonnenschirm, wissen es vermutlich auch. Als Hauptfilm im Kino war Armer Hansi zu kurz. Der Propagandaminister brauchte also noch einen Spielfilm, zu dem er passte. Der war bald gefunden. Armer Hansi lief im Vorprogramm der Feuerzangenbowle. Das ist diese Komödie, die nicht nur harmlose Unterhaltung war wie fast alles andere, das damals entstand, sondern sogar subversiv. Heinz Rühmann hat das später so erzählt. Der Film mit dem netten, verständnisvollen Lehrer, der sich Kinder wünscht, die gerade gewachsen sind wie ein Baum, damit sie besser in die Reihe passen. Am Schluss sagt Rühmann des deutschen Spießers schönsten Spruch auf:

Wahr sind die Träume, die wir spinnen
und die Sehnsüchte, die uns treiben.
Damit wollen wir uns bescheiden.

Das würde der Hansi auch so sagen. Aber Hansi ist ein Vogel und kann kein Deutsch. Allerdings einer mit menschlichen Eigenschaften. Daran ist prinzipiell nichts Verwerfliches. In Trickfilmen von Walt Disney gibt es Mäuse und Enten mit menschlichen Zuschreibungen, bei Tex Avery den Wolf, und die Schöpfer des rosaroten Panthers waren keineswegs Faschisten. Die Nazis hatten einen ganz praktischen Grund, Filme mit Tierfiguren zu drehen. Seit dem gescheiterten Tilo-Voß-Projekt war ausreichend Zeit gewesen, über geeignete Strategien zur Eroberung des Weltmarkts nachzudenken. Mit Tieren umging man das Sprachproblem und musste nicht synchronisieren.

Andererseits wäre es naiv zu glauben, dass das schon alles war. Wie üblich kommt es auf den Kontext an und auf die Botschaft, die vermittelt werden soll. Die Nazis übertrugen Naturgesetze auf die menschliche Gesellschaft und rechtfertigten so ihre Verbrechen. Für ein Regime, das den Darwinismus auf den Bereich des Sozialen anwandte, das in mehr oder weniger wertvolles Leben einteilte und Menschen wie Vieh behandelte, wenn sie nicht seinen Kriterien entsprachen, waren Trickfilme mit vermenschlichten Tieren das ideale Medium. Man konnte das nämlich sehr leicht umdrehen. Irgendwann landet man dann bei der DVD von Mundlos und seiner Bagage, in der Paulchen Panther die Photos von ermordeten Menschen präsentiert wie der Jäger seine Tiertrophäen. Manchmal ist das Bestehen auf klaren Unterscheidungen auch nicht schlecht.

Ging der Jude durch den Wald

Handwerklich weniger gelungen als Armer Hansi, im Vergleich jedoch sehr aufschlussreich, ist ein Trickfilm von 1940. Er zeugt auch von der Schizophrenie vieler Leute, die sich für die NS-Propaganda hergaben. Ein wichtiger Teil dieser Propaganda waren die Kultur- und Naturfilme. In Berichten über Flora und Fauna, die Heimat und fremde Völker ließ sich die Ideologie unter dem Deckmantel des Dokumentarischen und vermeintlich "Wahren" verstecken. Die Firma Naturfilm Hubert Schonger produzierte außerdem noch Märchenfilme und ab 1938 auch Trickfilme. Wer im Fernsehen mal einen von den Märchenfilmen aus den 1950ern gesehen hat: der war ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit von Hubert Schonger. Nennenswerte Probleme, seine Produzententätigkeit nach dem Krieg fortzusetzen, hatte er nicht. Märchen sind nämlich Volksgut und darum unpolitisch. Und so nett.

An ihnen kann man gut nachvollziehen, wie eine bestimmte Weltsicht von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kinder sehen im Dritten Reich Märchenfilme. Später haben sie selber Kinder. Die sehen auch wieder Märchenfilme, vom selben Produzenten. Die Eltern haben nichts dagegen, weil sie diese neuen Märchenfilme an die alten erinnern, die sie in ihrer eigenen Kindheit gesehen haben. Sie sind ihnen vertraut, und das Vertraute kommt einem unbedenklich vor - nicht weil es unbedenklich ist, sondern weil es vertraut ist. Das ließe sich ändern, indem man in eine Medienerziehung investiert, die den Namen auch verdient, und in Bildung ganz allgemein. So etwas ist mühsam, braucht Zeit und kostet Geld. Da verbieten wir doch lieber die NPD. Oder wenigstens diskutieren wir darüber, ob wir ein Verbotsverfahren einleiten sollen. Dann kann hinterher keiner sagen, dass wir es nicht probiert hätten.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Hubert Schonger wollte für die Kinder nur das Allerbeste. 1938 bat ihn der Film-Kurier (7.12.) zu einer Unterredung. Resultat: "Nur Familienväter sollten Märchenfilme drehen. Disneys ‚Schneewittchen’ ist ein Erwachsenen-Erfolg. Wir brauchen Märchenfilme für Kinder." Schonger forderte deutsche Verfilmungen von Märchen der Gebrüder Grimm oder von Wilhelm Hauff, aber bitte "zeitnah" und

ohne daß man die Dichtung vergewaltigt und etwa, wie es mir zum Schneewittchen-Film vorgeschlagen wurde, der bösen Stiefmutter jüdische Züge verleiht. Denn man darf nicht vergessen, daß unser Publikum noch nicht oder gerade eben erst schulpflichtig ist, infolgedessen manche Erwachsenenbegriffe überhaupt nicht verstehen würde.

1940 führte Schonger vor, wie er selbst zu verstehen war. Der im Trickfilmstudio von Heinz Tischmeyer hergestellte Schonger-Film Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt ist die Bebilderung des Gedichts von Friedrich Rückert, im Off - etwas verändert - von einer Frauenstimme im Tonfall einer Kindergartentante aufgesagt. Das Bäumlein steht im Wald und grämt sich, weil es spitze Nadeln an den Ästen hat, keine Blätter wie die anderen. Es wünscht sich goldene Blätter, dann schläft es ein. Am nächsten Morgen ist der Wunsch in Erfüllung gegangen.

Aber wie es Abend ward,
Ging der Jude durch den Wald
Mit Sack und großem Bart,
Der sieht die goldnen Blätter bald;
Er steckt sie ein, geht eilends fort
Und läßt das leere Bäumlein dort.

Schneewittchens böser Stiefmutter im Nachhinein "jüdische Züge" zu verleihen, lehnte Schonger ab, weil es "die Dichtung vergewaltigt". Gegen den Juden im Wald hatte er nichts, denn das war Werktreue. Ihn gibt es schon im Gedicht von 1813 (nach 1945 wurde er durch einen Bauern ersetzt). Im Film sieht er aus wie eine Karikatur aus dem Stürmer. Das ist dann wohl das "Zeitnahe", das Schonger gefordert hatte. In Büchern und Aufsätzen zum NS-Kino, die den Trickfilm erwähnen, wird immer auf diesem Juden herumgeritten. Geschenkt. Das ist das Offensichtliche. Ein großer Erkenntnisgewinn ist damit nicht verbunden.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Die NS-Propaganda, und Propaganda überhaupt, setzt auf den Gewöhnungseffekt, auf Assoziation und Kontextualisierung. Ich würde mich nicht zu sehr auf den karikierten Juden konzentrieren (und auch nicht auf die anderen Merkmale, die bei uns dazu führen, dass ein Film aus der Nazizeit als propagandistisch gilt: SS-Uniformen, Hitlerbilder, Hakenkreuze). Der Jude sagt primär etwas über die Zeit aus, in der dieser Trickfilm entstand. In einer totalitären Gesellschaft war die antisemitische Judenkarikatur normal, weil überall zu sehen. Heute ist die Wirkung eine völlig andere. Vermutlich würden sogar die Neonazis die Judenfigur in Schongers Film ablehnen (und sie gedanklich durch einen bärtigen Muslim oder einen türkischen Dönerverkäufer ersetzen).

Nicht berührt

Mich beunruhigen Passagen wie die, die ich in einer Bestandsaufnahme der Medienboard Berlin-Brandenburg GmbHzur "Animation in der Region" gefunden habe, veröffentlicht 2005 (Animated Films in Berlin-Brandenburg). Inhaltlich ist sie mehr oder weniger deckungsgleich mit vergleichbaren Stellen in anderen Publikationen, aus denen ich hier zitieren könnte. Sie zeigt, was dabei herauskommt, wenn man sich zu sehr auf die offensichtlichen Merkmale der NS-Propaganda einschießt. In der Bestandsaufnahme der Filmförderungsanstalt ("die erste Anlaufstelle für alle Kreativen der Film- und Medienwirtschaft in Berlin-Brandenburg") heißt es:

Während die Zeichenfilm GmbH bewusst nicht mit politischer Propaganda in Berührung kam, lässt sich das nicht für den Betrieb von Svend (Heinrich August) Noldan (1883-1978) sagen. Hier entstanden die Kartenanimationen ebenso wie die Trickteile für die Kriegsfilme "Feldzug in Polen" und "Sieg im Westen" sowie für den antisemitischen Hetzfilm "Der ewige Jude". 1940 produzierte die Naturfilm Hubert Schonger darüber hinaus einen farbigen Zeichenfilm, "Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt", in dem Animator Heinz Tischmeyer (*1913) die infame Stürmer-Karikatur eines Juden auftreten ließ.

Aha. Kriegsfilme und antisemitische Hetzfilme: Propaganda. Trickfilme mit Vögeln ohne Uniform: keine Propaganda. Die Zeichenfilm GmbH, die nicht mit ihr in Berührung kam, stellte Armer Hansi her. Drei Absätze weiter oben haben die Autoren der Bestandsaufnahme Armer Hansi noch als "Durchhaltefilm" bezeichnet. Haben sie das gleich wieder vergessen, oder zählt das nicht zur Propaganda? Und was wäre davon zu halten, wenn man "die infame Stürmer-Karikatur eines Juden" durch einen ganz normalen Juden ersetzen würde (wie immer der aussehen würde)? Wäre der Bäumlein-Film dann sympathischer? Wären die Herren Tischmeyer und Schonger dann auch nicht mit Propaganda in Berührung gekommen?

Das Dumme an solchen Passagen ist, dass sie sich schnell verbreiten. Ich habe mehrere Veröffentlichungen entdeckt, deren Autoren die Behauptung über die Zeichenfilm GmbH übernehmen. Seit 2011 gibt es Armer Hansi auf DVD (siehe unten). Jetzt kann sich jeder selbst ein Bild machen. Wer sich zu sehr auf Judenkarikaturen, Hakenkreuze und dergleichen konzentriert, kratzt nur an der Oberfläche. Ich würde das die museale Betrachtungsweise nennen, weil man etwas in den Mittelpunkt stellt, das die Nazis inzwischen selbst entfernen würden. Würde Goebbels heute leben, in einer Gesellschaft, in der solche Karikaturen eben nicht alltäglich sind, würde er das mit dem Juden ganz schnell ändern. Propaganda funktioniert nicht, wenn sie zu offensichtlich ist.

Die Geschichte vom Bäumlein im Wald geht noch weiter. Nach dem Raubzug des Juden ganz kahl, wünscht es sich Blätter aus Glas. Die zerbricht ein Wirbelwind. Der nächste Wunsch sind grüne Blätter. Die werden von einer Geiß aufgefressen. Am Ende wünscht sich das Bäumlein seine Nadeln zurück. Die kriegt es, und dann ist es froh. Jetzt kann es wieder stechen. Das Bäumlein ist glücklich und zufrieden. Es macht ihm auch nichts mehr aus, von den Laubbäumen und den Tieren im Wald ausgelacht zu werden. Das könnte man als eine Stärkung des Außenseitertums deuten, als ein Plädoyer für das Anderssein. Das Gegenteil ist der Fall.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Das Bäumlein ist von Gefahren umgeben wie der arme Hansi. Oder wie Nazi-Deutschland, das auch spitze Nadeln brauchte, und einen Käfig mit starken Gitterstäben, weil die anderen immer seine Blätter rauben wollten. Nazi-Deutschland musste sogar in andere Länder einmarschieren, um das zu verhindern. Nazi-Deutschland hatte auch gelernt, sich nicht darum zu kümmern, was die Nachbarn im Wald sagten (nur lachen taten die eher nicht). Und besonders schlimm war der Jude. Selbstverständlich ist das eine Stürmer-Karikatur, die man da sieht. Aber das Perfide ist die Konstruktion. Im NS-Kino gibt es sie oft. An ihr kann man sehen, wie geschickt das ist, weil die Propaganda auf doppelte Weise funktioniert.

Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt

Der Jude wird gleichzeitig "integriert" und ausgegrenzt. Die Geiß frisst das Laub, weil sie Milch für kleine Geißlein braucht, und dafür muss sie fressen. Der Wind ist eine Naturgewalt, die man nicht nach moralischen Kriterien beurteilen kann. Der Jude raubt aus Gier. Das macht sein Verhalten besonders verurteilenswert. Außerdem wird er durch Assoziation enthumanisiert. Er ist der einzige Mensch (der er aus Nazi-Sicht nicht war; in Der ewige Jude wird er mit Ratten verglichen) im Bäumlein-Film, umgeben von Tieren, Pflanzen und Naturgewalten. So wird er in der nicht-menschlichen Welt verortet. In so einer Konstruktion hat keiner eine Chance. Und man kann einsetzen, was gerade das Feindbild ist.

Am Ende wird dann wieder das Loblied auf das Spießertum gesungen. Das ist kein Aufruf zu Demut und Bescheidenheit. Die Botschaft: Sei brav und zufrieden mit dem, was du hast (und wir dir zugestehen), verlange keine Veränderung, sonst wird es dir schlecht ergehen. Fehlt nur noch einer von diesen Sprüchen, die man sich als Plastikschild oder in Holz geschnitzt an die Wand der guten Stube hängen kann: Schuster bleib bei deinem Leisten. Daheim ist es doch am schönsten. Damit wollen wir uns bescheiden, wie Heinz Rühmann sagt. Mein Vorschlag: Wie wäre es mit einer kommentierten DVD-Edition der Feuerzangenbowle, mit Armer Hansi und dem Bäumlein als Bonusmaterial. Man könnte noch den "Kulturfilm" Ewiger Wald (1936) mit dazunehmen, in dem aus geraden Bäumen Soldaten werden, weil es immer diese Feinde gibt, die einen bedrohen.

Durch so eine DVD würde man viel mehr über die Propaganda im Dritten Reich erfahren als durch die drei oder vier Ausschnitte aus Harlans Jud Süß, die unentwegt in Dokumentationen präsentiert werden, weil man sich da richtig gruseln und leicht distanzieren kann. Aber das geht schon darum nicht, weil sich die Murnau-Stiftung selbst finanzieren muss. Wenn sich herausstellen sollte, dass die Feuerzangenbowle - und vieles andere in solchen DVD-Reihen wie "Deutsche Filmklassiker" - gar nicht so nett und so harmlos ist, wie gern behauptet, könnte das schlecht für den Umsatz sein. Dann hätte die Stiftung bald gar kein Geld mehr für das, was ihre Aufgabe wäre: Filme praktisch zugänglich machen, nicht nur theoretisch. Schon jetzt leidet die Murnau-Stiftung darunter, dass deutsche Fernsehanstalten, früher einmal treue Abnehmer, lieber selber Heimatschnulzen, Wald- und Wiesen-Kitsch und Afrikaschmonzetten produzieren, statt Unterhaltungsfilme aus dem Dritten Reich (garantiert harmlos) und deren Aufgüsse aus der Nachkriegszeit (ohne Juden und Führerbilder) einzukaufen.

Barbarische Eßgewohnheiten

An den Mist, der dem deutschen Fernsehpublikum tagaus, tagein geboten wird hat man sich so gewöhnt, dass man fast glauben könnte, es gäbe keine anderen Möglichkeiten. Das ist ein Irrtum. Kennt noch jemand Jagdszenen aus Niederbayern (1969), die Verfilmung des Theaterstücks von Martin Sperr? Der Regisseur, Peter Fleischmann, wurde damit zu einem der Begründer des "neuen deutschen Heimatfilms", zu dem auch Werke wie Volker Schlöndorffs Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach, Reinhard Hauffs Mathias Kneißl und Volker Vogelers Jaider - Der einsame Jäger (alle 1971) gehören. 1979 schrieb Schlöndorff über Fleischmann und die Jagdszenen:

Ich bewundere die Hartnäckigkeit, mit der er immer wieder das darstellt, was niemand von uns wahrhaben will und was doch in den Augen der Ausländer unsere Eigenart ausmacht: die Angst vor der Zukunft, die panische Reaktion auf Außenseiter, die Flucht in die Gemütlichkeit, das Klammern ans jodelnde und singende Volkstum, die barbarischen Eß- und die verklemmten Sexgebräuche.

Aus diesem Satz geht schon hervor, dass es sich Fleischmann, Schlöndorff und die anderen zur Aufgabe gemacht hatten, ein einschlägig vorbelastetes, von den Nazis missbrauchtes Genre umzubauen und neu zu definieren. In den letzten Jahren der Weimarer Republik gab es eine wahre Schwemme von Blut-und-Boden-Dramen, Bauernschwänken und in ländlicher Umgebung angesiedelten Operetten, die in ihrer großen Mehrheit das vorbereiteten, was dann noch kommen sollte. Einer der damaligen Erfolgsfilme hieß Grün ist die Heide (1932), das Genre war im Dritten Reich als "Volksfilm" bekannt. Als Hans Deppe 1951 ein Remake von Grün ist die Heide drehte, musste ein neuer Name her. Der nun so benannte "Heimatfilm" wurde zum kommerziell erfolgreichsten, auch zahlenmäßig den Rest der Filmproduktion dominierenden Genre des selbstgefälligen, die Vergangenheit leugnenden oder nur selektiv wahrnehmenden Kinos der Adenauerzeit.

Den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Heide-Filmen machte der Vater der in den Förster verliebten Heldin aus. In der Version von 1932 ist er ein verarmter ehemaliger Gutsbesitzer, der nicht von seiner Jagdleidenschaft lassen kann und zum Wilderer wird. 1951 hat Lüder Lüdersen sein Rittergut und sein Jagdrevier verloren, weil die Ländereien in Ostpreußen lagen und er von dort vertrieben wurde. Die illegale Jagd in der Heide hilft ihm über den Verlust der Heimat hinweg. Das sind mildernde Umstände. Am Ende wird er nicht etwa zur Rechenschaft gezogen, sondern rehabilitiert, weil er dazu beiträgt, dass ein weiterer Wilderer, der einen Wachtmeister erschossen hat, dingfest gemacht werden kann. Lüdersen wird nicht mehr wildern, und seine Tochter (Sonja Ziemann) darf den Förster heiraten, der eine wehrmachtsähnliche Uniform mit Schaftstiefeln trägt.

Weil solche Filme auf Kontinuität setzten, statt einen Bruch mit der Ästhetik und den Erzählmustern des Dritten Reichs zu vollziehen, spielt Rudolf Prack den Förster. Zusammen mit Sonja Ziemann bildete er eines der Traumpaare im deutschen Kino der 1950er. 1905 geboren, war er dafür schon etwas alt, doch es gab übergeordnete Gesichtspunkte, insbesondere den Wiedererkennungseffekt. Prack kannte man noch aus Rollen wie der als Großknecht, der in Veit Harlans Die goldene Stadt (1942) brav das Land bestellt, statt sich wie seine Verlobte Anna mit tschechischem Gesindel aus der Stadt abzugeben (Kristina Söderbaum als Anna musste ihr Fehlverhalten wieder einmal als "Reichswasserleiche" abbüßen). Einer wie er war der ideale Held im Heimatfilm.

Die goldene Stadt

Damit die Heimatvertriebenen, Tochter und Vater Lüdersen, in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft integriert werden können, muss einer aus der neuen Heimat hinausexpediert werden, denn diese definiert sich nicht zuletzt darüber, wer nicht dazugehört. Das ist der zweite Wilderer. Der Mann ist Tierpfleger beim Zirkus und wird dadurch als Bösewicht identifiziert, dass er von dubioser Herkunft ist (er hat keine Papiere) und das Rehwild mit der Schlinge fängt, also nicht waidgerecht jagt wie Lüdersen. Den Pfleger verkörpert Karl Finkenzeller, den man vorher als Italiener gesehen hatte (Der Geigenmacher von Mittenwald, 1950) und der danach den Zigeuner gab (Der Zigeunerbaron, 1954).Und da der Biologismus der Nazis lange nachwirkte, wird der Polizistenmörder am Schluss, auf Anweisung des Amtsrichters, nicht etwa zum Polizeirevier gebracht, sondern zum Forsthaus. Ob ihn der Förster da erlegt und ausweidet? Ganz waidgerecht, versteht sich. Als erfolgreichster Film des Jahres 1952 erhielt Grün ist die Heide einen Bambi.

Adenauers Heimatfilm unterscheidet sich nicht sehr vom Volksfilm des Dritten Reichs. Es gibt schöne Landschaften, eine streng hierarchische Gesellschaft, sehr gern mit Adeligen und Gutsbesitzern, und weil die Heimat stets in Gefahr ist, müssen die eliminiert werden, die man da nicht haben will. Meistens sind das Ausländer, und wenn die Bösen doch einen deutschen Pass besitzen, haben sie ein paar schlechte Gene geerbt oder wurden außerehelich geboren. Der neue Heimatfilm der späten 1960er und der 1970er drehte die alten Muster um. Statt verlogener Bilder von der ländlichen Idylle sah man Armut, soziale Ungleichheit und eine Gesellschaft, die ihre kollektiven Frustrationen an Außenseitern abreagiert und sich so ein Gemeinschaftsgefühl verschafft.

Ein Comeback erlebten die Förster, Landadeligen, Sägewerksbesitzer, Bauern und Landärzte der 1950er, als Helmut Kohl im Rahmen seiner "geistig-moralischen Wende" das Privatfernsehen einführte. Der Pionier war Leo Kirch, der alles aus seinem Filmarchiv, das man ihm bei ARD und ZDF nicht mehr abnahm, gnadenlos von SAT1 versenden ließ. Der Konkurrent RTL schlug zurück, indem er Roy Black aus der Versenkung holte. Roy Black hatte 1972 die Hauptrolle in einem weiteren Aufguss von Grün ist die Heide gespielt, der sogar den Hardcore-Fans von Schlagern und Heimatschnulzen zu blöd gewesen war. Als Besitzer eines Hotels am Wörthersee - in einer Serie, die das "Niveau" des dritten Heide-Films locker unterbot - wurde er zum Quotenkönig.

Familienaufstellung mit bayerischem Gemüt

Gern würde ich hier schreiben, dass sich die Öffentlich-Rechtlichen erst nach hartem Abwehrkampf dem Quotendiktat beugten und das Seichte mit ebenso Seichtem konterten, als alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Leider spricht die Chronologie dagegen. Ein Schloß am Wörthersee ging 1990 bei RTL auf Sendung (und wurde später auch von der ARD gezeigt), Der Bergdoktor 1992 bei SAT1 (1999 vom ZDF aufgekauft, wiederholt und inzwischen mit neuer Besetzung wiederbelebt). Und bereits 1988 gab das ZDF eine Serie mit dem Titel Forsthaus Falkenau in Auftrag. Die erste Episode wurde am 11. April 1989 ausgestrahlt.

Dagegen ist grundsätzlich nichts zu sagen. Es war schon immer ein Fehler, den Heimatbegriff den Rechten und den Verbänden der aus ihr Vertriebenen zu überlassen und den Heimatfilm den Zynikern, die ihr Publikum für dumm und reaktionär halten und das entsprechende Programm servieren. Man kann ein Massenpublikum auch durchaus da abholen, wo es sich vermeintlich aufhält, aber abholen heißt nicht auf der Stelle treten oder sogar rückwärts gehen. Wie es anders funktionieren kann, hatte das Autorenkino vorgemacht. Doch das Interesse des Publikums am neuen deutschen Heimatfilm war überschaubar geblieben. Und damit, fürchte ich, war auch der Weg vorgezeichnet, den eine Serie wie Forsthaus Falkenau nehmen würde. Denn das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeichnet sich nicht eben durch den langen Atem aus, den man manchmal braucht, um eingeschliffene Sehgewohnheiten und Erwartungshaltungen zu ändern. Dabei wäre das Serienformat für so ein Vorhaben ideal. Dank der Rundfunkgebühren wäre es auch finanziell abgesichert. Man könnte versuchen, nach und nach mit neuen Formen und Inhalten ein größeres Publikum zu gewinnen, statt sich vom ersten Tag an dem Diktat der Einschaltquote zu unterwerfen. Man könnte, wenn man wollte.

Offenbar will man nicht. Mittlerweile läuft Forsthaus Falkenau in der 23. Staffel, es gibt mehr als 300 Episoden. Ich bin nicht Masochist genug, mir das alles anzutun. Aber einige Folgen habe ich im Fernsehen gesehen, ich habe per DVD weitere Stichproben gemacht, und ich will versuchen, am Beispiel von drei Episoden zu verdeutlichen, was mich stört. Es handelt sich um die letzten drei Folgen der dritten Staffel. Wer sie sich anschauen möchte, findet sie auf einer der vom ZDF vertriebenen DVDs: Staffel 3, Disk 4, Folgen Nr. 36. Angst um Rica, 37. Die Traumreise und 38. Bauernaufstand. Ursprünglich waren das die Episoden 38 bis 40. Es scheint, als habe man das eine oder andere zusammengeschnitten. Gekürzt wurde auch (und das ziemlich dilettantisch), weil die in den ersten Jahren noch längeren Folgen bei einer Wiederholung (inklusive Werbepause) nicht mehr ins Sendeschema passten. Die gekürzten Versionen wurden auf die DVDs gepresst. Einige Käufer (siehe die Kommentare bei amazon.de), die sich an nun verschwundene Dinge erinnern können, hat das zurecht erzürnt, was ihnen aber beim ZDF nichts nützt. Nicht nur die Privatsender verachten insgeheim ihr Publikum. Anders kann ich mir so etwas nicht erklären.

Forsthaus Falkenau

Zuerst dachte ich, dass Rica des Försters Hund ist. Das war falsch. Rica ist die Tochter von Martin Rombach (Christian Wolff). Man kann da schon mal durcheinander kommen, weil diverse Frauen im Forsthaus auf -ica oder -ika endende Namen haben. Die in Staffel 3 amtierende Gattin des Försters heißt Angelika (Rombach hat einen höheren Frauenverschleiß als Ben Cartwright in Bonanza) und die Hündin Aika. Oops. Jetzt habe ich die Frau, die Tochter und den Jagdhund des Försters in einen Topf geworfen. Ist das erlaubt? Scheinbar schon. Forsthaus Falkenau macht es auch.

Die Serie, die mir Übelkeit bereitet, finden andere wunderbar. Auch sie sollen zu Wort kommen. Hier ein Eintrag auf der Website soapspoiler.de zum 20-jährigen Jubiläum:

2009 ist ein ganz besonderes Jahr! Vor 20 Jahren ist die Berliner Mauer gefallen und das "Forsthaus Falkenau" startete mit seiner ersten Folge. Auf den ersten Blick hat das nicht viel miteinander zu tun. Aber so wie der Fall der Mauer das Zusammenkommen der Menschen im geteilten Deutschland wieder ermöglichte, so wurde durch das "Forsthaus Falkenau" die gesamte Familie, jung und alt, vor dem Fernseher vereint. […] Das "Forsthaus Falkenau" lebt von den emotionalen Geschichten um den Förster, seine Familie und den Freunden und Nachbarn im imaginären Ort Küblach. Aber diese Serie lebt auch von der einzigartigen Natur des Bayerischen Waldes, mit seinen Pflanzen und Tieren, die es in diesem Umfang in keinem anderen Format gibt. Dadurch bietet das "Forsthaus" ein Programm für die ganze Familie. Die Zuschauer können viel über Tiere, Pflanzen und die Arbeit eines Försters lernen. Oder man kann sich auch "einfach nur" von den emotionalen Geschichten anrühren und unterhalten lassen. Denn im "Forsthaus" ist für jeden etwas dabei!

Hurra! Da wären wir dann also in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ich muss hinzufügen, dass sich manche Fans dort nicht mehr ganz so heimisch fühlen wie früher, seit Christian Wolff durch Hardy Krüger junior abgelöst wurde. Stefan Leitner, der neue Förster, war Ranger in Kanada und kennt richtige Indianer. Seine Eltern sind irgendwann ausgewandert. Nach Förster Rombachs Abschied kehren Förster Leitner und sein Vater nach Küblach zurück. Das ist das Update zum Heimatfilm der 1950er. In Grün ist die Heide werden der Herrenjäger Lüder Lüdersen und seine Tochter aus Ostpreußen vertrieben und in der Heide-Heimat integriert. Wenn man das heute wiederholen wollte, müsste man die Nachkommen von Russland-Deutschen nehmen. Die würden entweder gar kein Deutsch sprechen oder mit so einem Ost-Akzent, der dem Publikum von Forsthaus Falkenau nicht zuzumuten wäre.

Wenn es denn sein muss, würde ich Grün ist die Heide nehmen. Hans Stüwe ist als Lüder Lüdersen so hölzern, wie er nun mal war. Martin Lüttge dagegen ist ein erstklassiger Schauspieler und muss als Vater von Förster Leitner den Hanswurst machen, weil er sonst Hardy Krüger junior an die Wand spielen würde. Wäre er doch nie nach Kanada ausgewandert oder wenigstens dort geblieben. Ganz andere Einwände hat M. Gernoth. Nach dem Erscheinen der ersten Staffel auf DVD ärgerte sich Herr oder Frau Gernoth in der Abteilung für Kundenrezensionen bei amazon.de über einige der Neuerungen:

Zum wiederholten Male schaue ich mir nun die erste Staffel von Forsthaus Falkenau an, nachdem sie endlich auf DVD erhältlich ist. Jeder noch so alberne Schrott wird heutzutage auf DVD gepresst und mit völlig unnötigem Bonusmaterial versehen, doch das, was offensichtlich nicht nur mich jeden Freitagabend vor den Fernseher bewegte, scheint dafür nicht gut genug zu sein, sodass die zweite Staffel auf sich warten lässt. Als Alternative zum ständigen Wiederanschauen der ersten Staffel bietet das ZDF nun freitags "die neuen Folgen" mit einer eindeutig amerikanisch geprägten Schauspielerin als Tochter des neuen Försters. Doch wo ist das Forsthaus? Ist es, ebenso wie die drei der anfänglich fünf Waldarbeiter, der Reform zum Opfer gefallen? Was ist mit dem Schloss Bernried? Viele Szenen aus der originalen Serie mit bayrischem Gemüt fehlen gänzlich in diesem neuen "Abklatsch".

Amerikaner in der deutschen Heimat mit bayrischem Gemüt? Igitt. Trotzdem muss ich das ZDF gegen die Vorwürfe von Herrn oder Frau Gernoth in Schutz nehmen. Dieser durch Gebühren finanzierte Sender hat dafür gesorgt, dass inzwischen 16 Staffeln von Forsthaus Falkenau auf DVD greifbar sind, während fast alles von dem, was einst produziert wurde, als man in Mainz noch wusste, wie das mit dem Bildungsauftrag des Fernsehens gemeint gewesen war, längst entsorgt ist oder im Archiv verrottet. Auch die Kontinuität, die uns nun schon viele Jahrzehnte lang begleitet, vom Volksfilm der NS-Zeit bis heute, blieb durchaus gewahrt. Das ZDF hat zwar den Förster und sein Forsthaus ausgetauscht, aber eigentlich nur die Fassade aufpoliert, statt die Architektur zu ändern. Schauen Sie nochmal hin, Herr oder Frau Gernoth. Dann werden sie bemerken, dass alles beim Alten geblieben ist, auch wenn es jünger wirken soll. Es ist nur manchmal spiegelverkehrt, damit es nicht zu deutlich wird.

Witwer mit Kind sucht eine Frau

Hier nur ein Beispiel: Zur Heimat im Heimatfilm gehört der Witwer. In Grün ist die Heide (Version von 1951) ist das Lüder Lüdersen, vormals Rittergutsbesitzer in Ostpreußen und jetzt Wilderer. Auch Martin Rombach ist in Episode Eins von Forsthaus Falkenau, da noch als Holzeinkäufer in Augsburg lebend, verwitwet. Stefan Leitner verliert seine erste Gattin durch einen Bootsunfall in Kanada, dann geht er mit seiner Tochter Jenny (amerikanisch geprägt, aber mit deutschem Blut) nach Küblach und folgt Rombach als Förster nach. Warum müssen das immer Witwer sein? Ganz einfach: Weil man vom Leben geschlagene Wunden braucht, wenn man zeigen will, dass die Heimat diese heilt. Das gelingt nicht in Kanada und nicht einmal in Augsburg. Ein Dorf muss es sein. Ein Forsthaus ist noch besser, weil man da näher am deutschen Wald ist.

Der Witwer hat mindestens eine Tochter (Rombach hat anfangs zwei, und einen Sohn). Was fehlt da noch? Die Mutti. Für die Frauen an des Försters Seite ist das schlecht. Sie dürfen zwar einen Beruf ausüben, werden aber primär über die Mutterrolle wahrgenommen. Der Förster könnte auch kinderlos und bisher unverheiratet sein, oder eine Försterin, aber nein: Ein Witwer mit Kindern muss es sein. So wird ein konservatives Gesellschaftsmodell propagiert. Innerhalb dieses ideologisch geprägten Erzählmusters kann man das Ideal von früher (Vater, Mutter und zwei Kinder) durch eine Patchworkfamilie ersetzen, oder man kann den Förster mit einem kanadischen Hut durch den deutschen Wald fahren lassen wie Stefan Leitner, und das ist dann scheinbar jung und modern. Es tut aber nur so.

Für die Heilung der Wunden in der deutschen Heimat braucht man geschultes Personal. Das hat Folgen für des Försters Frau. Stefan Leitner lernt in Küblach Sonja kennen, eine Ärztin. Da man dasselbe Muster nicht andauernd wiederholen kann, oder wenigstens nicht zu offensichtlich, verlässt Sonja ihren Stefan (in Staffel 20, glaube ich), bevor sie - nein, nicht aus dem Boot fällt und ertrinkt wie die vorherige Frau Leitner - vom Auto überfahren wird und stirbt. Schon wieder Witwer, der arme Stefan. Sonjas Nachfolgerin, Marie, ist Tierärztin. Sie sollte sich vor Pferden hüten. Angelika, eine der Gattinnen von Förster Rombach, kommt bei einem Reitunfall ums Leben und ist auch Tierärztin. Angelika wird durch Susanna abgelöst, von Beruf Apothekerin. Susanna sattelt auf Gesundheitspädagogin um. Bei so vielen heilkundigen Frauen musste auch mal eine der Gefährtinnen des Försters (er ist der Heiler des Waldes und der wilden Tiere) überleben. Susanna geht darum nach Berlin, um Forscherin zu werden. Der offizielle Fanclub der Serie schreibt dazu auf seiner Website:

"Die Kräuterhexe" am Rande des Waldes fühlte sich in der Rolle als Ärztin und Mutter nicht genügend gefordert. Soll das schon alles gewesen sein? Wo sind die Vorstellungen geblieben, von denen sie als junge Studentin nächtelang geträumt hatte?

Eben. Auf nach Berlin und Serumsforscherin werden wie Luis Trenker in Germanin (1942/43) und Dieter Borsche in Dr. Holl (1950/51). Das ist die wahre Emanzipation. Dazu noch eine Stelle aus der Staffelbeschreibung des Fanclubs, ganz im Geiste dieser Serie verfasst. Des Försters Hund heißt inzwischen nicht mehr Aika (fast hätte ich wieder Rica geschrieben), sondern Senta:

Von einem anderen weiblichen Wesen musste sich Martin ebenso verabschieden. Senta wird von einem Kunsträuber im Wald angeschossen und erliegt kurz darauf ihren Verletzungen. Florian verstand die Entscheidung seiner Mutter nicht. Kurzerhand kehrte er Passau und dem Internat den Rücken. Florian glaubte, dass sein Vater jetzt jegliche Unterstützung brauchte.

Nur für alle Fälle: die Mutter von Florian ist Susanna, nicht Senta, oder eigentlich Angelika, die ihn geboren hat, ehe sie vom Pferd fiel. Martin tröstet sich mit Sophie von Haunstein. Sie ist wieder Tierärztin. Das trifft sich gut, weil Martin der Abschied von der Serie versüßt wird, indem er ein Naturreservat in Südafrika erbt. Da kann sie ihm zur Hand gehen, wenn die Tiere krank sind. Wäre sie eine Menschenärztin, könnte sie die Schwarzen heilen. Die Grenzen sind da fließend. Sophie von Haunstein ist die Vorreiterin diverser TV-Großschauspielerinnen, die nach ihr gen Afrika reisten, um den Negern ein Hospital zu bauen, die Tiere vor Geschäftemachern zu retten oder die Landschaft vor der Zerstörung durch selbige zu bewahren. Bei dieser Gelegenheit ein ausdrückliches Lob an Senta Berger, die nicht nur bestimmt kein Hund ist, sondern bisher auch der Versuchung widerstanden hat, bei diesen Wiederbelebungsversuchen an der alten Kolonialromantik mitzumachen.

Wie das ist, wenn ein deutscher Förster den Schwarzen und den Tieren Afrikas begegnet, wer im Forsthaus alles Milch gibt und was da auf den Grill kommt, erfährt der werte Leser Teil 2: Irgendwie anders und selig eingeschlafen: Im Land von Russenspieß und Jagertee

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